Thorwaldsens Ganymed und der Adler

[281] Knabe, süßer, wunderbarer,

Unter'm Kuß des Zeus gereift,

Blüte, die in leuchtend-klarer

Schönheit nie der Wind gestreift:


Sorgsam tränkst du und aesthetisch,

Wenn auch halb gelangeweilt,

Hier den Aar, der gravitätisch

Schmaus't und wenig sich beeilt.


Mancher würde ungeduldig,

Und er hätte Grund genug,

Doch du denkst: ich bin's ihm schuldig,

Weil er zum Olymp mich trug;


Weil er schnell, mich fester fassend,

In die Wolken mich entrückt,

Als ich, schwindelnd und erblassend,

Unter mich hinabgeblickt;


Ja, weil er sogar die Klauen

Unter'm Fittig-Paar verhüllt,[281]

Die mich fast mit größerm Grauen,

Als der Abgrund selbst, erfüllt.


Solltest doch in's Ohr ihm raunen:

Spute dich zu deinem Heil;

Denn schon wölkte Zeus die Braunen,

Und – da fällt der Donnerkeil!


Auf, mein Vogel, dienstbeflissen!

Wie du auch das Auge rollst!

Du, o Knabe, wirst schon wissen

Wo du dich erholen sollst!


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 281-282.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe letzter Hand)
Gedichte
Werke, 5 Bde., Bd.3, Gedichte, Erzählungen, Schriften
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Gedichte
Gedichte