Die Wanderratten

[392] Es gibt zwei Sorten Ratten:

Die hungrigen und satten.

Die satten bleiben vergnügt zu Haus,

Die hungrigen aber wandern aus.


Sie wandern viel tausend Meilen,

Ganz ohne Rasten und Weilen,

Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,

Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.


Sie klimmen wohl über die Höhen,

Sie schwimmen wohl durch die Seen;

Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,

Die lebenden lassen die toten zurück.


Es haben diese Käuze

Gar fürchterliche Schnäuze;

Sie tragen die Köpfe geschoren egal,

Ganz radikal, ganz rattenkahl.


Die radikale Rotte

Weiß nichts von einem Gotte.

Sie lassen nicht taufen ihre Brut,

Die Weiber sind Gemeindegut.


Der sinnliche Rattenhaufen,

Er will nur fressen und saufen,

Er denkt nicht, während er säuft und frißt,

Daß unsre Seele unsterblich ist.


So eine wilde Ratze,

Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;

Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld

Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.
[392]

Die Wanderratten, o wehe!

Sie sind schon in der Nähe.

Sie rücken heran, ich höre schon

Ihr Pfeifen – die Zahl ist Legion.


O wehe! wir sind verloren,

Sie sind schon vor den Toren!

Der Bürgermeister und Senat,

Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.


Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,

Die Glocken läuten die Pfaffen.

Gefährdet ist das Palladium

Des sittlichen Staats, das Eigentum.


Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete,

Nicht hochwohlweise Senatsdekrete,

Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder,

Sie helfen euch heute, ihr lieben Kinder!


Heut helfen euch nicht die Wortgespinste

Der abgelebten Redekünste.

Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,

Sie springen über die feinsten Sophismen.


Im hungrigen Magen Eingang finden

Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,

Nur Argumente von Rinderbraten,

Begleitet mit Göttinger Wurstzitaten.


Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,

Behaget den radikalen Rotten

Viel besser als ein Mirabeau

Und alle Redner seit Cicero.
[393]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 346,394.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nachlese
Hebraische Melodien: Poetische Nachlese: Tragodien
Heinrich Heine: Buch der Lieder - Nachlese zu den Gedichten 1812-1827
Heinrich Heines Buch Der Lieder, Nebst Einer Nachlese Nach Den Ersten Drucken Oder Handschriften (German Edition)

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon