Caput XV

[470] Ein feiner Regen prickelt herab,

Eiskalt, wie Nähnadelspitzen.

Die Pferde bewegen traurig den Schwanz,

Sie waten im Kot und schwitzen.


Der Postillion stößt in sein Horn,

Ich kenne das alte Getute –

»Es reiten drei Reiter zum Tor hinaus!«

Es wird mir so dämmrig zumute.
[470]

Mich schläferte und ich entschlief,

Und siehe! mir träumte am Ende,

Daß ich mich in dem Wunderberg

Beim Kaiser Rotbart befände.


Er saß nicht mehr auf steinernem Stuhl,

Am steinernen Tisch, wie ein Steinbild;

Auch sah er nicht so ehrwürdig aus,

Wie man sich gewöhnlich einbild't.


Er watschelte durch die Säle herum

Mit mir im trauten Geschwätze.

Er zeigte wie ein Antiquar

Mir seine Kuriosa und Schätze.


Im Saale der Waffen erklärte er mir,

Wie man sich der Kolben bediene,

Von einigen Schwertern rieb er den Rost

Mit seinem Hermeline.


Er nahm ein Pfauenwedel zur Hand,

Und reinigte vom Staube

Gar manchen Harnisch, gar manchen Helm,

Auch manche Pickelhaube.


Die Fahne stäubte er gleichfalls ab,

Und er sprach: »Mein größter Stolz ist,

Daß noch keine Motte die Seide zerfraß,

Und auch kein Wurm im Holz ist.«


Und als wir kamen in den Saal,

Wo schlafend am Boden liegen

Viel tausend Krieger, kampfbereit,

Der Alte sprach mit Vergnügen:
[471]

»Hier müssen wir leiser reden und gehn,

Damit wir nicht wecken die Leute;

Wieder verflossen sind hundert Jahr',

Und Löhnungstag ist heute.«


Und siehe! der Kaiser nahte sich sacht

Den schlafenden Soldaten,

Und steckte heimlich in die Tasch'

Jedwedem einen Dukaten.


Er sprach mit schmunzelndem Gesicht,

Als ich ihn ansah verwundert:

»Ich zahle einen Dukaten per Mann,

Als Sold, nach jedem Jahrhundert.«


Im Saale, wo die Pferde stehn

In langen, schweigenden Reihen,

Da rieb der Kaiser sich die Händ',

Schien sonderbar sich zu freuen.


Er zählte die Gäule, Stück vor Stück,

Und klätschelte ihnen die Rippen;

Er zählte und zählte, mit ängstlicher Hast

Bewegten sich seine Lippen.


»Das ist noch nicht die rechte Zahl« –

Sprach er zuletzt verdrossen –,

»Soldaten und Waffen hab ich genung,

Doch fehlt es noch an Rossen.


Roßkämme hab ich ausgeschickt

In alle Welt, die kaufen

Für mich die besten Pferde ein,

Hab schon einen guten Haufen.
[472]

Ich warte, bis die Zahl komplett,

Dann schlag ich los und befreie

Mein Vaterland, mein deutsches Volk,

Das meiner harret mit Treue.«


So sprach der Kaiser, ich aber rief:

»Schlag los, du alter Geselle,

Schlag los, und hast du nicht Pferde genug,

Nimm Esel an ihrer Stelle.«


Der Rotbart erwiderte lächelnd: »Es hat

Mit dem Schlagen gar keine Eile,

Man baute nicht Rom in einem Tag,

Gut Ding will haben Weile.


Wer heute nicht kommt, kommt morgen gewiß,

Nur langsam wächst die Eiche,

Und chi va piano, va sano, so heißt

Das Sprüchwort im römischen Reiche.«

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 470-473.
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