Glück und Unglück

[123] Auf eine so sonderbare Weise ist Glück im Unglück, und Unglück im Glück noch selten beisammen gewesen, wie in dem Schicksal zweier Matrosen in dem letzten Seekrieg zwischen den Russen und Türken. Denn in einer Seeschlacht, als es sehr hitzig zuging, die Kugeln sausten, die Bretter und Mastbäume krachten, die Feuerbrände flogen, da und dort brach auf einem Schiff die Flamme aus und konnte nicht gelöscht werden. Es muß schrecklich sein, wenn man keine andere Wahl hat, als dem Tod ins Wasser entgegenzuspringen, oder im Feuer zu verbrennen. Aber unsern zwei russischen Matrosen wurde diese Wahl erspart. Ihr Schiff fing Feuer in der Pulverkammer, und flog mit entsetzlichem Krachen in die Luft. Beide Matrosen wurden mit in die Höhe geschleudert, wirbelten unter sich und über sich in der Luft herum, fielen nahe hinter der feindlichen Flotte wieder ins Meer hinab,[123] und waren noch lebendig und unbeschädigt, und das war ein Glück. Allein die Türken fuhren jetzt wie die Drachen auf sie heraus, zogen sie wie nasse Mäuse aus dem Wasser, und brachten sie in ein Schiff; und weil es Feinde waren, so war der Willkomm kurz. Man fragte sie nicht lange, ob sie vor ihrer Abreise von der russischen Flotte schon zu Mittag gegessen hätten oder nicht, sondern man legte sie in den untersten feuchten und dunkeln Teil des Schiffes an Ketten, und das war kein Glück. Unterdessen sausten die Kugeln fort, die Bretter und Mastbäume krachten, die Feuerbrände flogen, und paf! sprang auch das türkische Schiff, auf welchem die Gefangenen waren, in tausend Trümmern in die Luft. Die Matrosen flogen mit, kamen wieder neben der russischen Flotte ins Wasser herab, wurden eilig von ihren Freunden hereingezogen, und waren noch lebendig, und das war ein großes Glück. Allein für diese wiedererhaltene Freiheit und für das zum zweitenmal gerettete Leben, mußten diese guten Leute doch ein teures Opfer gehen, nämlich die Beine. Diese Glieder wurden ihnen beim Losschnellen von den Ketten, als das türkische Schiff auffuhr, teils gebrochen, teils jämmerlich zerrissen, und mußten ihnen, sobald die Schlacht vorbei war, unter dem Knie weg abgenommen werden, und das war wieder ein großes Unglück. Doch hielten beide die Operation aus, und lebten in diesem Zustande noch einige Jahre. Endlich starb doch einer nach dem andern, und das war nach allem, was vorhergegangen war, nicht das Schlimmste.

Diese Geschichte hat ein glaubwürdiger Mann bekanntgemacht, welcher beide Matrosen ohne Beine selber gesehen, und die Erzählung davon aus ihrem eigenen Munde gehört hat.

[1808]

Quelle:
Johann Peter Hebel: Poetische Werke. München 1961, S. 123-124.
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