25.

[243] Als Don Sancho seinen Bruder,

Den gefangenen Garzia,

In den festen Turm von Luna

Eingesperret – wie ein Sperber,

Der den ersten Raub gekostet,

Jetzt nach reicherm, größerm Raube

Dürstet und nach wärmerm Blut,

Warf auf seine jüngste Schwester

Sancho sich; er schleppt' Elviren,

Wie die schwache Taube wehrlos,

Aus dem ihr verliehnen Toro

Gen Burgos ins Kloster hin.


Jetzt entblößet Don Alfonso,

König von Leon, die Spitze

Seines Degens und verkündet

Laut der Welt und offenbar:

Aus Ehrfurcht für seinen Vater

Und sich selber zu beschützen,

Unternehm er diesen Krieg;
[243]

Doch nicht gegen seinen Bruder,

Einzig gegen den Beschützer

Eines niederträchtgen Räubers;

Der Beschützer heiße Cid.

Denn sprach er, ›die Bösen müßten

Abstehn von den Freveltaten,

Wenn zu solchen kein Rechtschaffner

Ihnen diente; denn der Beste

Wird im Dienst der Bösen schlecht.‹


»Rede jetzt«, sprach König Sancho,

»Perle meines Reiches, rede!

Ziehet er nicht gegen mich?«


»Gott ists, der uns alle richtet!«

Sprach der Cid. »Doch wollt Ihrs wissen,

König und mein Herr, so sag ich:

Euer Bruder, weil er recht hat,

Eilet er vorjetzt – zum Unglück.«


»Auf! Zu Waffen!« rief Don Sancho,

»Fliegt, ihr Fahnen! Fliegt, Paniere!

Seht, es kommen die Leoner!

Löwen der Standarten kommen,

Doch nicht Löwen, die sie tragen;

Und wir haben für sie Türme,

Türm und Schlösser zum Gefängnis.«


»Auf!« He! Cid ihm in die Rede,

»Auf, weil man an mich dann will!«


»Gott genad ihm, wer an dich will,

Braver Cid, du Blume Spaniens,

Spiegel echter Ritterschaft!«


Also zogen sie zum Kriege;

Don Alfonso ward gefangen,[244]

Und gefangen ward Don Sancho,

Jener von den Kastilianern,

Von den Leonesen dieser,

Und noch wankt das Glück der Schlacht.


Als der Cid auf seinem Rosse

Lossprengt auf den Haufen Krieger,

Der Sancho umschlossen hielt,

»Fangen oder hangen!« rief er.

»Nicht das eine, nicht das andre,

Guter Cid!« ward ihm zur Antwort.

»Fangen oder hangen!« rief er,

Und sein König stand befreit.


Don Alfonso blieb gefangen,

Ward gesperret in ein Kloster,

Wo ihn bald, zum Dank der Ehre,

Die dem Cid er laut erzeigt,

Doña Uraca ihn ins Freie

Fördert, daß er gen Toledo

Hin zu Ali Maimon floh.

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 243-245.
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