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[212] Du warst ein blondes Jungfräulein, so artig,

So niedlich und so kühl – vergebens harrt ich

Der Stunde, wo dein Herze sich erschlösse

Und sich daraus Begeisterung ergösse –


Begeisterung für jene hohen Dinge,

Die zwar Verstand und Prosa achten g'ringe,

Für die jedoch die Edlen, Schönen, Guten

Auf dieser Erde schwärmen, leiden, bluten.


Am Strand des Rheins, wo Rebenhügel ragen,

Ergingen wir uns einst in Sommertagen.

Die Sonne lachte; aus den liebevollen

Kelchen der Blumen Wohlgerüche quollen.
[212]

Die Purpurnelken und die Rosen sandten

Uns rote Küsse, die wie Flammen brannten.

Im kümmerlichsten Gänseblümchen schien

Ein ideales Leben aufzublühn.


Du aber gingest ruhig neben mir,

Im weißen Atlaskleid, voll Zucht und Zier,

Als wie ein Mädchenbild gemalt von Netscher;

Ein Herzchen im Korsett wie 'n kleiner Gletscher.

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 212-213.
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