1.

[30] Das Kloster ist hoch auf Felsen gebaut,

Der Rhein vorüberrauschet;

Wohl durch das Gitterfenster schaut

Die junge Nonne und lauschet.


Da fährt ein Schifflein, märchenhaft

Vom Abendrot beglänzet;

Es ist bewimpelt von buntem Taft,

Von Lorbeern und Blumen bekränzet.
[30]

Ein schöner blondgelockter Fant

Steht in des Schiffes Mitte;

Sein goldgesticktes Purpurgewand

Ist von antikem Schnitte.


Zu seinen Füßen liegen da

Neun marmorschöne Weiber;

Die hochgeschürzte Tunika

Umschließt die schlanken Leiber.


Der Goldgelockte lieblich singt

Und spielt dazu die Leier;

Ins Herz der armen Nonne dringt

Das Lied und brennt wie Feuer.


Sie schlägt ein Kreuz, und noch einmal

Schlägt sie ein Kreuz, die Nonne;

Nicht scheucht das Kreuz die süße Qual,

Nicht bannt es die bittre Wonne.


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 30-31.
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