Gesang auf die menschliche Seele

[73] In altdeutscher Manier.


Statt Luft- und Himmelswesen

Preis' ich die Menschenseele,

Die Schöpferin! Erlesen

Hat sie in dunkler Zauberhöhle

Sich einen Erdenleib und ward,

Die Schöpferin, mit regen Kräften

Der Götter offenbart.


Nimm, was die Menschenseele

Für neuen Sinn ersonnen,

Und fleuch aus Deiner Höhle,

Zu wandeln unter Stern- und Sonnen,

Und kehr hinab und sieh und sprich,

Was größer Du gesehen,

Die Sonnen oder Dich.


Was Dir ein Erdball dünket,

Der Leib, den Du ernährest,

Der todt zu Staube sinket,

Wenn Du in neue Reiche kehrest –

Ist eine Welt, von ihr vereint,[73]

Gewebt und kunstgebildet,

Ob's Dir ein Erdkloß scheint.


Und wer ist's, der sie zähle,

Den Erdbau noch durchstrebend,

Die Kräfte Deiner Seele?

Allgegenwärtig, allbelebend,

Als eine Sonn', als Königin

Herrscht sie und fühlt und langet

Ans Weltenende hin.


Jetzt, wenn sie göttlich fühlet

Des hohen Ursprungs Feier,

Zu hohem Ziele zielet,

Wie König Adler; jetzt als Ungeheuer

Entflammet, wo sie Zug und Wuth

Und Raubbegier hinabreißt,

Gleich einem Pfeil, nach Blut –


Wie da Blutströme wallen

Von Herzen und zu Herzen!

Und in den Strömen allen

Wallt Leben, wallen Wonn' und Schmerzen,

In Kugeln, unerforscht und viel,

Wie Welt- und Erdenbälle,

Wer, der sie zählen will?


Sieh, mit den Lebensbällen

Gehn Deiner Seele Bilder.

Jetzt, wie aus Abgrundsquellen

Die Weltenwirbel, jetzt und milder

Und schmeichelnd sanft, wie sich die Thrän'

Im Blick der Liebe sammelt

Und abrinnt sterbend schön.


Große Gedanken streben

Da auf wie Flammenmeere!

Auf ihren Schilden heben

Sie Dich empor, Gedankenheere!

Wer ist, der denkend je umfing

Den Weg, den Menschenseele

Zum Thron der Gottheit ging?
[74]

Wo, Lorbeern statt, sie Kreise

Der hellen Stern' umglänzen,

Gesetz und Kraft und Lauf im ew'gen Gleise,

Die Boten ihres Sinns, die Welt umgrenzen,

Und ihr zu Füßen tief umher

Wölbt sich im Himmelsbogen

Das Siebenfarbenmeer.


Sich einen Gott ersonnen

Hat sie, hat über Sternen

Ein Paradies gewonnen,

Sich unterthänigt alle blauen Fernen

Der weiten Ewigkeit und sich

Ein Engelheer geschaffen,

Zu herrschen götterlich.


Den Freund noch zu empfangen,

Hat sich die Menschenseele neue Welt erfunden,

Mit Jünglingslieb-Verlangen

Sich, im Gewande Purpurwunden

Am Todespfahl, auf Flammengluth

Zum Freund hinaufgeschwungen

Und ihm im Schooß geruht.


Ach, dann in Seelenflammen

Zischt Leibesschmerz, verlodert,

Hat Himmel und Erd' zusammen,

Ein Herzensschlag, um sich gefodert,

Bis der durchglühte Sonnengeist

Allein, in Einem Alles, pranget,

Das All in Einem heißt.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 73-75.
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