Lied auf der Heide

[13] Die Wolken sausen über mir,

durch kahle Heide schreit' ich zu,

Wie Sturmgewölk die Seele saust,

die Seele kennt nicht Rast noch Ruh;

Ein mächtiger Schauer hob sich auf

aus ihren Tiefen über Nacht,

Und schwere, bittre Herzensnot

ist in ihr plötzlich aufgewacht.

Nur weiter, weiter durch das Feld,

dem Sturme gib, was dich beengt,

Und zu den Wolken wirf empor,

was furchtbar quälend dich bedrängt,

Und regt der Spötter Hauf sich rings

und lacht dich aus in blindem Wahn,

Verkünde, was dein Ohr gehört,

ruf aus, was deine Augen sahn!

Es kommt die Zeit, der Spott verstummt,

und sie verhüllen scheu ihr Haupt,

Und alle sinken gläubig hin,

die heute nimmermehr geglaubt.[14]

Verflucht die Nacht, verflucht die Nacht,

die eure Herzen ganz bedeckt,

Daß ihr den Strahl nicht sehen wollt,

der euch zu schönerm Leben weckt!

In finsterm Wandel schreitet ihr,

ein blödes Volk, tagaus, tagein,

Und eure Seele fror zu Eis,

und euer Glück ist Angst und Pein.

Wie morsche Blätter, die der Herbst

den Winden gibt zu losem Spiel,

Treibt ihr am Boden wirr und welk,

und euer Jagen kennt kein Ziel.

Das aber ist der Hauch der Pest,

die grausig schwirrt durch eure Nacht,

Daß eurer Herzen Glanz verblich

in eitel Gold und Goldespracht;

Das aber ist das Leichentuch,

begrabend Lieb und Lust der Zeit,

Daß unbarmherzig wie Basalt

ihr starrt in Herzenshärtigkeit.

Wohl wühlt ihr in der Erde Herz

mit Maulwurfsemsigkeit euch ein,

Wohl wißt ihr der Gestirne Gang

und spaltet selbst den Sonnenschein;[15]

Wohl reiht das Stäubchen ihr zum Staub

und baut das All aus Stoff und Kraft,

Und seid fürwahr ein klug Geschlecht

an Hirnverstand und Wissenschaft.

Und doch unselig seid ihr ganz,

und euer Wissen all ist hohl,

Ihr habt ermordet euer Herz,

der Gottheit leuchtendes Symbol.

Verbrechen paart ihr dem Genuß

und reizt des Fleisches rohen Sinn:

»Nach uns die Sündflut – Halali!« –

und taumelt siech und lüstern hin.

Ihr wähnt wohl gar, die eigne Schuld,

das sei des Schicksals arge List,

Und keiner schulde seine Tat,

die blindes Fatum vorbemißt?

Ihr Toren, die die Frechheit narrt,

das ist die Lüge, die ihr sucht.

Ihr überlacht der Seele Schrei,

betäubt den Gott in euch verrucht.

Ihr horch nicht dem Gewissensschlag,

den ihr gebunden feig und scheu,

Und sinkt ihr abgrundtief in Schuld,

euch rettet keine wahre Reu ...«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[16]

Die Wolken sausen über mir,

die Winde pfeifen schauervoll,

O Gott, mein Gott, wo ist das Licht,

das unser Volk erleuchten soll?

Was frommt dir Sieg und Siegsgeschrei,

wenn du dir selber bist ein Knecht?

Sei deiner Herr, sei deiner Herr,

und deine Siegerschaft ist echt.

Sei Herr und Diener, diene du

in Mitleid trotz Verrat und Spott,

Und deine Herrschaft ist ein Fels,

ein Tempel dem lebendigem Gott. –

Was soll dir Macht und Schellenruhm?

Das alles ist nur Spreu und Tand,

Der Herzen Macht, der Herzen Ruhm

ist deiner wert, mein Vaterland.

Die Wolken sausen über mir,

und Licht und Heimat schreit' ich zu,

Nur wenn die Liebe mächtig wird,

dann findet meine Seele Ruh.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 13-17.
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