2. Das Lied vom Herrn von Falkenstein
Deutsch

[120] Ein treflich Lied im Gange des Ganzen und in einzelen Stellen.


Es reit der Herr von Falkenstein

Wohl über ein' breite Haide.

Was sieht er an dem Wege stehn?

Ein Maidel mit weissem Kleide.


Wohin, wohinaus, du schöne Magd?

Was machet ihr hier alleine?

Wollt ihr die Nacht mein Schlafbule seyn,

So reitet ihr mit mir heime.


»Mit euch heimreiten, das thu ich nicht,

Kann euch doch nicht erkennen.«

»Ich bin der Herr von Falkenstein,

Und thu mich selber nennen.«


»Seyd ihr der Herr von Falkenstein,

Derselbe edle Herre,

So will ich euch bitten um 'n Gefangnen mein,

Den will ich haben zur Ehe.« –


»Den Gefangnen mein, den geb ich dir nicht,

Im Thurn muß er verfaulen!

Zu Falkenstein steht ein tiefer Thurn

Wohl zwischen zwo hohen Mauren.« –


»Steht zu Falkenstein ein tiefer Thurn

Wohl zwischen zwey hohen Mauren,

So will ich an die Mauren stehn,

Und will ihm helfen trauren.« –
[120]

Sie ging den Thurm wohl um und wieder um:

»Feinslieb, bist du darinnen?

Und wenn ich dich nicht sehen kann,

So komm' ich von meinen Sinnen.«


Sie ging den Thurm wohl um und wieder um;

Den Thurm wollt sie aufschliessen:

»Und wenn die Nacht ein Jahr lang wär;

Kein Stund thät mich verdriessen!« –


»Ei, dörft ich scharfe Messer tragen,

Wie unsers Herrn sein' Knechte;

So thät mit 'm Herrn von Falkenstein

Um meinen Herzliebsten fechten!« –


»Mit einer Jungfrau fecht' ich nicht,

Das wär mir immer ein Schande!

Ich will dir deinen Gefangenen geben;

Zieh mit ihm aus dem Lande!« –


»Wohl aus dem Land, da zieh ich nicht,

Hab' niemand was gestohlen;

Und wenn ich was hab' liegen lahn,

So darf ich's wiederholen.«

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Stuttgart 1975, S. 120-121.
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