Götterdämmerung

[148] Der Mai ist da mit seinen goldnen Lichtern

Und seidnen Lüften und gewürzten Düften,

Und freundlich lockt er mit den weißen Blüten,

Und grüßt aus tausend blauen Veilchenaugen,

Und breitet aus den blumreich grünen Teppich,

Durchwebt mit Sonnenschein und Morgentau,

Und ruft herbei die lieben Menschenkinder.

Das blöde Volk gehorcht dem ersten Ruf.

Die Männer ziehn die Nankinghosen an

Und Sonntagsröck' mit goldnen Spiegelknöpfen;

Die Frauen kleiden sich in Unschuldweiß;

Jünglinge kräuseln sich den Frühlingsschnurrbart;

Jungfrauen lassen ihre Busen wallen;

Die Stadtpoeten stecken in die Tasche

Papier und Bleistift und Lorgnett'; – und jubelnd

Zieht nach dem Tor die krausbewegte Schar,

Und lagert draußen sich auf grünem Rasen,

Bewundert, wie die Bäume fleißig wachsen,

Spielt mit den bunten, zarten Blümelein,

Horcht auf den Sang der lust'gen Vögelein,

Und jauchzt hinauf zum blauen Himmelszelt.[148]

Zu mir kam auch der Mai. Er klopfte dreimal

An meine Tür und rief: »Ich bin der Mai,

Du bleicher Träumer, komm, ich will dich küssen!«

Ich hielt verriegelt meine Tür, und rief:

Vergebens lockst du mich, du schlimmer Gast.

Ich habe dich durchschaut, ich hab durchschaut

Den Bau der Welt, und hab zuviel geschaut,

Und viel zu tief, und hin ist alle Freude,

Und ew'ge Qualen zogen in mein Herz.

Ich schaue durch die steinern harten Rinden

Der Menschenhäuser und der Menschenherzen,

Und schau in beiden Lug und Trug und Elend.

Auf den Gesichtern les ich die Gedanken,

Viel schlimme. In der Jungfrau Schamerröten

Seh ich geheime Lust begehrlich zittern;

Auf dem begeistert stolzen Jünglingshaupt

Seh ich die lachend bunte Schellenkappe;

Und Fratzenbilder nur und sieche Schatten

Seh ich auf dieser Erde, und ich weiß nicht,

Ist sie ein Tollhaus oder Krankenhaus.

Ich sehe durch den Grund der alten Erde,

Als sei sie von Kristall, und seh das Grausen,

Das mit dem freud'gen Grüne zu bedecken

Der Mai vergeblich strebt. Ich seh die Toten;

Sie liegen unten in den schmalen Särgen,

Die Händ' gefaltet und die Augen offen,

Weiß das Gewand und weiß das Angesicht,

Und durch die Lippen kriechen gelbe Würmer.

Ich seh, der Sohn setzt sich mit seiner Buhle

Zur Kurzweil nieder auf des Vaters Grab; –

Spottlieder singen rings die Nachtigallen; –

Die sanften Wiesenblümchen lachen hämisch; –

Der tote Vater regt sich in dem Grab; –

Und schmerzhaft zuckt die alte Mutter Erde.[149]

Du arme Erde, deine Schmerzen kenn ich!

Ich seh die Glut in deinem Busen wühlen,

Und deine tausend Adern seh ich bluten,

Und seh, wie deine Wunde klaffend aufreißt,

Und wild hervorströmt Flamm' und Rauch und Blut.

Ich sehe deine trotz'gen Riesensöhne,

Uralte Brut, aus dunkeln Schlünden steigend,

Und rote Fackeln in den Händen schwingend; –

Sie legen ihre Eisenleiter an

Und stürmen wild hinauf zur Himmelsfeste; –

Und schwarze Zwerge klettern nach; – und knisternd

Zerstieben droben alle goldnen Sterne.

Mit frecher Hand reißt man den goldnen Vorhang

Vom Zelte Gottes, heulend stürzen nieder,

Aufs Angesicht, die frommen Engelscharen.

Auf seinem Throne sitzt der bleiche Gott,

Reißt sich vom Haupt die Kron', zerrauft sein Haar –

Und näher drängt heran die wilde Rotte.

Die Riesen werfen ihre roten Fackeln

Ins weite Himmelreich, die Zwerge schlagen

Mit Flammengeißeln auf der Englein Rücken; –

Die winden sich und krümmen sich vor Qualen,

Und werden bei den Haaren fortgeschleudert; –

Und meinen eignen Engel seh ich dort,

Mit seinen blonden Locken, süßen Zügen,

Und mit der ew'gen Liebe um den Mund,

Und mit der Seligkeit im blauen Auge –

Und ein entsetzlich häßlich schwarzer Kobold

Reißt ihn vom Boden, meinen bleichen Engel,

Beäugelt grinsend seine edlen Glieder,

Umschlingt ihn fest mit zärtlicher Umschlingung –

Und gellend dröhnt ein Schrei durchs ganze Weltall,

Die Säulen brechen, Erd' und Himmel stürzen

Zusammen, und es herrscht die alte Nacht.
[150]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 148-151.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Buch der Lieder
Buch der Lieder
Buch der Lieder: Hamburg 1827
Buch der Lieder: Vollständige Ausgabe nach dem Erstdruck von 1827
Buch der Lieder (Fischer Klassik)
Buch der Lieder.

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon