Liebe und Lyrik

[55] Der Liebe Lust in Liedern auszuklagen,

scheint heutzutag dem Dichter fast verwehrt.

Was könnt er Neues auch den Leuten sagen:

so mancher hat uns schon sein Glück beschert.

Glaubt einer gar der Liebe Leid zu tragen,

lässt er uns sicherlich nicht unversehrt:

Herz reimt noch stets auf Schmerz, auf Liebe Triebe –

ich reimte mit Genuss auf beide – Hiebe!


So weiss denn selbst der traurigste Philister:

die Liebe sei so eine Himmelsmacht;

in illustrierten Wochenblättern liest er,

dass man sich oft sogar drum umgebracht.

Ein Kenner aller Leidenschaften ist er,

wer ihm nichts Neues bringt, wird ausgelacht:

kurz, was die Lieb angeht – er ist au fait:

es lässt sich nichts mehr machen drin. O weh!
[56]

Und ist man nun aus purem Pech ein Dichter,

dems schlecht behagt, den andern nachzutreten,

dems nicht genügt, nur manchmal neue Lichter

zu pflanzen vor ein Bild, zu dem sie beten –

so wird man fluchen auf das Reimgelichter,

das auch den schönsten Brei schon breitgetreten,

und wird, obwohl die Sache etwas schwierig,

die Liebe gänzlich streichen aus der Lyrik.


Wie hass ich jene, die naiv wie Thiere

ihr Lieben schmatzend beichten – ekelhaft!

Unreinem Ohre bei unechtem Biere!

Doch ist nicht schlimmer noch die Leidenschaft,

auf unverhülltem, feilem Druckpapiere

schamlos zu künden, was uns Freuden schafft?

Drum Heil dem Dichter, der mit sich gerungen

und als ein Held zum schweigen sich bezwungen!

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 55-57.
Lizenz:
Kategorien: