Bitten

[103] Allmächt'ge Güte, Vater aller Wesen,

Du Herz, das sich in jedem Herzen reget,

Du Mutterhand, die Alles hebt und träget

Und mich, auch mich zu Deinem Kind erlesen:


Ich knie vor Dir als Kind in stiller Demuth;

Du siehst ja innig, was ich will und denke,

Du lenkest selbst mein Herz, wenn ich es lenke,

Und giebst mir selbst die Thräne süßer Wehmuth.


Mein tiefstes Dasein ist vor Dir enthüllet,

Mein Lebensbuch ist vor Dir aufgeschlagen,

Und manche Wünsche, die stumm in mir lagen,

Eh ich sie wagete, hast Du erfüllet.


Was kann ich Dir, als was ich ganz bin, geben?

Denn, Freund, Du gabst mir, was ich bin und habe:

Mein Wunsch, Dir treu zu sein, ist Deine Gabe,

Mein Licht ist Dein, mein Trost und all mein Leben.
[103]

Ach, wär' ich, wozu mich Dein Blick bestimmte,

Was sein zu sollen tief ich in mir fühle!

Ich irre noch, ich irre fern vom Ziele,

Und mancher Funk' erlosch, der in mir glimmte.


Freund meines Lebens, reiche Deine Hände!

O sei mir selbst der Führer, der mich leite,

Der Trieb, die Stimme, die mich stets begleite

Und meine Fehler selbst zum Guten wende!


Nie will ich thöricht Dir mein Herz verhüllen,

Nie tobend kühn die Wahrheit von mir scheuchen.

Wenn Alles weicht, sollst Du nicht von mir weichen;

Denn Du nur kannst und wirst mein Herz erfüllen.


Du liebest mich und hast mich stets geliebet;

Denn Dein sind meiner Jugend frohe Zeiten.

Du wirst mich lieben, in die Ewigkeiten

Mich lieben, Herr, wie oft ich Dich betrübet.


Gieb mir auf meinem kurzen Lebenswege

Nur täglich reine Dankbarkeit und Freude,

Und frohen Muth, wenn ich unschuldig leide,

Und neuen Muth zu jedem rauhen Stege,


Und Glaub' und Lieb', die Alles überwinden,

Und meiner ew'gen Hoffnung neue Flügel!

Ich klimme ab und auf den Lebenshügel,

Wo Dich, o Herr, wo mich ich werde finden.


Und was ich mir, erfleh' ich auch den Meinen,

Die nah und ferne, Herr, wie ich, hintreten,

An Deine Knie sich schließen, in Gott beten;

Erhör uns, Herr! wir sind, wir sind die Deinen!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 103-104.
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