14. Heinrich und Kathrine
Englisch

[38] Aus Ramsay's Tea-table miscell. Vol. II. p. 213. Es ist in Ursinus Balladen schon übersezt erschienen.


Vor Zeiten war in Engelland

Lord Heinrich Weltgepriesen;

Kein Ritter, der mehr Heldenthum

Und Freudigkeit bewiesen.[38]

Nach Ruhm hinan ging stets sein Sinn,

Von Liebe nicht verführet;

Das schönste Fräulein hatte nie

Sein männlich Herz gerühret.


Wohin in aller Schönen Kreis

Kathrine trat, trat Wonne,

Blüht' auf, als wie die Rose süß,

Ging auf, als wie die Sonne.

Ob immer war ihr Stand gering,

Gewann doch sie nur Herzen;

Kein Jüngling sahe sie und sank

Nicht schon in Liebesschmerzen.


Doch bald verlor ihr Auge Schein

Und Klarheit. Ihre Wangen

Erblaßten. Ihrem Angesicht

War aller Reiz entgangen.

Sie siechte lang und nie vertraut

Sie Jemand ihren Kummer;

In Thränen floß ihr Tag dahin,

Die Nacht in kurzem Schlummer.


Einmal im Traume rief sie laut:

»Ach Heinrich, sieh mich leiden!

O hart Geschick! ich armes Kind

Muß liebeschmachtend scheiden.

Doch ach – ein armes Mädchen muß

Muß Wahrheit schon verstecken.

Viel lieber todt zehntausendmal,

Als meine Lieb' entdecken!


Das hört die treue Wächterin;

Sie eilt zum jungen Helden,

»Ach, Herr! nun kann ich dir die Noth

Der kranken Freundin melden.[39]

Ein Traum, ein Traum hat's offenbart,

Was sie so tief betrübet.

Ach! Katharine liegt und stirbt,

Stirbt nun – weil sie – dich liebet.«


Das traf des edlen Heinrichs Herz;

Schnell schlug es auf in Flammen!

»Ach armes unglückseligs Kind! –

Doch wer kann mich verdammen?

Wust' ich, zu zu Bescheidene,

Was dir den Tod bereite?

Wohlan ich komm'!« Und wie der Wind

Flog er an ihre Seite.


»Erwach, erwach Holdselige!

Erwache, meine Schöne!

Ach hätte mirs geahndet je –

Nicht Eine, Eine Thräne

Hättst du verweinet – Heinrich ruft!

Mistraue nicht, erwarme!

Blüh auf, wach auf, vom Tode. Komm

Zurück in meine Arme!«


Da kam die Holdentschlafne noch

Einmal zurück ins Leben.

Hub matt ihr Haupt und lächelt sanft

Und wirft mit Freudebeben

Um ihren Langgeliebten sich

Entzückungsvoll! umfaßte

Den Jüngling. »Liebst du? liebst mich? mich?« –

Sank nieder und erblaßte.[40]

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Stuttgart 1975, S. 38-41.
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