Die Tanne

[154] Drüben thront die große Tanne,

Gipfeleinsam, kerzengrade,

Mit der Äste breitem Banne

Fürstlich über Busch und Baum.


Sucht das Auge seine Pfade,

Steigt es aus des Gartens Fülle,

Daß im Abendrot es bade,

An dem stolzen Stamm empor.


»Hebe mit mir, von der Hülle

Duftender Kastanienblüten« –

Spricht sie – »in der Ätherstille

Meerestiefen deinen Blick!


Schlechte Dünste sah ich brüten,

Die den Atem mir umkrallten,

Wetterstürme mich umwüten,

Toben schütternd Ungemach –


Wilde Blitze wollten spalten

Diesen Wuchs mit brandiger Lohe –

Meine Krone zu behalten

Ward vergönnt vom Weltengott.
[155]

Und so heb' ich meine hohe

Stirne stetig und gelassen,

Unbekümmert, was auch drohe,

In das himmlische Gefild ...


Willst du mit mir Wurzel fassen

In des Lebens ewigem Grunde,

Sei mir gleich! – Doch zu mir passen

Nur die stark und einsam sind.«

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 154-156.
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