Letzter Gruß

[214] Jungfraunbilder, früh' erblichen,

In dem Haar den Myrthenkranz,

Dämmernd-schwebende Gestalten,

Steigen auf bei Mondenglanz.


Wollt ihr mit den weißen Händen,

Die den Knaben nie gedrückt,

Halb verwelkte Rosen brechen,

Weil kein Fröhlicher sie pflückt?[214]


Wollt ihr mit den kalten Lippen,

Die kein Jüngling warm geküßt,

Aus den Blütenkelchen trinken,

Die der Schmetterling vergißt?


Oder wollt ihr still erkunden,

Wenn ihr, wie im Traum, euch zeigt,

Ob euch aus dem treusten Herzen

Noch ein letzter Seufzer steigt?


Eine tritt zu mir an's Lager,

Ach, ich träumte nicht von ihr,

Aber, abendroth-umgossen,

Steht sie jetzt, wie einst, vor mir.


Immer lächelnd, immer freundlich,

Und erst in dem letzten Schmerz

Preßte sie, zusammen sinkend,

Ihre Hand auf's arme Herz!


Ach, ihr Herz war wie ein Siegel:

Erst als es gebrochen war,

Wurde mir sein schaurig-süßes,

Himmlisches Geheimniß klar!


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 214-215.
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