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[211] Ich sah sie lachen, sah sie lächeln,

Ich sah sie ganz zugrunde gehn;

Ich hört ihr Weinen und ihr Röcheln,

Und habe ruhig zugesehn.


Leidtragend folgt ich ihren Särgen,

Und bis zum Kirchhof ging ich mit;

Hernach, ich will es nicht verbergen,

Speist ich zu Mittag mit App'tit.


Doch jetzt auf einmal mit Betrübnis

Denk ich der längstverstorbnen Schar;[211]

Wie lodernd plötzliche Verliebnis

Stürmt's auf im Herzen wunderbar!


Besonders sind es Julchens Tränen,

Die im Gedächtnis rinnen mir;

Die Wehmut wird zu wildem Sehnen,

Und Tag und Nacht ruf ich nach ihr! – –


Oft kommt zu mir die tote Blume

Im Fiebertraum; alsdann zumut'

Ist mir, als böte sie postume

Gewährung meiner Liebesglut.


O zärtliches Phantom, umschließe

Mich fest und fester, deinen Mund,

Drück ihn auf meinen Mund – versüße

Die Bitternis der letzten Stund'!


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 211-212.
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