1.

[215] Unterm weißen Baume sitzend,

Hörst du fern die Winde schrillen,

Siehst, wie oben stumme Wolken

Sich in Nebeldecken hüllen;


Siehst, wie unten ausgestorben

Wald und Flur, wie kahl geschoren; –

Um dich Winter, in dir Winter,

Und dein Herz ist eingefroren.


Plötzlich fallen auf dich nieder

Weiße Flocken, und verdrossen[215]

Meinst du schon, mit Schneegestöber

Hab der Baum dich übergossen.


Doch es ist kein Schneegestöber,

Merkst es bald mit freud'gem Schrecken;

Duft'ge Frühlingsblüten sind es,

Die dich necken und bedecken.


Welch ein schauersüßer Zauber!

Winter wandelt sich in Maie,

Schnee verwandelt sich in Blüten,

Und dein Herz, es liebt aufs neue.

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 215-216.
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