1.

[288] Vor dem Dome stehn zwei Männer,

Tragen beide rote Röcke,

Und der eine ist der König,

Und der Henker ist der andre.
[288]

Und zum Henker spricht der König:

»Am Gesang der Pfaffen merk ich,

Daß vollendet schon die Trauung –

Halt bereit dein gutes Richtbeil.«


Glockenklang und Orgelrauschen,

Und das Volk strömt aus der Kirche;

Bunter Festzug, in der Mitte

Die geschmückten Neuvermählten.


Leichenblaß und bang und traurig

Schaut die schöne Königstochter;

Keck und heiter schaut Herr Olaf;

Und sein roter Mund, der lächelt.


Und mit lächelnd rotem Munde

Spricht er zu dem finstern König:

»Guten Morgen, Schwiegervater,

Heut ist dir mein Haupt verfallen.


Sterben soll ich heut – Oh, laß mich

Nur bis Mitternacht noch leben,

Daß ich meine Hochzeit feire

Mit Bankett und Fackeltänzen.


Laß mich leben, laß mich leben,

Bis geleert der letzte Becher,

Bis der letzte Tanz getanzt ist –

Laß bis Mitternacht mich leben!«


Und zum Henker spricht der König:

»Unserm Eidam sei gefristet

Bis um Mitternacht sein Leben –

Halt bereit dein gutes Richtbeil.«


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 288-289.
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