Er und Sie

[79] Ein freundschaftliches Haus- und Ehegespräch.

Schottisch.


Er.


Das Winterwetter wird schon kalt,

Und Schnee da ob'n auf 'n Bergen liegt,

Und Nordwind saust, daß es widerhallt,

Und Jeder gern ins Warme kriecht.

Bell, mein Weib, ist ein gutes Weib;

Sie merkt, es soll an ein'n Rock hergehn.

Da kommt sie und spricht von ihrer Kuh,

Und »Mann, zieh 'n alten Rock noch an!«


O Bell, was treibst und quälst mich so?

Du weißt, mein Rock ist herzlich dünn,

Er ist so kahl und abgetrag'n,

Kein Floh kann mehr sich wärmen drin,

Und borgen mag ich nicht länger und leihn.

Ich will 'nmal ein'n guten Rock anhan,

Will morgen zur Stadt und was spendirn

Und schaff'n ein'n neuen Rock mir an.


[79] Sie.


Ab'r unsre Kuh ist 'ne gute Kuh,

Ein'n wackern Kübel Milch sie giebt,

Und hat uns bisher so wohl versorgt

Mit Butt'r und Käs', wie das Herz sie liebt.

Das arme Thier, stieß ihm was zu –

Hör' meinen Rath an, lieber Mann:

Für uns ist's nicht, so vornehm gehn;

Behalt Dein'n alten Graurock an!


Er.


Mein Rock war einmal ein guter Rock,

Konnt' ihn üb'rall anziehn ohn' Gefahr,

Ab'r nun ist er keinen Groschen werth;

Ich hatt' ihn ja auch vierundvierzig Jahr.

Einmal hatt' er Farb' und war dicht und warm,

Anjetzt die Sonn' ihn durchscheinen kann,

Er ist nicht für Regen und nicht für'n Wind:

Ich muß ein'n neuen Rock anhan.


Sie.


Mann, es ist vierundvierzig Jahr,

Seit wir uns 's erste Mal gesehn,

Und haben in die Welt gebracht

Von Kindern neun Stück oder zehn,

Sie aufgebracht zu Mann und Weib,

Sie christlich erzogen, lieber Mann.

Was willst Du denn nu so jung noch thun?

Zieh lieber Dein'n alten Rock noch an!


Er.


O Bell, mein Weib, was quälst mich so?

Nu ist nune, und dann war dann.

Geh jetzt und guck in die weite Welt,

Kennst nicht mehr Bau'r und Edelmann;

Sie gehn Alle schwarz, gelb, grün und blau,

Jetzt ist ein Jeder ein vornehm' Mann.

Einmal im Leb'n will ich thun wie sie

Und schaff'n ein'n neuen Rock mir an.


Sie.


König Stephan war ein wackrer Herr,

Für sein Hosen gab er eine Kron';[80]

Sechs Pfennig mehr war zu theuer ihm,

Und mitgerechnet schon Schneiderlohn.

Und 's war ein König von großer Macht,

Und Du ja nur ein armer Mann.

Die Pracht bringt 'nunter Land und Leute.

Ich rath' Dir, Mann, zieh den alten an!


Er.


Bell, mein Weib, ist ein gutes Weib,

Sie zankt nicht, aber sie räth mir gern;

Und oft denn nu, um in Ruh zu leb'n,

Geb' ich ihr denn so nach von fern.

Sein Weib zu prügeln, schickt sich nicht,

Das thut kein alter rechtschaffner Mann;

Drum lass' ich's bleiben, wo ich's fand,

Und zieh' mein'n alten Graurock an.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 79-81.
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