Liebe

[492] Hätt' ich Menschen-, hätt' ich Engelzungen,

Würde Gottes Lob von mir gesungen

Wie ein Sternen-, wie des Himmels Sang,

Und mir fehlete die Liebe,

Liebe, Liebe:

Ohne Dich sind meine Lieder todter Schellenklang!


Hätt' ich Prophezeihung, alle Tiefen

Der Geheimnisse, Erkenntnißtiefen,

Berge zu versetzen, hätt' ich Macht,[492]

Und mir fehlete die Liebe,

Liebe, Liebe:

Ohne Dich wär all mein Glaube, all mein Wissen Nacht!


Gäb' ich Armen alle meine Habe,

Gäbe meinen Leib zur Gottesgabe

Preis dem Feuer, lachete der Gluth,

Und mir fehlete die Liebe,

Liebe, Liebe:

Ohne Dich ist Thun und Leiden leere, blinde Wuth!


Liebe, Du bist gütig, freundlich, milde,

Neidlos, eiferst nimmer toll und wilde,

Nimmer stolz und ungeberdig nie,

Nicht argwöhnisch, suchst das Meine,

Nicht das Deine:

Nur die Wahrheit, nicht die Lüge, Gutes freuet sie!


Alles deckt sie, glaubt sie, hofft sie, duldet,

Duldet Alles, was sie nie verschuldet.

Liebe, Du wirst bleiben, Du allein!

Alle Gaben werden schwinden,

Sprachen schwinden,

Alles Stückwerk der Erkenntniß: Liebe nur wird sein!


Stückwerk ist mein Wissen, mein Vergleichen;

Kommt das Ganze, muß das Stückwerk weichen;

Kind ist Kind und klügelt wie ein Kind.

Wird ein Mann an Kindereien

Sich erfreuen?

Er, ein Mann, ist männlicher gesinnt.


Jetzt im Räthsel, jetzt im dunkeln Spiegel,

Einst erscheinet uns der Wahrheit Siegel

Wirklich, Angesicht zu Angesicht:

Glaube bleibet, Hoffnung, Liebe,

Doch die Liebe

Ist die größte Aller, Liebe nur weicht nicht.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 492-493.
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