Unsere Zeit

[315] Es ist die Zeit des stummen Weltgerichts;

In Wasserfluten nicht und nicht in Flammen:

Die Form der Welt bricht in sich selbst zusammen,

Und dämmernd tritt die neue aus dem Nichts.


Der Dichter zeigt im Spiegel des Gedichts,

Wie Tag und Nacht im Morgenroth verschwammen,

Doch wird er nicht beschwören, nicht verdammen,

Der keusche Priester am Altar des Lichts.


Er soll mit reiner Hand des Lebens pflegen,

Und, wie er für des Frühlings erste Blüte

Ein Auge hat, und sie mit Liebe bricht:


So darf er auch des Herbstes letzten Segen

Nicht überseh'n, und die zu spät erglühte

Nicht kalt verschmähen, wenn den Kranz er flicht.[315]


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 315-316.
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