Erstes Naturgesetz

[186] Der Mensch ist ein frei denkendes, tätiges Wesen, dessen Kräfte in Progression fortwürken; darum sei er ein Geschöpf der Sprache!

Als nacktes, instinktloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen. Da ist kein dunkler, angeborner Trieb, der ihn in sein Element und in seinen Wirkungskreis, zu seinem Unterhalt und an sein Geschäfte zeucht. Kein Geruch und keine Witterung, die ihn auf die Kräuter hinreiße, damit er seinen Hunger stille! Kein blinder, mechanischer Lehrmeister,[186] der für ihn sein Nest baue! Schwach und unterliegend, dem Zwist der Elemente, dem Hunger, allen Gefahren, den Klauen aller starkem Tiere, einem tausendfachen Tode überlassen, stehet er da! einsam und einzeln! ohne den unmittelbaren Unterricht seiner Schöpferin und ohne die sichre Leitung ihrer Hand, von allen Seiten also verloren – – –

Doch so lebhaft dies Bild ausgemalt werde: so ist's nicht das Bild des Menschen – es ist nur eine Seite seiner Oberfläche, und auch die stehet im falschen Licht. Wenn Verstand und Besonnenheit die Naturgabe seiner Gattung ist: so mußte diese sich sogleich äußern, da sich die schwächere Sinnlichkeit und alle das Klägliche seiner Entbehrungen äußerte. Das instinktlose, elende Geschöpf, was so verlassen aus den Händen der Natur kam, war auch vom ersten Augenblicke an das freitätige vernünftige Geschöpf, das sich selbst helfen sollte, und nicht anders als konnte. Alle Mängel und Bedürfnisse, als Tier, waren dringende Anlässe, sich mit allen Kräften als Mensch zu zeigen: so wie diese Kräfte der Menschheit nicht etwa bloß schwache Schadloshaltungen gegen die ihm versagten größern Tiervollkommenheiten waren, wie unsre neue Philosophie, die große Gönnerin der Tiere! will: sondern sie waren ohne Vergleichung und eigentliche Gegeneinandermessung seine Art. Der Mittelpunkt seiner Schwere, die Hauptrichtung seiner Seelenwürkungen fiel so auf diesen Verstand, auf menschliche Besonnenheit hin, wie bei der Biene sogleich aufs Saugen und Bauen.

Wenn es nun bewiesen ist, daß nicht die mindeste Handlung seines Verstandes ohne Merkwort geschehen konnte: so war auch das erste Moment der Besinnung Moment zu innerer Entstehung der Sprache.

Man lasse ihm zu dieser ersten deutlichen Besinnung so viel Zeit, als man will: man lasse nach Buffons Manier (nur philosophischer als er) dies gewordne Geschöpf sich allmählich sammlen: man vergesse aber nicht, daß es gleich vom ersten Momente an kein Tier, sondern ein Mensch, zwar noch kein Geschöpf von Besinnung, aber schon von Besonnenheit ins Universum erwache. Nicht wie eine große, schwerfällige, unbehülfliche Maschine, die gehen sollte und mit starren Gliedern nicht gehen kann, die sehen, hören, kosten sollte, und mit starren Säften im Auge, mit verhärtetem Ohr und mit versteinter Zunge nichts von alle diesem kann – Leute, die Zweifel[187] der Art machen, sollten doch bedenken, daß dieser Mensch nicht aus Platons Höhle, aus einem finstern Kerker, wo er von seinem ersten Augenblick des Lebens, eine Reihe von Jahren hin, ohne Licht und Bewegung sich mit öffnen Augen blind und mit gesunden Gliedern ungelenk gesessen, sondern daß er aus den Händen der Natur, im frischesten Zustande seiner Kräfte und Säfte und mit der besten, nächsten Anlage kam, vom ersten Augenblicke sich zu entwickeln. Über die ersten Momente der Sammlung muß freilich die schaffende Vorsicht gewaltet haben – – doch das ist nicht Werk der Philosophie, das Wunderbare in diesen Momenten zu erklären, sowenig sie seine Schöpfung erklären kann. Sie nimmt ihn im ersten Zustande der freien Tätigkeit, im ersten vollen Gefühl seines gesunden Daseins und erklärt also diese Momente nur menschlich.

Nun kann ich mich auf das vorige beziehen. Da hier keine metaphysische Trennung der Sinne stattfindet, da die ganze Maschine empfindet und gleich vom dunkeln Gefühl heraufarbeitet zur Besinnung, da dieser Punkt, die Empfindung des ersten deutlichen Merkmals, eben auf das Gehör, den mittlern Sinn zwischen Auge und Gefühl trifft: so ist die Genesis der Sprache ein so inneres Dringnis wie der Drang des Embryons zur Geburt bei dem Moment seiner Reife. Die ganze Natur stürmt auf den Menschen, um seine Kräfte, um seine Sinne zu entwickeln, bis er Mensch sei. Und wie von diesem Zustande die Sprache anfängt, so

ist die ganze Kette von Zuständen in der menschlichen Seele von der Art, daß jeder die Sprache fortbildet –

Dies große Gesetz der Naturordnung will ich ins Licht stellen.

Tiere verbinden ihre Gedanken, dunkel oder klar, aber nicht deutlich. So wie freilich die Gattungen, die nach Lebensart und Nervenbau dem Menschen am nächsten stehen, die Tiere des Feldes, oft viel Erinnerung, viel Gedächtnis und in manchen Fällen ein stärkeres als der Mensch zeigen: so ist's nur immer sinnliches Gedächtnis; und keines hat die Erinnerung je durch eine Handlung bewiesen, daß es für sein ganzes Geschlecht seinen Zustand verbessert und Erfahrungen generalisiert hätte, um sie in der Folge zu nutzen. Der Hund kann freilich die Gebärde erkennen, die ihn geschlagen, und der Fuchs den unsichern Ort, wo ihm nachgestellt wurde, fliehen; aber keins von beiden sich eine allgemeine Reflexion aufklären,[188] wie es dieser schlagdrohenden Gebärde und dieser Hinterlist der Jäger je auf immer entgehen könnte. Es blieb also nur immer bei dem einzelnen sinnlichen Falle hangen, und sein Gedächtnis wurde eine Reihe dieser sinnlichen Fälle, die sich produzieren und reproduzieren – aber nie durch Überlegung verbunden: ein Mannigfaltiges ohne deutliche Einheit: ein Traum sehr sinnlicher, klarer, lebhafter Vorstellungen, ohne ein Hauptgesetz des hellen Wachens, das diesen Traum ordne.

Freilich ist unter diesen Geschlechtern und Gattungen noch ein großer unterschied. Je enger der Kreis, je stärker die Sinnlichkeit und der Trieb, je einförmiger die Kunstfähigkeit und das Werk des Lebens ist: desto weniger ist, wenigstens für uns, die geringste Progression durch Erfahrung merklich. Die Biene bauet in ihrer Kindheit so wie im hohen Alter und wird zu Ende der Welt so bauen als im Beginn der Schöpfung. Sie sind einzelne Punkte, leuchtende Funken aus dem Licht der Vollkommenheit Gottes, die aber immer einzeln leuchten. Ein erfahrner Fuchs hingegen unterscheidet sich schon sehr von dem ersten Lehrlinge der Jagd: er kennet schon viele Kunstgriffe voraus und sucht ihnen zu entweichen – – aber woher kennt er sie? und wie sucht er ihnen zu entweichen? weil er sie voraus unmittelbar erfahren und weil unmittelbar aus solcher Erfahrung das Gesetz dieser Handlung folget. In keinem Falle würkt deutliche Reflexion, denn werden nicht immer die klügsten Füchse noch jetzt so berückt wie vom ersten Jäger in der Welt? Bei dem Menschen waltet offenbar ein andres Naturgesetz über die Sukzession seiner Ideen, Besonnenheit: sie waltet noch selbst im sinnlichsten Zustande, nur minder merklich. Das unwissendste Geschöpf, wenn er auf die Welt kommt; aber sogleich wird er Lehrling der Natur auf eine Weise wie kein Tier: Ein Tag nicht bloß lehrt den andern: sondern jede Minute des Tages die andre: jeder Gedanke den andern. Der Kunstgriff ist seiner Seele wesentlich, nichts für diesen Augenblick zu lernen, sondern alles entweder an das zu reihen, was sie schon wußte, oder für das, was sie künftig daran zu knüpfen gedenkt: sie berechnet also ihren Vorrat, den sie gesammlet oder noch zu sammlen gedenkt: und so wird sie eine Kraft, unverrückt zu sammlen. Solch eine Kette geht bis an den Tod fort: gleichsam nie der ganze Mensch: immer in Entwicklung, im Fortgange, in Vervollkommung. Eine Würksamkeit hebt sich durch die andre: eine baut auf die andre: eine entwickelt[189] sich aus der andren. Es werden Lebensalter, Epochen, die wir nur nach den Stufen, der Merklichkeit benennen, die aber, weil der Mensch nie fühlt, wie er wächset, sondern nur immer wie er gewachsen ist, sich in ein unendlich Kleines teilen lassen. Wir wachsen immer aus einer Kindheit, so alt wir sein mögen, sind immer im Gange, unruhig, ungesättigt: das Wesentliche unsres Lebens ist nie Genuß, sondern immer Progression, und wir sind nie Menschen gewesen, bis wir – zu Ende gelebt haben; dahingegen die Biene Biene war, als sie ihre erste Zelle bauete.

Zu allen Zeiten würkt freilich dies Gesetz der Vervollkommung, der Progression durch Besonnenheit, nicht gleich merklich: ist aber das minder Merkliche deswegen nicht da? Im Traume, im Gedankentraume, denkt der Mensch nicht so ordentlich und deutlich als wachend: deswegen aber denkt er noch immer als ein Mensch – als Mensch in einem Mittelzustande; nie als ein völliges Tier. Bei einem Gesunden müssen seine Träume so gut eine Regel der Verbindung haben als seine wachenden Gedanken; nur daß es nicht dieselbe Regel sein, oder diese so einförmig würken kann; selbst diese Ausnahmen zeugen also von der Gültigkeit des Hauptgesetzes, und die offenbaren Krankheiten und unnatürlichen Zustände, Ohnmachten, Verrückungen usw. zeugen es noch mehr. Nicht jede Handlung der Seele ist unmittelbar eine Folge der Besinnung; jede aber eine Folge der Besonnenheit: keine, so wie sie beim Menschen geschiehet, könnte sich äußern, wenn der Mensch nicht Mensch wäre und nach solchem Naturgesetz dächte.

Konnte nun der erste Zustand der Besinnung des Menschen nicht ohne Wort der Seele würklich werden: so werden alle Zustände der Besonnenheit in ihm sprach mäßig: seine Kette von Gedanken wird eine Kette von Worten.

Will ich damit sagen, daß der Mensch jede Empfindung seines dunkelsten Gefühls zu einem Worte machen oder sie nicht anders als mittelst eines Worts empfinden könne? – Unsinn wäre es, dies zu sagen, da gerade umgekehrt bewiesen ist: was sich bloß durchs dunkle Gefühl empfinden läßt, ist keines Worts für uns fähig, weil es keines deutlichen Merkmals fähig ist. Die Basis der Menschheit ist also, wenn wir von willkürlicher Sprache reden, unaussprechlich. – – Aber ist denn Basis die ganze Figur? Fußgestelle die ganze Bildsäule? Ist der Mensch seiner ganzen Natur nach denn eine bloß dunkel[190] fühlende Auster? Lasset uns also den ganzen Faden seiner Gedanken nehmen; da er von Besonnenheit gewebt ist; da sich in ihm kein Zustand findet, der, im ganzen genommen, nicht selbst Besinnung sei oder doch in Besinnung aufgeklärt werden könne: da bei ihm das Gefühl nicht herrschet, sondern die ganze Mitte seiner Natur auf feinere Sinne, Gesicht und Gehör, fällt und diese ihm immerfort Sprache geben: so folgt, daß, im ganzen genommen, »auch kein Zustand in der menschlichen Seele sei, der nicht wortfähig oder würklich durch Worte der Seele bestimmt werde«.

Es müßte der dunkelste Schwärmer oder ein Vieh, der abstrakteste Götterseher oder eine träumende Monade sein, der ganz ohne Worte dächte. Und in der menschlichen Seele ist, wie wir selbst in Träumen und bei Verrückten sehen, kein solcher Zustand möglich. So kühn es klinge, so ist's wahr: der Mensch empfindet mit dem Verstande und spricht, indem er denket. – – Und indem er nun immer so fortdenket und, wie wir gesehen, jeden Gedanken in der Stille mit dem vorigen und der Zukunft zusammenhält: so muß »jeder Zustand, der durch Reflexion so verkettet ist, besser denken, mithin auch besser sprechen«.

Lasset ihm den freien Gebrauch seiner Sinne: da der Mittelpunkt dieses Gebrauchs in Gesicht und Gehör fällt, wo jenes ihm Merkmal und dieses Ton zum Merkmale gibt: so wird mit jedem leichtern, gebildetem Gebrauch dieser Sinne ihm Sprache fortgebildet. Lasset ihm den freien Gebrauch seiner Seelenkräfte. Da der Mittelpunkt ihres Gebrauchs auf Besonnenheit fällt, mithin nicht ohne Sprache ist, so wird mit jedem leichtern, gebildetem Gebrauch der Besonnenheit ihm Sprache mehr gebildet. Folglich wird die Fortbildung der Sprache dem Menschen so natürlich als seine Natur selbst.

Wer ist nun, der den Umfang der Kräfte einer Menschenseele kenne, wenn sie sich zumal in aller Anstrengung gegen Schwürigkeiten und Gefahren äußern? Wer ist, der den Grad der Vollkommenheit abwiege, zu dem sie durch eine beständige, innigverwickelte, so vielfache Fortbildung gelangen kann? Und da alles auf Sprache hinausläuft, wie ansehnlich, was ein einzelner Mensch zur Sprache sammlen muß! Mußte sich schon der Blinde und Stumme auf seinem einsamen Eilande eine dürftige Sprache schaffen; der Mensch, der Lehrling aller Sinne! der Lehrling der ganzen Welt! wie weit reicher muß er[191] werden! Was soll er genießen? Sinne, Geruch, Witterung für die Kräuter, die ihm gesund, Abneigung für die, so ihm schädlich sind, hat die Natur ihm nicht gegeben; er muß also versuchen, schmecken, wie die Europäer in Amerika den Tieren absehen, was eßbar sei? sich also Merkmale der Kräuter, mithin Sprache sammlen! Er hat nicht Stärke gnug, um dem Löwen zu begegnen; er entweiche also ferne von ihm, kenne ihn von fern an seinem Schalle, und um ihm menschlich und mit Bedacht entweichen zu können, lerne er ihn und hundert andre schädliche Tiere deutlich erkennen, mithin sie nennen! Je mehr er nun Erfahrungen sammlet, verschiedne Dinge und von verschiednen Seiten kennenlernt, desto reicher wird seine Sprache! Je öfter er diese Erfahrungen siehet und die Merkmale bei sich wiederholet, desto fester und geläufiger wird seine Sprache. Je mehr er unterscheidet und untereinander ordnet, desto ordentlicher wird seine Sprache! Dies Jahre durch, in einem muntern Leben, in steten Abwechselungen, in beständigem Kampf mit Schwürigkeiten und Notdurft, mit beständiger Neuheit der Gegenstände fortgesetzt: ist der Anfang zur Sprache unbeträchtlich? Und siehe! es ist nur das Leben eines einzigen Menschen!

Ein stummer Mensch, in dem Verstaute, wie es die Tiere sind, der auch nicht in seiner Seele Worte denken könnte, wäre das traurigste, sinnloseste, verlassenste Geschöpf der Schöpfung: und der größeste Widerspruch mit sich selbst! Im ganzen Universum gleichsam allein; an nichts geheftet und für alles da, durch nichts gesichert, und durch sich selbst noch minder, muß der Mensch entweder unterliegen oder über alles herrschen, mit Plan einer Weisheit, deren kein Tier fähig ist, von allem deutlichen Besitz nehmen, oder umkommen! Sei nichts, oder Monarch der Schöpfung durch Verstand! Zertrümmere oder schaffe dir Sprache. Und wenn sich nun in diesem andringenden Kreise von Bedürfnissen alle Seelenkräfte sammlen: wenn die ganze Menschheit, Mensch zu sein, kämpfet – wie viel kann erfunden, getan, geordnet werden!?

Wir gesellschaftlichen Menschen denken uns in einen solchen Zustand nur immer mit Zittern hinein: »Ei, wenn der Mensch sich gegen alles auf so langsame, schwache, unhinreichende Art erst retten soll« – durch Vernunft, durch Überlegung? wie langsam überlegt diese! und wie schnell, wie andringend sind seine Bedürfnisse? seine Gefahren! – – Es kann[192] dieser Einwurf freilich mit Beispielen sehr ausgeschmückt werden; er streitet aber immer gegen eine ganz andre Spitze, als die wir verteidigen. Unsre Gesellschaft, die viele Menschen zusammengebracht, daß sie mit ihren Fähigkeiten und Verrichtungen eins sein sollen, muß also von Jugend auf Fähigkeiten verteilen und Gelegenheiten ausspenden, daß eine für der andern gebildet werde. So wird der eine Mensch für die Gesellschaft gleichsam ganz Algebra, ganz Vernunft, so wie sie am andern bloß Herz, Mut und Faust braucht: der nutzt ihr, daß er kein Genie und viel Fleiß; jener, daß er Genie in einem, und in allem andern nichts habe. Jedes Triebrad muß sein Verhältnis und Stelle haben: sonst machen sie kein Ganzes einer Maschine – Aber daß man diese Verteilung der Seelenkräfte, da man alle andre merklich erstickt, um in einer andre zu übertreffen, nicht in den Zustand eines natürlichen Menschen übertrage. Setzet einen Philosophen, in der Gesellschaft geboren und erzogen, der nichts als seinen Kopf zu denken und seine Hand zum Schreiben geübet, setztet ihn mit einmal aus allem Schutz und gegenseitigen Bequemlichkeiten, die ihm die Gesellschaft für seine einseitigen Dienste leistet, hinaus: er soll sich selbst in einem unbekannten Lande Unterhalt suchen und gegen die Tiere kämpfen und in allem eigner Schutzgott sein – wie verlegen! er hat dazu weder Sinne noch Kräfte, noch Übung in beiden! Vielleicht hat er in den Irrgängen seiner Abstraktion Geruch und Gesicht und Gehör und rasche Erfindungsgabe – und gewiß jenen Mut, jene schnelle Entschließung verloren, die sich nur unter Gefahren bildet und äußert, die in steter, neuer Würksamkeit sein will, oder sie entschläft. Ist er nun in Jahren, wo der Lebensquell seiner Geister schon stillesteht oder zu vertrocknen anfängt: so wird es freilich ewig zu spät sein, ihn in diesen Kreis hineinbilden zu wollen – aber ist denn das der gegebne Fall? Alle die Versuche zur Sprache, die ich anführe, werden durchaus nicht gemacht, um philosophische Versuche zu sein: die Merkmale der Kräuter nicht ausgefunden, wie sie Linné klassifizieret: die ersten Erfahrungen sind nicht kalte, vernunftlangsame, sorgsam abstrahierende Experimente, wie sie der müßige einsame Philosoph macht, wenn er der Natur in ihrem verborgnen Gange nachschleicht und nicht mehr wissen will, daß, sondern wie sie würke. Daran war eben dem ersten Naturbewohner am wenigsten gelegen. Mußte es ihm demonstriert werden, daß das oder jenes Kraut[193] giftig sei? War er denn so mehr als viehisch, daß er hierin nicht einmal dem Vieh nachahmte? und war's nötig, daß er vom Löwen angefallen würde, um sich vor ihm zu fürchten? Ist seine Schüchternheit, mit seiner Schwachheit, und seine Besonnenheit, mit aller Feinheit seiner Seelenkräfte verbunden, nicht gnug, ihm einen behaglichen Zustand von selbst zu verschaffen, da die Natur selbst sie dazu für gnugsam erkannt? Da wir also durchaus keinen schüchternen, abstrakten Stubenphilosophen zum Erfinder der Sprache brauchen; da der rohe Naturmensch, der noch seine Seele so ganz, wie seinen Körper, aus einem Stück fühlet, uns mehr als alle sprachschaffende Akademien und doch nichts minder als ein Gelehrter ist – was wollen wir diesen, denn zum Muster nehmen? Wollen wir einander Staub in die Augen streuen, um bewiesen zu haben, der Mensch könne nicht sehen?

Süßmilch ist hier wieder der Gegner, mit dem ich kämpfe. Er hat einen ganzen Abschnitt25 darauf verwandt, um zu zeigen, »wie unmöglich sich der Mensch eine Sprache hat fortbilden können, wenn er sie auch durch Nachahmung erfunden hätte!« Daß das Erfinden durch bloße Nachahmung ohne menschliche Seele Unsinn sei, ist bewiesen, und wäre der Verteidiger des göttlichen Ursprungs dieser Sache demonstrativ gewiß gewesen, daß es Unsinn sei, so traue ich ihm zu, daß er gegen ihn nicht eine Menge von halbwahren Gründen zusammengetragen hätte, die jetzt gegen eine menschliche Erfindung der Sprache durch Verstand sämtlich nichts beweisen. Ich kann unmöglich den ganzen Abschnitt, so verflochten mit willkürlich angenommenen Heischesätzen und falschen Axiomen über die Natur der Sprache er ist, hier ganz auseinandersetzen, weil der Verfasser immer in einem gewissen Licht erschiene, in dem er hier nicht erscheinen soll – ich nehme also nur soviel heraus, als nötig ist, nämlich, daß in seinen Einwürfen die Natur einer sich fortbildenden menschlichen Sprache und einer sich fortbildenden menschlichen Seele durchaus verkannt sei.

»Wenn man annimmt, daß die Einwohner der ersten Welt nur aus etlichen tausend Familien bestanden hätten, da das Licht des Verstandes durch den Gebrauch der Sprache schon so helle geschienen, daß sie eingesehen, was die Sprache sei und daß sie also an die Verbesserung dieses herrlichen Mittels[194] haben können anfangen zu denken: so – –«26 Aber von allen diesen Vordersätzen nimmt niemand nichts an. Mußte man's erst in tausend Generationen einsehen, was Sprache sei? Der erste Mensch sähe es ein, da er den ersten Gedanken dachte. Mußte man erst in tausend Generationen so weit kommen, es einzusehen, daß die Sprache zu verbessern gut sei? Der erste Mensch sähe es ein, da er seine ersten Merkmale besser ordnen, berichtigen, unterscheiden und zusammensetzen lernte, und verbesserte jedesmal unmittelbar die Sprache, da er so etwas von neuem lernte. Und denn, wie hätte sich doch durch tausend Generationen hin das Licht des Verstandes durch die Sprache so helle aufklären können, wenn im Ablauf dieser Generationen sich nicht schon Sprache aufgeklärt hätte. Also Aufklärung ohne Verbesserung! und hinter einer Verbesserung tausend Familien hinunter noch der Anfang zu einer Verbesserung unmöglich? Das ist geradezu widersprechend. – – –

»Würde aber nicht als ein ganz unentbehrlich Hülfsmittel dieses philosophischen und philologischen Collegii Schrift müssen angenommen werden?« Nein! denn es war durchaus kein philosophisch und philologisch Collegium, diese erste natürliche, lebendige, menschliche Fortbildung der Sprache; und was kann denn der Philosoph und Philolog in seinem toten Museum an einer Sprache verbessern, die in aller ihrer Würksamkeit lebt?

»Sollen denn nun alle Völker auf gleiche Weise mit der Verbesserung zu Werke gegangen sein?« Ganz auf gleiche Weise, denn sie gingen alle menschlich: so daß wir uns hier in den wesentlichen Rudimenten der Sprache einen für alle anzunehmen getrauen. Wenn das aber das größte Wunder sein soll, daß alle Sprachen acht partes orationis haben27: so ist wieder das Faktum falsch und der Schluß unrichtig. Nicht alle Sprachen haben von allen Zeiten herunter achte gehabt: sondern der erste philosophische Blick in die Bauart einer Sprache zeigt, daß diese achte sich auseinander entwickelt. In den ältesten sind Verba eher gewesen als Nomina, und vielleicht Interjektionen eher als selbst regelmäßige Verba. In den spätern sind Nomina mit Verbis gleich zusammen abgeleitet; allein selbst von der griechischen sagt's Aristoteles, daß auch in ihr dies anfangs alle Redeteile gewesen und die andern sich nur später[195] durch die Grammatiker aus jenen entwickelt. Von der huronischen habe ich ebendasselbe gelesen, und von den morgenländischen ist's offenbar – – ja was ist's denn endlich für ein Kunststück, die willkürliche und zum Teil unphilosophische Abstraktion der Grammatiker in acht partes orationis? Ist die so regelmäßig und göttlich als die Form einer Bienenzelle? Und wenn sie's wäre, ist sie nicht durchaus aus der menschlichen Seele erklärbar und als notwendig gezeigt?

»Und was sollte die Menschen zu dieser höchst sauren Arbeit der Verbesserung gereizet haben?« O durchaus keine saure, spekulative Stubenarbeit! durchaus keine abstrakte Verbesserung a priori! und also auch gewiß keine Anreizungen dazu, die nur in unserm Zustande der verfeinerten Gesellschaft stattfinden. Ich muß hier meinen Gegner ganz verlassen. Er nimmt an, daß »die ersten Verbesserer recht gute philosophische Köpfe gewesen sein müßten, die gewiß weiter und tiefer gesehen, als die meisten Gelehrte jetzt in Ansehung der Sprache und ihrer innern Beschaffenheit zu tun pflegen«. Er nimmt an, daß »diese Gelehrte überall erkannt haben müßten, daß ihre Sprache unvollkommen und daß sie einer Verbesserung nicht nur fähig, sondern auch bedürftig sei«. Er nimmt an, daß »sie den Zweck der Sprache haben gehörig beurteilen müssen usw., daß die Vorstellung dieses zu erlangenden Gutes hinlänglich, stark und lebhaft gnug gewesen sein müsse, um ein Bewegungsgrund zur Übernehmung dieser schweren Arbeit zu werden«. Kurz, der Philosoph unsres Zeitalters wollte sich nicht einen Schritt auch aus allem Zufälligen desselben hinauswagen, und wie konnte er denn nach solchem Gesichtspunkt von der Entstehung einer Sprache schreiben? Freilich in unserm Jahrhundert hätte sie so wenig entstehen können, als sie entstehen darf!

Aber kennen wir denn nicht jetzt schon die Menschen in so verschiednen Zeitaltern, Gegenden und Stufen der Bildung, daß uns dies so veränderte große Schauspiel nicht sichrer auf die erste Szene schließen lehrte? Wissen wir denn nicht, daß eben in den Winkeln der Erde, wo noch die Vernunft am wenigsten in die feine, gesellschaftliche, vielseitige, gelehrte Form gegossen ist, noch Sinnlichkeit und roher Scharfsinn und Schlauheit und mutige Würksamkeit! und Leidenschaft und Erfindungsgeist – die ganze ungeteilte menschliche Seele am lebhaftesten würke? am lebhaftesten würke, weil sie noch[196] auf keine langweilige Regeln gebracht, immer in einem Kreise von Bedürfnissen, von Gefahren, von andringenden Erfordernissen ganz lebt und sich also immer neu und ganz fühlt. Da, nur da zeigt sie Kräfte, sich Sprache zu bilden und fortzubilden! Da hat sie Sinnlichkeit und gleichsam Instinkt gnug, um den ganzen Laut und alle sich äußernde Merkmale der lebenden Natur so ganz zu empfinden, wie wir nicht mehr können: und wenn die Besinnung alsdenn eins derselben lostrennet, es so stark und innig zu nennen, als wir's nicht nennen würden. Je minder die Seelenkräfte noch entwickelt und jede zu einer eignen Sphäre abgerichtet ist: desto stärker würken alle zusammen: desto inniger ist der Mittelpunkt ihrer Intensität; nehmet aber diesen großen unzerbrechlichen Pfeilbund auseinander, und ihr könnt sie alle zerbrechen, und denn läßt sich gewiß nicht mit einem Stabe das Wunder tun, gewiß nicht mit der einzigen kalten Abstraktionsgabe der Philosophen je Sprache erfinden – war das aber unsre Frage? Drang jener Weltsinn nicht tiefer? Und waren bei dem beständigen Zusammenstrom aller Sinne, in dessen Mittelpunkt immer der innere Sinn wachte, nicht immer neue Merkmale, Ordnungen, Gesichtspunkte, schnelle Schlußarten gegenwärtig, und also immer neue Bereicherungen der Sprache? Und empfing also zu dieser, wenn man nicht auf acht partes orationis rechnen will, die menschliche Seele nicht ihre besten Eingebungen, solange sie noch ohne alle Anreizungen der Gesellschaft sich nur selbst desto mächtiger anreizte, sich alle die Tätigkeit der Empfindung und des Gedankens gab, die sie sich nach innerm Drang und äußern Erfordernissen geben mußte – da gebar sich Sprache mit der ganzen Entwicklung der menschlichen Kräfte.

Es ist für mich unbegreiflich, wie unser Jahrhundert so tief in die Schatten, in die dunkeln Werkstätten des Kunstmäßigen sich verlieren kann, ohne auch nicht einmal das weite, helle Licht der uneingekerkerten Natur erkennen zu wollen. Aus den größesten Heldentaten des menschlichen Geistes, die er nur im Zusammenstoß der lebendigen Welt tun und äußern konnte, sind Schulübungen im Staube unsrer Lehrkerker, aus den Meisterstücken menschlicher Dichtkunst und Beredsamkeit Kindereien geworden, an welchen greise Kinder und junge Kinder Phrases lernen und Regeln klauben. Wir haschen ihre Formalitäten und haben ihren Geist verloren; wir lernen ihre Sprache und fühlen nicht die lebendige Welt ihrer Gedanken.[197] Derselbe Fall ist's mit unsern Urteilen über das Meisterstück des menschlichen Geistes, die Bildung der Sprache überhaupt. Da soll uns das tote Nachdenken Dinge lehren, die bloß aus dem lebendigen Hauche der Welt, aus dem Geiste der großen würksamen Natur den Menschen beseelen, ihn aufrufen und fortbilden konnten. Da sollen die stumpfen, späten Gesetze der Grammatiker das göttlichste sein, was wir verehren, und vergessen die wahre göttliche Sprachnatur, die sich in ihrem Herzen mit dem menschlichen Geiste bildete: so unregelmäßig sie auch scheine. Die Sprachbildung ist in die Schatten der Schule gewichen, aus denen sie nichts mehr für die lebendige Welt würket: drum soll auch nie eine helle Welt gewesen sein, in der die ersten Sprachenbilder leben, fühlen, schaffen und dichten mußten. – Ich berufe mich auf das Gefühl derer, die den Menschen im Grunde seiner Kräfte, und das Kräftige, Mächtige, Große in den Sprachen der Wilden, und Wesen der Sprache überhaupt nicht verkennen – daher fahre ich fort:

25

Abschnitt 3.

26

S. 80, 81.

27

31, 34.

Quelle:
Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften. Band 1, Berlin und Weimar 1978, S. 186-198.
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