Der Gastfreund

[154] Bei einem Neger in Guinea war

Ein Brite krank zurückgeblieben; treu,

Wie seinen Bruder, pflegt' der Neger ihn.

Da kam ein ander europäisch Schiff

Und stahl mit Tänzen, mit Musik und List

Der Neger viel' hinweg. Sie jammerten,

Die Hände ringend auf dem fliehnden Schiff,

Bis sie der dumpfe Boden hart verschloß.

Der Flecken ward voll Aufruhr. Väter, Mütter

Und Bräute, Söhne, Weiber sammelten

Sich um die Hütte, wo der Europäer

Danieder lag. Sie fordern Rache, Blut.

»Ihr Freunde,« sprach der Neger, »meinen Gast

Soll keine Rachbegier beleidigen!

Nur über meinen Leichnam geht der Weg

Zu ihm. Er hat Euch nichts geraubet, ist

Kein Europäer jetzt in meiner Hütte;[154]

Mein Gastfreund ist er und ein kranker Mensch.«

Die lauten Haufen trennten murmelnd sich

Und dankten's ihm am Morgen, daß sie gestern,

Von seiner Billigkeit geleitet, sich

Mit des Unschuld'gen Blute nicht befleckt.

Also die Neger. – Europäer, wir?


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 154-155.
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