An die Geliebte

[292] Deine Thräne zu entküssen,

Holdes Mädchen, flieh' ich hin zu Dir,

Bin durch Lüfte hergeflogen

Dir zur Seite. Sieh, es zogen

Deine Seufzer mich zu Dir.

Laß, o laß mit diesem Kusse

Deine bittre Thräne mir!


Deine bittre Thräne schmähet

Liebe, Tugend, Vorsicht, Dich und Gott,

Sieht mit Murren in die Höhe,

Thut dem besten Herzen wehe

Und macht dieses Weh zu Spott.

Ach, ergieb mit zarter Thräne

Dich der Lieb' und Deinem Gott!


Deine Lieb' und Herz und Seele

Ist ja unschuldschön wie die Natur.

Mädchen, Deine sanften Wangen[292]

Sind zur Thräne nicht; es hangen

Keine Wolken auf der Rosenflur

Deiner Lippen; Deine Augenlider,

Holdes Mädchen, lächeln Freundschaft nur!


Und drohn nicht mit Düsternissen

Und sind nicht zur Nebelnacht

Hergeschaffen. Ach, o Blume

In der Unschuld Heiligthume,

Die, wohin sie blicket, Freude lacht,

Heb' Dich aus den Düsternissen,

Wie die Lilie nach Regen lacht!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 292-293.
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