Zweite Sammlung

[75] (1793)
[75]

14.

Mehrmals finde ich in Ihren Briefen den Geist der Zeit genannt; wollen wir uns einander nicht diesen Ausdruck aufklären?

Ist er ein Genius, ein Dämon? oder ein Poltergeist, ein Wiederkommender aus alten Gräbern? oder gar ein Lufthauch der Mode, ein Schall der Äolsharfe? Man hält ihn für eins und das andre.

Woher kommt er? wohin will er? wo ist sein Regiment? wo seine Macht und Gewalt? Muß er herrschen? muß er dienen? kann man ihn lenken?

Hat man Schriften darüber? Wie lernt man ihn aus der Erfahrung kennen? Ist er der Genius der Humanität selbst? oder dessen Freund, Vorbote, Diener?


15.

Warum sollte ich Ihnen auf Ihren lakonischen Brief nicht ebenso rätselhaft antworten, als Sie gefragt haben?

»Was ist der Geist der Zeiten?« Allerdings ein mächtiger Genius, ein gewaltiger Dämon. Wenn Averroës glaubte, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Seele habe, an welcher jedes Individuum auf seine Weise, bald tätig, bald leidend teilnehme, so würde ich diese Dichtung eher auf den Geist der Zeit anwenden. Wir stehen alle unter seinem Gebiet, bald tätig, bald leidend.

»Ist er ein Schall der Äolsharfe? ein Lufthauch der Mode?« Die flüchtige Mode ist seine unechte Schwester; er ist ihr[77] nicht gewogen, lernt aber auch von ihr und hat mit ihr zuweilen lehrreichen Umgang. Desto entschiedner hasset er seinen wahren Feind und Verleumder, den Geist des Aufruhrs, der Zwietracht, den unreinen, abgeschmackten Pöbelsinn und Wahnsinn. Wo dieser sich hören läßt, in welchen Gesellschaften und Kreisen er ihn auch nur vermutet, fliehet er vor ihm und verachtet selbst die Lehre aus seinem Munde. Die Stimme des geläuterten Zeitgeistes ist verständig, überredend, sanft, freundlich. Bald lässet er sich wie ein Laut auf der Äolsharfe hören; bald tönt sie in vollen Chören. Der geläuterte Geist der Zeiten (möchte ich mit jenem alten Buche sagen) ist »heilig, einig, mannigfalt, scharf und behende, rein und klar, ernst und frei, wohltätig, leutselig, fest, gewiß, sicher. Er vermag alles, siehet alles und gehet durch alle Geister, wie verständig, lauter und scharf sie sind«.

»Woher kommt er?« Wie sein Name sagt, aus dem Schoß der Zeiten. Der menschlichen Natur einwohnend, hatten ihn einst in unserm rauheren Klima die Pfäfferei und der wilde Kriegsgeist lange unterdrückt gehalten; sie schlossen ihn ein in Höhlen, Türme, Schlösser und Klöster. Er entkam; die Reformation machte ihn frei; Künste und Wissenschaften am meisten aber die Buchdruckerei gaben ihm Flügel. Seine ernste Mutter, die selbstdenkende Philosophie, hat ihn, zumal an den Schriften der Alten, unterwiesen; sein ernster Vater, der mühsame Versuch, hat ihn erzogen und durch die Vorbilder der würdigsten, größten Männer gereift und gestärket. Er ist kein Kind mehr, wiewohl er bei jeder neuen Begebenheit ein Kind scheinet; alle Erfahrungen voriger Zeiten sind in seine Seele gedrückt, sind auf seine Glieder verbreitet.

»Wohin will er?« Wohin er kommen kann. Er hat aus den vorigen Zeiten gesammlet, sammlet aus den jetzigen und dringt in die folgenden Zeiten. Seine Macht ist groß, aber unsichtbar; der Verständige bemerkt und nutzt sie, dem Unweisen wird sie, meistens zu spät, nur in erfolgten Wirkungen glaubhaft.

»Muß der Geist der Zeit herrschen oder dienen?« Er muß[78] beides an Stelle und Ort. Der Weise gibt ihm nach, um zu rechter Zeit ihn zu lenken; wozu aber eine sehr behutsame, sichre Hand gehöret. Indessen wird er offenbar gelenkt, nicht von der Menge, sondern von wenigen, tiefer als andre blickenden, standhaften und glücklichen Geistern. Oft leben und wirken diese in der größesten Stille; aber einer ihrer Gedanken, den der Geist der Zeiten auffaßt, bringt ein ganzes Chaos der Dinge zur Wohlgestalt und Ordnung. Glücklich sind die, denen die Vorsehung solch einen erhabnen Platz gab, in welchem Stande sie auch leben; selten wird dieser Platz durch Mühe erstrebt, selten durch lautes Geräusch angekündigt, meistens nur in Folgen bemerkt; oft müssen die großen Lenker auch viel wagen, viel leiden.

»Hat man Schriften über den Geist der Zeiten?« Das weiß ich nicht; am besten lernt man ihn aus Geschichten, die im Geist ihrer Zeiten geschrieben sind, und aus der Erfahrung kennen, wo eins das andre erläutert. Ohne nachdenkende Erfahrung versteht man die Bücher nicht; diese wiederum machen uns auf den lebendigen Geist der Zeiten aufmerksam. Das Rad rollet fort, ist immer dasselbe und zeigt immer eine andre Seite.

»Geist der Zeiten, ist er der Genius der Humanität selbst oder dessen Freund, Vorbote, Diener?« Ich wollte, daß er das erste wäre, glaube es aber nicht; das letzte hoffe ich nicht nur, sondern bin dessen fast gewiß. Daß er ein Freund, ein Vorbote, ein Diener der Humanität werde, wollen auch wir an unserm unmerklich kleinen Teile befördern.




16.

Schwerlich wird unser Freund mit der rätselhaften Auflösung seines Rätsels befriediget sein; also darf ich in einem offenern, wenn auch etwas schwereren Tone fortfahren.

Was Geist ist, läßt sich nicht beschreiben, nicht zeichnen, nicht malen; aber empfinden lässet es sich, es äußert sich[79] durch Worte, Bewegungen, durch Anstreben, Kraft und Wirkung. In der sinnlichen Welt unterscheiden wir Geist vom Körper und eignen jenem alle das zu, was den Körper bis auf seine Elemente beseelet, was Leben in sich hält und Leben erwecket, Kräfte an sich zieht und Kräfte fortpflanzet. In den ältesten Sprachen also ist Geist der Ausdruck unsichtbarer strebender Gewalt, dagegen Leib, Fleisch, Körper, Leichnam entweder die Bezeichnung toter Trägheit oder einer organischen Wohnung, eines Werkzeuges, das der einwohnende Geist als ein mächtiger Künstler gebrauchet.

Die Zeit ist ein Gedankenbild nachfolgender, ineinander verketteter Zustände; sie ist ein Maß der Dinge nach der Folge unsrer Gedanken; die Dinge selbst sind ihr gemessener Inhalt.

Geist der Zeiten hieße also die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit gegebnen Ursachen und Wirkungen sich äußern. Die Elemente der Begebenheiten sehen wir nie; wir bemerken bloß ihre Erscheinungen und ordnen uns ihre Gestalten in einer wahrgenommenen Verbindung.

Wollen wir also vom Geist unsrer Zeit reden, so müssen wir erst bestimmen, was unsre Zeit sei, welchen Umfang wir ihr geben können und mögen. Auf unsrer runden Erde existieren auf einmal alle Zeiten, alle Stunden des Tages und Jahres, vielleicht auch alle Zustände des menschlichen Geschlechts; wenigstens können wir voraussetzen, daß sie existiert haben und existieren werden. Alle Modifikationen wechseln auf ihr, haben gewechselt und werden wechseln, nachdem der Strom der Begebenheiten langsamer oder schneller die Wellen treibet.

Wenn wir uns demnach auf Europa bezirken, so ist Europa auch nur ein Gedankenbild, das wir uns etwa nach der Lage seiner Länder, nach ihrer Ähnlichkeit, Gemeinschaft und Unterhandlung zusammenordnen. Denken wir uns das einst oder jetzt katholische oder überhaupt das christliche Europa, so ist auch in ihm nach Ländern und Situationen der Geist[80] der Zeit sehr verschieden. Er ändert sich sogar mit Klassen der Einwohner, geschweige mit ihren Bedürfnissen, Neigungen und Einsichten. Ein einziger Umstand, eine viel leicht falsche oder übertriebene Nachricht, kurz, ein Wink und Wahn stimmt oft die Denkart und Meinung eines ganzen Volkes.

Wenn also unser Freund vom Geist der Zeiten als einem verständigen, scharfen, klaren Wesen sprach, so kann er damit nur die Grundsätze und Meinungen der scharfsichtigsten, verständigsten Männer gemeint haben. Sie machten sich vom Wahne des Pöbels los und lassen sich nicht nach jedem Winke lenken. So wenig ihrer hie und da sein mögen, um so fester sind sie sich selbst, um so standhafter hangen sie miteinander zusammen und bilden allerdings eine Kette im Fortgange der Zeiten. Das Lesen der Alten und Neuern, Gespräche und eine gemeinschaftliche Bemerkung dessen, was vorgegangen ist und täglich vorgeht, binden sie fest und fester aneinander; sie machen wirklich eine unsichtbare Kirche, auch wo sie nie voneinander gehört haben. Diesen Gemeingeist des aufgeklärten oder sich aufklärenden Europa auszurotten ist unmöglich; wozu wäre aber auch die unnütze Mühe? Je aufgeklärter er ist, gewiß desto weniger ist er schädlich Wo er irrt, kann er nur durch Wahrheit, nicht durch Zwang gebessert werden; denn Geist allein kann mit Geist kämpfen.

Erlauben Sie mir zu Ende meines Briefes auch ein Rätsel. Irre ich nicht, so sind drei Hauptbegebenheiten oder Epochen Europas, an denen dieser europäische Weltgeist haftet. Eine ist längst vorüber, sie dauerte fünf- bis achthundert Jahre und kommt hoffentlich nie wieder. Die zweite ist geschehen und geht in ihren Wirkungen fort; ihr Wert ist anerkannt und muß, der Natur der Sache nach, immer mehr anerkannt werden. Über der dritten brütet der Weltgeist, und wir wollen ihm wünschen, daß er in sanfter Stille ein glückliches Ei ausbrüten möge. Es ist aber ein gewaltig großes Straußenei; der glühende Sand und die allmächtige Sonne mögen es ihm ausbrüten helfen!


17.

[81] Lassen Sie uns zusehen, ob ich Ihr Rätsel innehabe. Die erste Begebenheit, an welcher der europäische Zeitgeist haftet, ist die Bepflanzung unsres Weltteils nach den römischen Zeiten, die politische und religiöse Organisation der Völker, die jetzt Europa bewohnen. Sie ist der Einschlag zum Gewebe; die meisten zweifelhaften Fragen der folgenden Zeiten bezogen sich auf die Einrichtung, die damals gemacht ward. Einen Teil dieser Fragen hat die zweite große Begebenheit, die Wiederauflebung der Wissenschaften und die Reformation, aufgelöset; vom eilften bis zum sechzehnten Jahrhunderte hat die Zeit über vieles entweder schon entschieden und entscheidet noch, oder sie sammlet Kräfte und Atem um künftig entscheiden zu können. Wahrscheinlich ist das die dritte Begebenheit, von der Sie reden.

Merken Sie sich aber, m. Fr., eins. Bei der Reformation war größtenteils von bloß geistigen Gütern, von Freiheit des Gewissens und Denkens, von Glaubensartikeln und Religion die Rede; denn an den Gebrauch der Kirchengüter wollen wir nicht, können auch nicht allemal mit billigendem Vergnügen denken. Die fortgehende Kultur des Menschengeschlechts, die aus der Erweckung der Wissenschaften entsprang, ist auch ein geistiges Gut; man kann ihren Fortgang hemmen, aber nicht vernichten.

Eine andre Beschaffenheit scheinet es mir mit der Reformation zu haben, von der jetzt die Rede sein soll; wie wäre es, wenn wir darüber den alten Reformator selbst hörten?


Luthers Gedanken

von der Regimentsänderung


»Des weltlichen Regiments Werk und Ehre ist, daß es aus wilden Tieren Menschen macht und Menschen erhält, daß es nicht wilde Tiere werden.[82]

Meinest du nicht, wenn die Vögel und Tiere reden könnten und das weltliche Regiment unter den Menschen sehen sollten, sie würden sagen: ›O ihr Lieben, ihr seid nicht Menschen, sondern Götter gegen uns.‹ Wer will dies Regiment nun erhalten, ohne wir Menschen, denen es Gott befohlen hat und die sein auch selbst wahrlich bedörfen? Die wilden Tiere werden's nicht tun, Holz und Steine auch nicht. Welche Menschen aber können's erhalten? Fürwahr nicht allein, die mit der Faust herrschen wollen, wie jetzt viel sich lassen dünken; denn wo die Faust allein soll regieren, da wird gewiß zuletzt ein Tierwesen draus, daß wer den andern übermag, stoße ihn in den Sack, wie wir vor Augen wohl Exempel gnug sehen, was Faust ohne Weisheit und Vernunft Gutes schafft. Darum sagt auch Salomo: ›Weisheit müsse regieren und nicht die Gewalt. Weisheit ist besser denn Harnisch oder Waffen. Weisheit ist besser denn Kraft‹, daß kurzum nicht Faustrecht, sondern Kopfrecht regieren muß unter den Bösen sowohl als unter den Guten.«

An einem andern Ort sagt er: »Ehe das geschehen wird, daß Kaiser, Könige und Fürsten mit dem ganzen Reich dazu täten, das Regiment zu bessern, wollen wir den obersten Herrn aller Herren oben in den Wolken sehen kommen und mit ihm davonfahren. Indes mag das Regiment, der böse Pelz, ein plumpes Regiment bleiben und (das Personat ungemenget!) Gott befohlen lassen sein, welchen er will hervorziehen und erheben. Änderung der Regiment und Rechte gehen ohn groß Blutvergießen nicht ab, wie alle Historien zeugen; und ehe man in Deutschland eine neue Weise des Reichs anrichtete, so würde es dreimal verheeret.«

»Wiewohl mich auch zuweilen dünkt, daß die Regiment und Juristen wohl auch eines Luthers bedürften; aber ich besorge, sie möchten einen Müntzer kriegen; darum ich nicht hoffen kann noch will, daß sie einen Luther kriegen werden. Es ist nicht zu raten, daß man es ändere, sondern flicke und pletze daran, wer kann, weil wir leben, strafe den Mißbrauch[83] und lege Pflaster auf die Blattern. Wird man die Blattern ausreißen mit Unbarmherzigkeit, so wird den Schmerzen und Schaden niemand mehr fühlen, denn solche kluge Barbierer. Ändern und Bessern sind zweierlei. Eines steht in der Menschen Händen und in Gottes Verhängen, das andre in Gottes Händen und Gnaden.«

Ferner sagt er: »Wenn das natürliche Recht und Vernunft in allen Köpfen steckte, die Menschenköpfen gleich sind, so könnten die Narren, Kinder und Weiber ebensowohl regieren und kriegen als David, Augustus, Hannibal und müßten Phormionen so gut sein als Hannibals; ja alle Menschen müßten gleich sein und keiner über den andern regieren. Welch ein Aufruhr und wüst Ding sollt hieraus werden? Aber nun hat's Gott also geschaffen, daß die Menschen ungleich sind und einer den andern regieren, einer dem andern gehorchen soll. Zween können miteinander singen (d.i. Gott alle gleich loben), aber nicht miteinander reden (d.i. regieren). Einer muß reden, der andre hören. Darum findet sich's auch also, daß unter denen, die sich natürlicher Vernunft und Rechts vermessen und rühmen, gar viel weidliche und große natürliche Narren sind; denn das edle Kleinod, so natürlich Recht und Vernunft heißt, ist ein selten Ding unter Menschenkindern.«

»Aber das ist der Teufel und Plage in der Welt, daß wir in allen Dingen, an leiblicher Stärke, Größe, Schöne, Gütern, Gesicht, Farbe, untereinander ungleich sind; und allein in der Weisheit und Glück alle wollen gleich sein, da wir doch am allerungleichsten untereinander sind. Und was noch wohl ärger ist, ein jeglicher will hierin über den andern sein und kann den schändlichen Narren und Klüglingen niemand nichts rechts tun, wie Salomon spricht: ›Ein Narr dünkt sich klüger sein denn sieben Weisen, die das Recht setzen.‹

Also schreibt auch Plato, es sei zweierlei Recht, Naturrecht und Gesetzrecht; ich will's das gesunde Recht und das kranke Recht nennen. Denn was aus Kraft der Natur geschieht, das gehet frisch hindurch, auch ohn alles Gesetz, reißt auch wohl[84] durch alle Gesetze. Aber wo die Natur nicht da ist und soll's mit Gesetzen herausbringen, das ist Bettelei und Flickwerk, geschieht gleichwohl nicht mehr denn in der kranken Natur steckt. Als wenn ich ein gemein Gesetz stellete: man soll zwo Semmel essen und ein Nösel Wein trinken zur Mahlzeit. Kommt ein Gesunder zu Tisch, der frisset wohl vier oder sechs Semmel und trinket eine Kanne oder zwo und tut mehr denn das Gesetz gibt. Kommt ein Kranker dazu, der ißt eine halbe Semmel und trinkt drei Löffel voll und tut doch nicht mehr an solchem Gesetz denn seine kranke Natur vermag oder muß sterben, wo er soll das Gesetz halten. Hier ist's nun besser, ich lasse den Gesunden ohn alles Gesetz essen und trinken, was und wieviel er will; dem Kranken gebe ich Maß und Gesetze, wieviel er kann, daß er dem Gesunden nicht nachmüsse.

Nun ist die Welt ein krank Ding und eben ein solcher Pelz, da Haut und Haar nicht gut an ist. Die gesunden Helden sind selten, und Gott gibt sie teuer, und muß doch regiert sein, wo Menschen nicht sollen wilde Tier werden. Darum bleibt's in der Welt gemeiniglich eitel Flickwerk und Bettelei, und ist ein rechter Spital, da es beide, Fürsten und Herrn, und allen Regierenden fehlet an Weisheit und Mut, d.i. an Glück und Gottes Treiben, wie den Kranken an Kraft und Stärke. Darum muß man hie flicken und pletzen, sich behelfen aus den Buchstaben oder Büchern, mit der Helden Recht, mit Sprüchen und Exempeln, und müssen also der stummen Meister (d.i. der Bücher) Schüler sein und bleiben Und machen's doch nimmer mehr so gut, als daselbst geschrieben stehet, sondern kriechen hienach und halten uns dran als an den Bänken oder Stecken, folgen auch daneben dem Rat der Besten, so mit uns leben, bis die Zeit kommt, daß Gott wieder einen gesunden Helden oder Wundermann gibt, unter dessen Hand alles besser gehet oder ja so gut als in keinem Buch stehet, der das Recht entweder ändert oder[85] also meistert, daß es im Lande alles grünet und blühet, mit Friede, Zucht, Schutz, Strafe, daß es ein gesund Regiment heißen mag, und dennoch daneben bei seinem Leben aufs höchste gefürchtet, geehret, geliebt und nach seinem Tode ewiglich gerühmet wird. Und wenn's ein Kranker oder Ungleicher demselben wollt nachtun und gleich oder besser sein, den hat Gott gewiß zur Plage der Welt geschickt, wie die Heiden auch schreiben: ›Der Helden Kinder sind eitel Plagen.‹

Denn was hilft große, hohe Weisheit und trefflich herzlich guter Mut oder Meinung, wenn's nicht die Gedanken sind, die Gott treibt und Glück dazu gibt? Es sind doch eitel Fehlgedanken und vergebliche Meinungen, ja auch wohl schädliche und verderbliche. Darum ist's sehr wohlgeredt: ›Die Gelehrten, die Verkehrten.‹ Jt.: ›Ein weiser Mann tut keine kleine Torheit.‹ Und zeigen alle Historien auch der Heiden, daß die weisen und gutmeinenden Leute haben Land und Leute verderbet. Welches alles gesagt ist von den Selbstweisen oder kranken Regierenden, die Gott nicht getrieben, noch Glück dazu gegeben hat; und haben's doch wollen sein. Also ist ihnen das Regiment zu hoch gewest, haben's nicht können ertragen noch hinausführen, sind also drunter erdruckt und umkommen, als Cicero, Demosthenes, Brutus, die doch aus der Maßen verständige und hochweise Leute waren, daß sie mochten heißen Licht in natürlichem Recht und Vernunft, und haben zuletzt das elende Klagelied singen müssen: ›Ich hätt es nicht gemeinet.‹ Ja Lieber! das gute Meinen macht viele Leute weinen. Summa, es ist eine hohe Gabe, wo Gott einen Wundermann gibt, den er selbst regiert; derselbe mag ein König, Fürst und Herr heißen mit Ehren, er sei selbst Herr oder Rat zu Hofe. Darum spricht auch Salomo: › Zu laufen hilft nicht schnell sein; zum Streit hilft nicht stark sein; zum Reichtum hilft nicht klug sein; angenehm sein, dazu hilft nicht alles wohl können; sondern es liegt alles an der Zeit und am Glück.‹ Was ist das anders gesagt,[86] denn soviel: Weisheit mag da sein, hohe Vernunft mag da sein, schöne Gedanken und kluge Anschläge mögen da sein; aber es hilft nichts, wenn sie Gott nicht gibt und treibt, sondern gehet alles hinter sich.« Soweit Luther.




18.

Luther war ein patriotischer großer Mann. Als Lehrer der deutschen Nation, ja als Mitreformator des ganzen jetzt aufgeklärten Europa ist er längst anerkannt; auch Völker, die seine Religionssätze nicht annehmen, genießen seiner Reformation Früchte. Er griff den geistlichen Despotismus, der alles freie, gesunde Denken aufhebt oder untergräbt, als ein wahrer Herkules an und gab ganzen Völkern, und zwar zuerst in den schwersten, den geistlichen Dingen, den Gebrauch der Vernunft wieder. Die Macht seiner Sprache und seines biedern Geistes vereinte sich mit Wissenschaften, die von und mit ihm auflebten, vergesellschaftete sich mit den Bemühungen der besten Köpfe in allen Ständen, die zum Teil sehr verschieden von ihm dachten; so bildete sich zuerst ein populares literarisches Publikum in Deutschland und in den angrenzenden Ländern. Jetzt las, was sonst nie gelesen hatte; es lernte lesen, was sonst nicht lesen konnte. Schulen und Akademien wurden gestiftet, deutsche geistliche Lieder gesungen und in deutscher Sprache häufiger als sonst gepredigt. Das Volk bekam die Bibel, wenigstens den Katechismus, in die Hände; zahlreiche Sekten der Wiedertäufer und andrer Irrlehrer entstanden, deren viele, jede auf ihre Weise, zu gelehrter oder popularer Erörterung streitiger Materien, also auch zu Übung des Verstandes, zu Politur der Sprachen und des Geschmacks beitrug. Wäre man seinem Geist gefolgt und hätte in dieser Art freier Untersuchung auch Gegenstände beherzigt, die zunächst nicht in seiner Mönchs- und Kirchensphäre lagen, daß man nämlich auf sie die Grundsätze anwendete, nach denen er dachte und handelte! – Doch was[87] nützt es, vergangne Zeiten zu lehren oder zu tadeln? Lasset uns seine Denkart, selbst seine deutlichen Winke und die von ihm ebenso stark als naiv gesagten Wahrheiten für unsre Zeit nutzen und anwenden! Ich habe mir aus seinen Schriften eine ziemliche Anzahl Sprüche und Lehren angemerkt, in denen er (wie er sich selbst mehrmals nannte) sich wirklich als Ecclesiastes, als Prediger und Lehrer der deutschen Nation darstellt Neulich führte ich an. was er von der Regimentsveränderung dachte; lasset uns jetzt hören, was er vom Pöbel und von den Tyrannen hält.


Luthers Gedanken

vom Pöbel und von den Tyrannen


»Die Heiden, weil sie nicht erkannt haben, daß weltliches Regiment Gottes Ordnung sei (denn sie haben's für ein menschliches Glück und Tat gehalten), die haben frisch darein gegriffen und nicht allein billig, sondern auch löblich gehalten, unnütze, böse Obrigkeit abzusetzen, zu würgen und zu verjagen. Es ist aber dahinten eine böse Folge oder Exempel, daß, wo es gebilligt wird, Tyrannen zu morden oder zu verjagen, reißt es bald ein, und wird ein gemeiner Mutwille daraus, daß man Tyrannen schilt, die nicht Tyrannen sind, und sie ermordet, wie es dem Pöbel in Sinn kommt, als uns die römischen Historien wohl zeigen, da sie manchen feinen Kaiser töteten allein darum, daß er ihnen nicht gefiel oder nicht ihren Willen tät und ließ sie Herren sein. Man darf dem Pöbel nicht viel pfeifen, er tollet sonst gern; und ist billiger, demselben zehn Ellen abbrechen, denn eine Hand breit, ja eines Fingers breit einräumen in solchem Fall; dem der Pöbel hat und weiß keine Maße, und steckt in einem jeglichen mehr denn fünf Tyrannen. ›Die Rache ist mein,‹ sagt Gott, ›ich will vergelten!‹ Ein böser Tyrann ist leidlicher, dann ein böser Krieg; welches du mußt billigen, wenn du deine eigne Vernunft und Erfahrung fragst. Gott läßt einen[88] Buben regieren um des Volks Sünde willen. Gar fein können wir sehen, daß ein Bube regiert; aber das Will niemand sehen, daß er um des Volks Sünde willen regieret. Laß dich nicht irren, daß die Obrigkeit böse ist; es liegt ihr die Strafe und Unglück näher, denn du begehren möchtest.«

– »Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern sind zwei Dinge, so weit voneinander als Himmel und Erde. Ändern mag leichtlich geschehen, bessern ist mißlich und gefährlich. Warum? Es stehet nicht in unserm Willen und Vermögen, sondern allein in Gottes Willen und Hand. Der tolle Pöbel aber fragt nicht viel, wie es besser werde, sondern daß es nur anders werde; wenn es denn ärger wird, so will er abermals ein anderes haben. So kriegt er denn Hummeln für Fliegen und zuletzt Hornisse für Hummeln. Und wie die Frösche vorzeiten auch nicht mochten den Klotz zum Herren leiden kriegten sie den Storch dafür, der sie auf den Kopf hackte und fraß sie. Es ist ein verzweifelt, verflucht Ding um einen tollen Pöbel, welchen niemand sowohl regieren kann als die Tyrannen; dieselbigen sind der Knittel, dem Hunde an den Hals gebunden. Sollten sie bessererweise zu regieren sein, Gott würde auch andre Ordnung über sie gesetzt haben denn das Schwert und die Tyrannen. Das Schwert zeigt wohl an, was es für Kinder unter sich habe, nämlich eitel verzweifelte Buben, wo sie es tun dörften.«

– »Desgleichen will ich und kann auch nicht getröstet haben unsre Nephilim, die Tyrannen, Wuchrer und Schelmen unter dem Adel, die sich lassen dünken, Gott habe uns das Evangelium darum gegeben, daß sie mögen geizen, schinden und allen Mutwillen treiben, ihre Fürsten pochen, Land und Leute drücken und alles in allem sein wollen, das ihnen nicht befohlen, sondern verboten ist. Diese sind es, so dazu helfen, daß Gottes Zorn den Türken zum Drescher über uns, über sie selbst auch schicket, wo sie nicht Buße tun werden. Denn unmöglich ist's, daß Deutschland sollte stehenbleiben, auch unträglich und unleidlich, wo solche Tyrannei, Wucher, Geiz, Mutwille des Adels, Bürgers, Bauers und aller Stände so[89] sollten bleiben und zunehmen; es behielte zuletzt der arme Mann keine Rinde vom Brot im Hause und möchte lieber oder ja so gern unter den Türken sitzen als unter solchen Christen. Es stellen und zieren sich fast der mehrere Teil des Adels so lästerlich und so schändlich, daß sie damit dem gemeinen Mann böses Blut und argen Wahn machen, als sei der ganze Adel durch und durch kein Nutze.«

– »Woher werden Tyrannen? Weil sie ihr Vertrauen auf ihre Macht setzen. Alle Weltweisen haben geklagt über die Beschwerung, so im Regiment ist; und daher pflegen auch die Tyrannen zu kommen, welche, wenn sie sehen, daß ihre Ratschläge und ihr Tun, das alles sehr fein verordnet, keinen Fortgang oder Glück haben oder daß ihnen andre Widerstand tun, so werden sie gar toll und unsinnig und werden aus frommen Fürsten Tyrannen, die mit Gewalt und andrer Leute Schaden (welche sie meinen, daß sie ihnen im Wege liegen) sich unterstehen hindurchzubrechen und damit ihre Gewalt zu erhalten; denn es sind nicht tapfere Helden, die sich selbst zwingen könnten, sondern hangen und folgen ihren Begierden nach.«

– »Also werden auch zur Zeit des Antichrists etliche sein, welche so genau auf den Frommen Achtung geben werden, ob er etwas aus Unvorsichtigkeit rede oder tue, das sie entweder mit Gewalt oder mit List können verdrehen oder gewaltsamerweise auf so einen Verstand ziehen, der wider den heiligen Sitz der Bestie sei, damit sie alsobald nach Gewohnheit unsrer Papisten schreien können: ›Zum Feuer!‹, da doch derjenige, der es gesagt, entweder niemals daran gedacht oder es doch niemals hat öffentlich vorbringen wollen. Ja wenn auch der Fromme etwas mit aller möglichsten Vorsicht geredet hat und sich keiner Gefahr befürchten können, so wird doch dieses der Gottlosen Amt sein, die besten Reden zu verlästern und in den unschuldigen Silben Gift, wie die Spinne in den Rosen, zu finden. Dieses tun sie ihrem Bedünken nach nicht aus unweiser Absicht (sintemal sie dieses aus der Erfahrung als eine gewisse Sache haben, daß es um[90] ein tyrannisches Reich nicht gar zu sicher und glücklich stehe), wenn sie nur diejenige zugrunde richten, die entweder als Schuldige können überwiesen oder doch der fälschlichen Anklage können verdächtig gemacht werden, sondern man müsse auch allen andern zum Exempel und Schrecken diejenigen plagen, die sich nichts weniger befürchtet, als daß sie einmal in dergleichen Fallstricke und Netze verfallen Sollten. Daß also niemand ist, der sich nicht für einem Tyrannen zu fürchten habe, wenn er sich gleich auf sein gut Gewissen verlassen kann und sich keines bösen Anschlags wider den Tyrannen bewußt ist.« Soweit abermals Luther. Bewahre der Himmel uns vor solchen Zeiten! denn leider es ist nur ein Ding, Pöbelsinn und Tyrannei, mit zwei Namen genannt, wie die rechte und linke Seite.


19.

Treu und Glaube ist der Eckstein aller menschlichen Gesellschaft. Auf Treu und Glaube sind Freundschaft, Ehe, Handel und Wandel, Regierung und alle andre Verhältnisse zwischen Menschen und Menschen gegründet. Man untergrabe diesen Grund: alles wankt und stürzt, alles fällt auseinander.

Es gibt keine einseitigen Pflichten und einseitige Rechte. Pflichten und Rechte gehören zusammen wie die obere und untere, wie die rechte und linke Seite. Was hier konvex ist, ist dort konkav und bleibt dieselbe Sache, derselbe Körper.

Lasset Staaten, lasset Stände gegeneinander Treu und Glauben verlieren; wer seinen Pflichten entsagt, verliert die Rechte, die der Pflicht anklebten; er täuscht und wird getäuschet; er handelt einseitig, so wird man auch gegen ihn handeln.

Manche Vorzüge des Geistes und der Lebensweise hat man unsrer Nation absprechen wollen; das Lob, das man ihr, das man ihren braven Männern, ihren guten Regenten und Helden durch alle Zeiten zugestand, war die sogenannte deutsche[91] Biederkeit, Treu und Glaube. Ihre Worte galten mehr als gesiegelte Briefe und Eidschwüre; der Herr bauete auf seine Untertanen, Untertanen auf ihren Herren; wenigstens ist dieses der Schild, den die meisten alten Sprüche und Apophthegmen der Deutschen vor sich tragen.

Lasset uns hören, was zu seiner Zeit der alte Luther darüber saget:


Deutsche, Deutschland


Es ist zwar eine gemeine Klage in allen Ständen und Leben über falsche verlogne Leute, wie man spricht: ›Es ist keine Treu noch Glauben mehr.‹ Die alten Römer haben solch Laster an den Griechen getadelt, wie auch Cicero sagt: ›Ich gebe den Griechen, daß sie gelehrte, weise, kunstreiche, geschickte, beredte Leute sind; aber Treu und Glauben achtet das Volk nicht.‹ Wohlan, es hat auch solch untreu falsch Volk itzt lange her seine Strafe gelitten vom Türken, der sie auch bar überbezahlet. Welschland hat es nachher auch gelernet, daß sie dörfen zusagen und schwören, was man will, und darnach spotten, wenn sie es halten sollen. Darum haben sie auch ihre Plage redlich und müssen beide, Griechen und Walen, Exempel sein des andern Gebots Gottes, da er spricht: ›Er solle nicht ungestraft bleiben, wer Gottes Namen mißbraucht.‹ Uns Deutsche hat keine Tugend so hoch gerühmet und, wie ich glaube, bisher so hoch erhoben und erhalten, als daß man uns für treue, wahrhaftige, beständige Leute gehalten hat, die da haben Ja ja, Nein nein lassen sein, wie des viel Historien und Bücher Zeugen sind. Wir Deutsche haben noch ein Fünklein (Gott wolle es erhalten und aufblasen) von derselben alten Tugend, nämlich daß wir uns dennoch ein wenig schämen und nicht gerne Lügner heißen, nicht dazu lachen, wie die Walen und Griechen, oder einen Scherz daraus treiben. Und obwohl die welsche und griechische Unart einreißet, so ist dennoch gleichwohl noch das übrige bei uns, daß kein ernster, greulicher Scheltwort jemand reden oder hören kann, denn so er einen Lügner schilt oder gescholten wird. Und mich dünkt (soll es dünken heißen),[92] daß kein schädlicher Laster auf Erden sei, denn Lügen und Untreu beweisen, welches alle Gemeinschaft der Menschen zertrennet. Denn Lügen und Untreue zertrennet erstlich die Herzen; wenn die Herzen getrennet sind, so gehen die Hände auch voneinander; wenn die Hände voneinander sind, was kann man da tun oder schaffen? Darum ist auch in Welschland solch schändlich Trennen, Zwietracht und Unglück. Denn wo Treu und Glauben aufhöret, da muß das Regiment auch ein Ende haben. Gott helf uns Deutschen!«


20.

Ist Ihnen eine Ode Klopstocks zu Gesicht gekommen, die während des letzten nordamerikanischen Seekrieges erschien und auch schon damals in der Art, diesen fürchterlichen Krieg zu führen, Spuren einer zunehmenden Humanität bemerkte? Sie wird Ihnen angenehm sein, auch nur als ein poetischer Traum, als das Gemälde einer Glück weissagenden Phantasie, gewiß aber noch mehr als eine Prophetenstimme der Zukunft betrachtet:


Der jetzige Krieg

O Krieg, des schöneren Lorbeers wert,

Der unter dem schwellenden Segel, des Windes Fluge

Jetzo geführt wird, du Krieg der edleren Helden,

Dich singe die Leier, die keine Kriege sang.


Ein hoher Genius der Menschlichkeit

Begeistert dich!

Du bist die Morgenröte

Eines nahenden großen Tags.


Europas Bildung erhebt sich mit Adlerschwunge,

Durch weise Zögrung des Blutvergusses,[93]

Durch weisere Meidung,

Durch göttliche Schonung


In Stunden, da, den Bruder tötend,

Der erhabene Mensch zum Ungeheuer werden muß:

Denn die Flotten schweben umher auf dem Ozean

Und suchen sich und finden sich nicht.


Und wenn sie verwehet oder verströmt sich endlich erblicken,

So kämpfen sie länger als je

Den vielentscheidenden Kampf

Um des Windes Beistand.


Und muß es denn zuletzt doch auch beginnen,

Das Treffen, so schlagen sie fern. Fürchterlich brüllet

Ihr Donner; aber er rollt

Seine Tod, in das Meer.


Kein Schiff wird erobert, und keins, zu belastet

Von der hineinrauschenden Woge, versinkt;

Keins flammt in die Höh und treibet,

Scheiter, umher über gesunknen Leichen.


Der Flotten und der Schiffe Gebieter

Schlagen so, ohne gegebenes Wort.

Was brauchen sie der Worte? Die tieferdenkenden

Männer, sie handeln, verstehn sich durch ihr Handeln.


Erdekönigin, Europa, dich hebt bis hinauf

Zu dem hohen Ziele deiner Bildung Adlerschwung,

Wenn unter deinen edleren Kriegern

Diese heilige Schonung Sitte wird.


O denn ist, was jetzo beginnt, der Morgenröten schönste:

Denn sie verkündiget

Einen seligen, nie noch von Menschen erlebten Tag,

Der Jahrhunderte strahlt
[94]

Auf uns, die noch nicht wußten, der Krieg sei

Das zischendste, tiefste Brandmal der Menschheit.

Mit welcher Hoheit Blick wird, wen die Heitre

Des goldnen Tages labt, auf uns herabsehn!


Bist du wahrer Zukunft Weissagerin,

Leier, gewesen? Hat der Geist, der dich umschwebt,

Göttermenschen, oder hat er

Vernichtungsscheue Gottesleugner gesehn?


Was Klopstock beim Seekriege bemerkt, ließe es sich prosaisch nicht auch beim Landkriege, noch mehr aber beim Handel, bei jeder Art des Gewerbs und Fleißes, selbst in der Art der Erhebung öffentlicher Gefälle und Lasten, bei Behandlung stehender Heere zu Friedenszeiten (diesem entsetzlichen Druck der Menschheit), bei Einrichtung öffentlicher Gebäude, insonderheit der Gefängnisse und Krankenhäuser, bei Behandlung der Krankheiten und einer der ärgsten Krankheiten unsres Weltteils, der Rechtshändel und rechtlichen Strafen, noch klärer endlich in Behandlung der Wissenschaften, Einrichtungen der Polizei, öffentlichen Religion, Erziehung und des ganzen häuslichen Lebens bemerken? Durch Not gezwungen, wider unsern Willen müssen wir einmal, Gott gebe bald, vernünftigere, billigere Menschen werden.




21.

Verzeihen Sie, meine Freunde, daß ich Ihrem hoffnungsvollen Glauben an den Geist der Zeiten nur furchtsam und zweifelnd beitrete. Denn sobald man dem Wort seine magische Gestalt nimmt, was bedeutet es mehr als die herrschenden Meinungen, Sitten und Gewohnheiten unsres Zeitalters; und sollten diese eines so hohen Lobes wert sein? Sollten sie so große und sichre Hoffnungen für die Zukunft gewähren?

Mir ist wohl bekannt, was für schönklingende Worte seit[95] geraumer Zeit in Schriften und Gesellschaften im Umlaufe sind; sehen Sie aber auf die Grundsätze der Menschen, die in Handlungen zur täglichen Lebensweise übergehen, was finden Sie da? Alle wahre, tätige Gesinnungen zum Besten des Ganzen sind ihrer Natur nach mit Aufopferung verbunden; und wer opfert zu unsrer Zeit gern auf? Versuchen Sie's einmal und bringen die kleinste Sache, die Mühe, Geld, Entsagung von Privatvorteilen, am meisten von der Eitelkeit fodert, zustande, und Sie werden gewahr, daß Sie ein saitenloses Klavier spielen. Die lautsten Patrioten sind oft die engherzigsten Egoisten; die wärmsten Verteidiger des Guten sind nicht selten die kältesten Seelen, Adler in Worten, in Handlungen Lasttiere der Erde.

Hoffen Sie viel, sehr viel von aufgeklärten, guten Fürsten; das Unmögliche aber hoffen Sie nie. Auch sie sind Menschen, und nach ihrer gewöhnlichen Erziehung ist's oft zu bewundern, daß sie es noch blieben. Sie tragen die Fesseln ihres Standes; die engste Fessel ist ihre eigne von Kindheit auf gewonnene Denkart. Selten gibt es einen Friederich, der sich über das Gewohnte seiner Zeit früh und doch mit Weisheit hinaussetzt; selten! Zudem bedürfen sie als Regenten gnugsame Kenntnis der Dinge, Überlegung mit andern, zur Ausführung Werkzeuge. Wenn sie diese nun nicht finden, wenn diese sie hintergehen und täuschen, wenn sie endlich aus Mißtrauen zu diesen unschicklicherweise selbst zur Sache greifen, so wird die Geschichte Josephs II. daraus, der mit den reinsten, notwendigsten, besten Absichten von der Welt im Hafen selbst scheiterte. Ach, es muß ein Gott vom Himmel kommen oder außerordentlich gute und große, das ist wahrhaftig göttliche Menschen senden, oder die Verbesserung der Welt auf dem gewöhnlichen Wege der Zeit geht sehr langsam.

Lassen Sie mich die herrschenden Gesinnungen andrer Stände und Innungen nicht durchgehn. Jede Zunft hat ihren Zunftgeist; der fesselt, zumal in unsern Zeiten, auch den besten Gemütern Herzen und Hände. Man fühlt die Wände des alten Systems erschüttert und fürchtet den Fall des ganzen[96] Gebäudes; um so mißtrauischer hält man sich also an jeden Balken, an jeden Span des Balkens und glaubt, mit ihm schon gehe alles verloren. Das alte Schwert ist verrostet; desto ängstlicher putzt man Griff und Scheide.

Ans Volk wollen wir eher mit Bedauren und Großmut als mit Stolz und Zuversicht denken. Jahrhundertelang ist's unerzogen geblieben; daß es erzogen werde, kann unser einziger Wunsch sein, nicht daß es herrsche, nicht daß es gebiete und lehre. Die Besserung muß vom Haupt kommen, nicht von Füßen und Händen; ich kenne nichts Abscheulicheres als eines wahnsinnigen Volks Herrschaft.

Lassen Sie sich auch die Stimmen unsrer Philosophen nicht bis zur Täuschung bezaubern; die wärmsten sind nicht immer die hellesten Köpfe. Von ihren Wünschen, vom Anschein der guten Sache eingenommen, vom tätigen Leben und von der wahren Gestalt der Dinge entfernt, gefallen sie sich in Spekulationen oder, als der zarteste, empfindlichste Teil des Publikums, trösten sie sich über das, was nicht ist, mit Träumen, was sein sollte, also auch sein wird. Der kranke, zarte, fast nur in der Einbildung lebende Rousseau hat er mit seinen stark ausgedrückten, rege gefühlten Visionen mehr Nutzen oder mehr Schaden gebracht? Ich wage es nicht zu entscheiden.

Wie ich fürchte, strebt der Geist unsrer Zeiten vorzüglich zur Auflösung hin. Dem einen Teil der Welt sollen alle Bande aufhören; alles soll leicht und lustig werden, weil wir des Alten satt, träge und erschlafft sind. Der andre Teil der Menschen, der sich im Besitz, leider auch oft mit Härte und Übermut, fühlet, verachtet die Beschwerden der andern und scheint die Trommeten vor Jericho zu erwarten. Ein nicht erfreulicher Zustand. Ich kenne keine schlimmere Jahrszeit als die, in welcher alle Elemente gegeneinander zu sein scheinen, wenn Kälte, Regen und Sturmwinde toben.

Selten hat eine Verfassung, welche es auch sei, vom Grundgesetz ihrer Entstehung sich so weit abbiegen können, daß sie ohne Sturz ihre Basis hätte verlassen mögen. Die Staaten[97] Europas sind auf ein System kriegerischer und religiöser Eroberung gegründet; die Pfeiler dieses Systems wanken; die Zeit nagt an ihnen; stürzen sie, so, fürchte ich, geht unter den Trümmern des Schlechteren auch das Beste mit unter. Vergönnen Sie mir also, daß ich vom Geist unsrer Zeiten hinwegsehe und mich noch etwas weiterhin an einige Gedanken des alten Philosophen zu Sanssouci halte, der auch die Welt kannte.


Fortsetzung einiger Gedanken Friedrichs II.


»Ich bin durch ein Land gereiset, wo die Natur gewiß nichts gespart hat, den Boden fruchtbar, die Gegend lachend zu machen; aber es scheint, daß sie sich an Bildung der Pflanzen, Hecken und Flüsse, die die Gegend verschönen, erschöpft und nicht Kraft gnug gehabt habe, unser Geschlecht daselbst auch so vollkommen zu machen. Ich habe fast ganz Westfalen auf unsrer Reise gesehen; und gewiß, wenn Gott seinen göttlichen Hauch dem Menschen verlieh, so muß diese Nation davon wenig bekommen haben, daß man fast fragen möchte, ob diese Menschengestalten denkende Menschen sind oder nicht?« (1738)


»Ihr habt recht, daß die, die am konsequentesten handeln sollten, d.i. die Königreiche regieren und mit einem Wort über das Glück und Unglück der Völker entscheiden, oft die sind, die sich am meisten dem Ungefähr überlassen. Das macht, diese Könige, Fürsten, Minister sind Menschen wie andre; der ganze Unterschied, den das Glück zwischen sie und Leute von geringerem Range gesetzt hat, ist, daß sie wichtigere Geschäfte betreiben. Ein Strahl Wasser, der drei Fuß, ein andrer, der hundert Fuß hoch steigt, sind beides Wasserstrahlen, nur mit verschiedner Kraft emporgetrieben. Eine Königin von England, mit einem weiblichen Hofe umgeben, wird in ihrer Regierung immer etwas Weibliches zeigen, Phantasien und Launen.« (1738)[98]

»Nichts zeigt so sehr die Verschiedenheit unsrer von den alten Zeiten als die Art, wie das Altertum große Männer behandelte und wie wir sie behandeln. Große Gesinnungen, Erhabenheit der Seele, Festigkeit gelten jetzt für chimärische Tugenden. ›Er will den Römer machen‹, sagt man, ›davon ist man zurückgekommen, das ist außer der Zeit.‹ Desto schlimmer! Die Römer, die sich dieser Tugenden anmaßten, waren große Männer; warum sollten wir sie nicht nachahmen in dem, was Lob verdienet?« (1738)


»Unter Hunderten, die zu denken glauben, ist kaum einer, der selbst denkt. Die andern haben nur zwei oder drei Ideen, die sich in ihrem Hirn umherdrehen, ohne neue Formen zu erhalten; und auch dieser eine unter den Hunderten denkt vielleicht, was ein andrer gedacht hat; sein Genie, seine Einbildungskraft ist nicht schaffend. Ein schöpferischer Geist vervielfältiget Ideen, faßt zwischen Gegenständen Beziehungen auf, die der unaufmerksame Mensch kaum bemerket. Stärke des gesunden Verstandes ist, nach meiner Meinung, der wesentliche Teil eines Mannes von Genie. Mitteilen läßt sich dies kostbare und seltne Talent nicht; die Natur scheint damit zu geizen; um es einmal zu verleihen, nimmt sie sich ein Jahrhundert Frist.«


»Der Vizegott der sieben Berge hat Avignon wiederbekommen; ein solcher Zug von Freigebigkeit ist selten bei den Regenten. Ganganelli wird darüber in die Faust lachen und bei sich selbst sagen: ›Auch die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen!‹ Und das geschieht im philosophischen, im achtzehnten Jahrhundert! Wohlan nun, ihr Herren Philosophen, bestrebt euch, bestreitet den Irrtum, häuft Gründe auf Gründe, um ihn in Staub zu legen; wie werdet ihr es verhindern, daß nicht viele Schwache über wenige Starke den Sieg davontragen sollten. Werfet die Vorurteile zur Tür hinaus, sie kommen zum Fenster hinein. Ein Andächtler an der Spitze des Staats, ein Ehrsüchtiger, den sein Interesse mit dem[99] Interesse der Kirche bindet, wirft an einem Tage um, was zwanzig Jahre eurer Arbeiten kaum vollführt haben.« (1771)


»Ich wünsche euch zum neuen Minister des allerchristlichsten Königes Glück. Man sagt, es sei ein Mann von Geist; wenn er es ist, wird er weder die Imbezillität noch die Schwachheit haben, Avignon dem Papst zurückzugeben. Man kann ein guter Katholik sein und doch dem Statthalter Gottes seine zeitlichen Besitztümer nehmen, die ihn zu sehr von seinen geistlichen Pflichten zerstreuen und ihn oft in Gefahr seiner Seligkeit setzen. Wie fruchtbar auch unser Jahrhundert an Philosophen sein möge, die unerschrocken, wirksam und eifrig Wahrheiten verbreiten, so muß man sich doch nicht verwundern, daß der Aberglaube auch sein Werk forttreibet. Seine Wurzeln haben alles umschlungen; er ist ein Kind der Furcht, der Schwachheit und der Unwissenheit; diese Dreieinigkeit herrscht in gemeinen Seelen so allgewaltig als eine andre in den Schulen der Theologen. Welche Widersprüche vereinigen sich nicht im Gemüt des Menschen! Laß einen Schelm sich vornehmen, Menschen zu betrügen; er wird Glaubende finden. Der Mensch ist zum Irren gemacht; Irrtum kommt von selbst in seinen Geist; einige Wahrheiten entdeckt er nur durch unendliche Mühe.« (1771)


»Die Welt wird von Gevattern und Gevatterinnen regiert; manchmal, wenn man gnug Data hat, kann man die Zukunft erraten, oft betrügt man sich aber.«


»Als ein echter Schüler der Enzyklopädisten predige ich den allgemeinen Frieden, wie wenn ich ein Apostel des Abts St. Pierre wäre, und vielleicht werde ich nicht mehr ausrichten als er. Ich sehe, daß es den Menschen leichter wird, Böses als Gutes zu tun; ich sehe, daß eine unglückliche Verkettung der Umstände uns wider unsern Willen dahinreißt und mit unsern Projekten spielt wie der Sturmwind in dem fliegenden Sande. Indessen geht der ordentliche Gang der Dinge fort.« (1773)[100]

»Ich habe den Artikel Krieg in den ›Enzyklopädischen Fragen‹ gelesen. Wie? ein Fürst, der seine Truppen in blaues Tuch kleidet und ihnen Hüte mit weißen Schnüren gibt, der sie sich kehren läßt rechtsum und linksum, kann er sie ehrenhalber einen Feldzug tun lassen, ohne den Ehrentitel eines Anführers von Taugenichten zu verdienen, die nur aus Not gedungene Henker werden, um das ehrbare Handwerk der Straßenräuber zu treiben? Die Philosophen müssen Missionare auf Bekehrungen ausschicken, um unvermerkt die Staaten von den großen Armeen zu entladen, die sie in den Abgrund stürzen, daß nach und nach keiner übrig sei, der sich schlage. Kein Landesherr, kein Volk wird sodann die unglückliche Leidenschaft zu kriegen mehr haben, deren Folgen so verderblich sind; jedermann wird eine Vernunft äußern, so vollkommen als eine geometrische Demonstration. Ich bedaure sehr, daß mein Alter mich eines so schönen Anblicks beraubet, von dem ich nicht einmal die Morgenröte erleben werde. Beklagen wird man mich und meine Zeitgenossen, daß wir in einem Jahrhundert der Finsternis lebten, an dessen Ende zuerst die Dämmerung der vervollkommeten Vernunft anbrach. Alles hängt ja von der Zeit ab, in der ein Mensch auf die Welt tritt.« (1773)


»Gegen das viertägige Fieber und gegen den Krieg deklamieren ist gleich vergebliche Arbeit. Die Regierungen lassen die Philosophen schreien und gehen ihren Weg; das Fieber nimmt davon auch keine Kunde. Es hat Kriege gegeben, solange die Welt ist, und wird Kriege geben, wenn wir nicht mehr hier sind. Ein Arzt muß das Fieber wegschaffen, nicht darüber satirisieren.«


»Ludwig XV. ist nicht mehr. Es war ein guter Mann, der nur einen Fehler hatte, daß er König War. Lasset seinen Schatten in Friede. Man darf empfindlich sein über das Unrecht, das man leidet, man muß aber auch zu verzeihen wissen. Die finstre, gallichte Leidenschaft der Rache ziemt[101] nicht für Menschen, die so kurz existieren. Wir müssen wechselseitig einander unsre Torheiten vergessen und uns auf den Genuß des Glücks einschränken, das unsre Natur uns gönnet.«


»Wenn Turenne und Louvois die Pfalz in die Asche legten, wenn der Marschall von Belle-Isle im letzten Kriege den Vorschlag tat, ganz Hessen zu verwüsten, so sind solche Ausschweifungen ein ewiger Vorwurf der französischen Nation, die, so artig sie ist, sich zuweilen Grausamkeiten erlaubt hat, die nur für die ärgsten Barbaren gehörten. Ludwig XV. indessen verwarf den Vorschlag des Marschall Belle-Isle und zeigte sich hierin größer als sein Vorfahr.«


»Beim Leben der Könige ist schwerer über sie zu urteilen als nach ihrem Tode; ein einziger Umstand verändert oft die Sache so, daß man billigen muß, was man vorher verdammte. Ludwig XIV. ward bei seinen Lebzeiten getadelt, daß er den Sukzessionskrieg unternahm; jetzt läßt man ihm Gerechtigkeit widerfahren, und jeder Unparteiische gestehet ein, daß er niedrig gehandelt hätte, wenn er das Testament des Königes von Spanien nicht hätte annehmen wollen. Jeder Mensch macht Fehler, also auch die Fürsten; der wahre Weise, der Stoiker und der vollkommene Fürst haben nicht existiert und werden nicht existieren. Fürsten wie Karl der Kühne, Ludwig XI., Alexander VI., Ludwig Sforza sind die Geißeln ihrer Völker und der Menschheit; solche Fürsten aber existieren jetzt nicht in unserm Europa. Wir haben schwache Regenten, nicht aber Ungeheuer, wie im 14. und 15. Jahrhundert. Schwäche ist ein unverbesserlicher Fehler; man muß sich deshalb an die Natur, nicht an die Person halten. Ich gebe zu, sie tun aus Schwachheit Böses; in Erbreichen ist's aber einmal ein notwendiges Übel, daß auch solche Wesen an der Spitze der Nation stehen denn in keiner Familie folgen große Männer in einer Reihe unverrückt aufeinander. Glaubt mir! menschliche Einrichtungen werden nie zu einem gewissen[102] Grade der Vollkommenheit kommen; man muß sich mit dem Beinahe gnügen und gegen unabänderliche Mißbräuche nicht gewaltsam deklamieren.«


»Ich wünsche der französischen Nation Glück über die Wahl, die Ludwig XVI. an Ministern gemacht hat. ›Die Völker‹, hat ein Alter gesagt, ›werden nicht glücklich sein, als wenn Weise ihre Könige sein werden.‹ Die französischen Minister, wenn sie gleich nicht Könige sind, gelten doch für dieselben an Ansehen und Gewalt. Euer König hat die besten Gesinnungen von der Welt, er will das Gute; nichts ist für ihn mehr zu fürchten als die Pest der Höfe, die ihn mit der Zeit umkehre und verderbe. Er ist jung; er kennt die Listen und Feinheiten nicht, dadurch die Hofleute ihn in ihr Interesse zu ziehen, ihn für ihren Haß oder ihre Ehrsucht einzunehmen suchen werden. Von Kindheit an ist er in der Schule des Fanatismus und der Imbezillität gewesen; dies muß fürchten machen, daß er sich nicht getraue, selbst zu untersuchen, was man ihn verehren gelehret hat.«


»Was ihr von unsern deutschen Bischöfen sagt, ist nur zu wahr; sie werden fett von den Zehnten aus Zion. Aber im Heiligen Römischen Reich machen das Herkommen, die Goldne Bulle und dergleichen alte Torheiten die eingeführten Mißbräuche ehrwürdig. Man siehet sie, zuckt die Schultern, und die Sachen gehen ihren Gang fort. Den Fanatismus zu vermindern, muß man an die Bischöfe noch nicht rühren; aber die Mönche, insonderheit die Bettelmönche, muß man vermindern. Damit wird das Volk kühler und wird den Mächtigen überlassen, die Bischöfe allgemach zum Besten des Staats zu disponieren. Dies ist der gangbare Weg. Allmählich und ohn alles Geräusch das Gebäude der Unvernunft untergraben heißt es selbst fallen machen. In der Lage, in welcher der Papst ist, muß er Bullen und Breve geben, wie seine geliebten Söhne sie irgend verlangen; diese Macht, auf den idealischen Kredit des Glaubens gebauet, mindert sich,[103] wie sich der Glaube mindert, und wenn an der Spitze der Nationen nur einige Minister sind, die sich über die gemeinen Vorurteile erheben, so macht der Heil. Vater banquerout. Schon sind seine Wechsel und Papiere zur Hälfte im Mißkredit. Ohne Zweifel wird die Nachwelt den Vorteil genießen, frei denken zu können und keine Auftritte mehr zu sehen, wie sie Toulouse und Amiens zeigten«


»Ich kenne weder Turgot noch Malesherbes; wenn sie wahre Philosophen sind, sind sie an ihren Platz. Weder Vorurteil noch Leidenschaft gilt in den Geschäften; die einzige erlaubte Leidenschaft ist fürs gemeine Beste. So dachte Mark Aurel, und so soll jeder Regent denken, der seine Pflicht erfüllen will.«


»Die Regierung in Pennsylvanien, wie sie jetzt eingerichtet ist, gefällt Euch; sie ist nur ein Jahrhundert alt; laßt sie noch fünf oder sechs Jahrhunderte fortdauren, und ihr kennet sie nicht mehr. So wahr ist es, daß Unbestand eines der beständigsten Gesetze der Welt sei. Laß Philosophen die weiseste Regierung gründen, sie wird dasselbe Schicksal haben, und sind die Philosophen vor Irrtum immer gesichert gewesen? Sie haben ihn selbst oft auf die Bahn gebracht, wie des Aristoteles substantielle Formen, der Galimathias des Plato, Descartes' Wirbel und Leibniz' Monaden zeigen. Was ließe sich nicht von den Paradoxen sagen, mit denen Rousseau (wenn man ihn unter die Philosophen rechnen kann) Europa beschenkt hat; und doch hat er manchen guten Vätern das Hirn so weit verrückt, daß sie ihren Kindern die Erziehung seines Emils geben. Aus allen diesen Beispielen folgt, daß, ohngeachtet der guten Absichten, ohngeachtet aller angewandten Mühe, die Menschen in keiner Sache zur Vollkommenheit gelangen werden.«


»Ich wünsche euch zu eurer guten Meinung von der Menschheit Glück; ich, der ich aus Pflicht meines Standes diese Gattung Geschöpfe auf zwei Beinen ohne Federn sehr[104] gut kenne, muß euch voraussagen, daß alle Philosophen der Welt das menschliche Geschlecht von dem Aberglauben nicht frei machen werden, an dem es hängt. Die Natur hat dieses Ingrediens in die Komposition der ganzen Gattung gemischt; eine Furcht, eine Schwäche, eine Leichtgläubigkeit, eine Übereilung des Urteils ziehet die Menschen durch einen natürlichen Hang in das System des Wunderbaren; und es gibt nur wenig philosophische Seelen, die stark genug gebauet sind, um die tiefen Wurzeln der Vorurteile, die die Erziehung in sie schlug, zu zerstören, Diesen hat sein gesunder Verstand von einigen Volksirrtümern losgemacht, er empörte sich gegen Ungereimtheiten; jetzt kommt der Tod ihm näher, und aus Furcht fällt er in den Aberglauben zurück; er stirbt als Kapuziner. Bei jedem hängt seine Art zu denken von einer guten oder übeln Verdauung ab. Es ist also nicht gnug, Menschen den Trug zu entnehmen; man müßte ihnen auch eigne Stärke des Geistes einhauchen können, oder Empfindlichkeit und der Schrecken des Todes werden auch über die stärksten, nach aller Methode vorgetragenen Vernunftlehren triumphieren. Ihr glaubt, weil Quaker und Socinianer eine einfachere Religion festgestellet haben, man diese noch mehr simplifizieren und auf solchen Grund einen neuen Glauben aufführen könnte; ich komme aber auf mein Voriges zurück und bin überzeugt, daß, wenn diese Herde Neuglaubender angewachsen wäre, sie in kurzem einen neuen Aberglauben in die Welt stellen würde, es sei denn, daß sie nur aus Seelen, frei von Furcht und Schwachheit, bestünde. Und diese sind nicht die gemeinsten. Das glaube ich indes, daß die Stimme der Vernunft, wenn sie sich gegen den Fanatismus immer stärker erhebt, die zukünftige Generation duldsamer, als die jetzige ist, machen kann; und auch das ist schon viel gewonnen.«


22.

[105] Gern geben wir Ihnen den größesten Teil Ihrer Zweifel, die Sie mit dem Ansehen des großen Königs unterstützt haben, zu; aber was folgt daraus? Sollen wir, wenn wir auch Ursache hätten, an der höchsten Vollendung des edelsten Werks zu zweifeln, dies Werk deswegen aufgeben und an der guten Sache verzweifeln? Das wollte der große König nicht; er blieb seiner Pflicht getreu und ließ die Hand nicht vom Steuer, wenn er gleich wußte, daß er sein Schiff nicht ewig regieren könnte. Zu dieser Tätigkeit munterte er seine Freunde auf, hielt seine Untertanen an; sie war ihm die Seele des Lebens. Auch sahe er wohl, daß die Zeit fortrückte. »Es scheinet (sagt er im Jahr 1777), daß Europa jetzt im Zuge ist, sich über alle Gegenstände, die auf das Wohl der Menschheit am meisten Einfluß haben, aufzuklären, und man muß Euch das Zeugnis geben, daß Ihr mehr als einer unsrer Zeitgenossen dazu beigetragen habt, es mit der Fackel der Philosophie zu erleuchten.« Wenn er auf seinem Standpunkt, dazu im höchsten Alter, nicht in jede brausende Hoffnung der »Enzyklopädie« einstimmen konnte, so war dies nicht nur ihm verzeihlich, sondern sehr vernünftig. Der Menschheit zuviel und zuwenig zutrauen wollen, beides ist schädlich.

Daß es zu unsrer Zeit edle, gute, große, selbst aufopfernde Seelen gebe, diesen Glauben wird mir niemand rauben; denn ich habe ihn durch Erfahrung bewähret. Daß selbst diese Großmut aber, wie alles andre, das Gewand der Zeit tragen müsse, kann uns nicht unerwartet sein. Weil wir so gar viel bedürfen, sind wir von gar viel Fesseln gebunden; daß diese drückenden Fesseln aber wenigstens der Großmut loser gemacht werden möchten, wer wünschet dies mehr als die echte Humanität selbst? Fast kann sie ihres Wunsches auch nicht ungewiß sein, da bei dem immer wachsenden unersättlichen Bedürfnis die Natur der Dinge selbst einen neuen Anfang herbeizuführen scheinet. Wenn jeder einzelne fühlt, er könne[106] in seinem jetzigen Verhältnis der leidenden Menschheit nicht zu Hülfe kommen, wie er sollte, so werden, so müssen sich diese Verhältnisse mit der Zeit ändern. Die Natur selbst arbeitet daran, und keine menschliche Kraft kann es hindern. Ist das Salz, das den Körper würzen soll, abgeschmackt, wozu ist es nach dem Evangelium nütz, als daß man es hinauswerfe und lasse es die Leute zertreten?

Auch darüber wollen wir uns also nicht wundern, wenn gewisse alte Aste und Zweige unserer Verfassung nicht mehr so viel Kultur erhalten als ehmals. Man fühlt, daß sie dürre Aste sind, und wünscht junge Sprossen an ihre Stelle. Lasset uns die beklagen, die als fruchtbare Zweige auf einem dürren Ast stehen; lasset uns die tadeln, die den Ast verdorren ließen oder ihm seinen Saft entzogen; die Achtung und Meinung der Zeit aber kann sich nur nach dem, was da ist, nicht, was es ehemals war oder künftig sein wird, gestalten. Jedes der Menschheit erwiesene Unrecht rächet aufs fürchterlichste sich selbst; und wehe, wem der Glaube oder Nichtglaube hieran mit Spott und Verachtung in die Hand kommt.

Stände veralten; mithin verjüngen sich auch Stände Es ist ein und dasselbe Gesetz der Natur, das diese Seite des Rades hinunter-, jene emporkehrt. Neuen Most, sagt das Evangelium, fasse man in neue Schläuche, so werden sie beide erhalten.

Was hilft es, gegen die Vorurteile der Erziehung Klage erheben? Man beßre die Erziehung, so fallen die Klagen weg. Philosophie aber kann dies nicht allein tun; sie ist nur der linke Arm, Regierung ist der rechte Arm der Menschheit. Nur mit beiden läßt sich das große Werk, und alsdann sehr leicht, vollführen.

Was nützt es, über ungeschaffene oder halbgeschaffene Menschen zu klagen, deren Ausbildung ja uns allein überlassen ward? Dem trägen Erdkloß hauche Odem des Lebens ein; er wird sich munter bewegen und dir fröhlich danken.

Ist's gnug, auch in der Regierung der Völker Übel zu bedauren, die wir heilen, denen wir zuvorkommen können?[107]

Lasset Stände, lasset Menschen in allen Ämtern und Bedienungen human und gerecht, groß, gut und billig denken; der Regent kann nicht anders, als mit und gleich ihnen denken. Denn nur aus einzelnen Teilen besteht das Ganze; verbessern sich die Teile und halten zusammen, das Ganze wird gut, ehe man's merket.

Tadeln Sie mir also nicht meine Philosophen, auch bei ihren kränklichen Klagen oder bei ihren überspannten Wünschen. Ist nicht der kränkliche Teil des Körpers der Witterung am meisten empfindlich? Der Hygrometer muß zart, das Quecksilber muß in einer gläsernen Röhre verschlossen sein, wenn sie ihr Amt tun sollen. Andernteils muß, wer andre ermuntern, entflammen will, selbst warm und munter sein. Der kältere Beobachter oder Geschäftsmann wird ihn schon zurechtweisen.

Welch ein Unglücksprophet sind Sie aber, daß Sie das barbarische Kriegs- und Eroberungssystem für die unerschütterliche Grundfeste Europas halten? Das hat der große König nicht gemeint, so manchen Einfall er sich zumal in jüngern Jahren über den guten Abt St. Pierre erlaubte. Wäre diese traurige Behauptung wahr, was könnte man anders sagen als: zum Wohl der Menschheit gehe das unglückliche Europa unter! Hat es nicht lange gnug sich selbst und die Welt beunruhigt? Triefen nicht alle Länder vom Blut derer, die es erschlug, vom Schweiß derer, die es als Sklaven quälte? Auf den Tafeln der Natur stehet das große Gesetz der Billigkeit und Wiedervergeltung geschrieben: »Man mache gut, was man böse gemacht hat, oder büße durch eigne Verbrechen.« Ich hoffe das erste. Europa wird gutmachen, was es im Taumel der Leidenschaft, unter den Hüllen des Aberglaubens und der Barbarei, unter dem Joch der Vorurteile und des Despotismus böse gemacht hat, und die ganze Menschheit wird sich seiner kläreren Vernunft, seiner gesetzteren Billigkeit, seines richtigern Kalküls freuen.

Denken Sie sich eine Gattung Tiere, die nicht Bedürfnisses, sondern des Vergnügens, der Kunst, der Raserei eines einzigen ihrer Art wegen sich selbst aufriebe; was würden Sie[108] vom Urheber der Natur sagen? Sich selbst zu regieren, einander zur Glückseligkeit zu helfen, dazu ist das menschliche Geschlecht gemacht, nicht, einander zu sieden, zu braten und künstlich zu morden.

Der große Friederich nannte die Kriege »Fieberanfälle der Menschheit«. Dem Fieber ruft man einen Arzt; auch dies Fieber wird seinen Arzt finden, der seine Anfälle wenigstens lindre und mindre. Denn das Menschengeschlecht dauert fort; was eine Zeit nicht tun konnte, kann die andre. Plus ultra, ist der Spruch der Menschheit, plus ultra! Kein Herkules hat an ihre letzten Säulen gereicht; niemand wird sie erreichen.


23.

Ist's Bragas Lied im Sternenklang,

Ist's, Tochter Dvals17, dein Weihgesang,

Was rings die alte Nacht verjüngt

Und mich, ach! meinen Staub durchdringt? –

– Kann dies die Stätte sein, wo wir

Ins Tal des Schweigens flohn? –

Wie reizend, wie bezaubernd lacht

Die heitre Gegend, wie voll sanfter Pracht!

In schönrer Majestät, in reiferm Strahle

Glänzt diese Sonne. Milder fließt vom Tale

Mir fremder Blüten Frühlingsduft,

Und Balsamgeister steigen durch die Luft. –

– – Ha! nicht also in festlichem Gewand

Grüßt ich dich einst, mein mütterliches Land.

Unfreundlich, ungeschmückt und rauh und wüste

In trübem Dunkel schauerte die Küste.

Kein Himmel leuchtete mild durch den Hain,

Kein Tag der Ähren lud zu Freuden ein.

In Höhlen lauschte Graun und Meuterei,

Und was am Ufer scholl, war Kriegsgeschrei. –
[109]

In sanfter, ätherischer Musik schallten diese Worte um mein Ohr, indes mein schlummerndes Auge im Traum ein sehr erfreuliches Gesicht sahe. An der Hand eines ehrwürdigen Barden erschien ein altdeutscher Druide. Der Druide suchte vergebens seinen längst zerstörten heiligen Hain, seine zertrümmerte Opferstätte. Der Barde suchte die verlornen Fußtapfen seiner Helden; er sah neue Gesetze, neue Anstalten für Ruhe, Ordnung, Recht und Wohlstand der Menschen; Gärten und Fluren lachten um ihn her; neue Lieder erklangen, nicht blutige Heldenlieder. Da ergriff er seine längst verstummte Harfe; er sang die Töne, deren einzelne Laute ich eben aus der Erinnerung angeführt habe, und das Gesicht zog vorüber.18


Nur die zauberische Gegend blieb vor meinem Auge; ich wachte und träumte. Was ich sah, war die jetzige Welt und die Zukunft; ich glaubte (so mischen wir im Traum die Dinge untereinander!) mit physisch-morali schen Geist von der unmittelbarsten Gegenwart der Dinge auf ihre Folgen zu schließen, oder vielmehr nicht zu schließen, weil in der wachenden Erscheinung Gegenwart und Zukunft nur eins war. Es war die Blume in voller Gestalt; es war der Baum mit allen seinen Früchten. Ach, sprach ich zu mir selbst, Ephemeren, die wir glauben, mit uns gehe Himmel und Erde unter! Blinde, die so selten gewahr werden, woran sie selbst arbeiten und was sich vor ihnen entwickelt. Die Gegenwart ist schwanger von der Zukunft; das Schicksal der Nachwelt ist in unsrer Hand wir haben den Faden geerbt, wir weben ihn und spinnen ihn weiter.

Wollen Sie, m. Freunde, etwas aus diesem meinem wachenden Traume wissen? Hier sind einige Züge, von denen ich Ihnen künftig genaue Rechenschaft zu geben hoffe19; denn, wie Sie wissen, Träume werden nur aus Erfahrungen, und[110] das Grundgewebe dieser Hoffnungen sind sehr überdachte Gedanken.

Ich stellte mir den Zustand der künftigen Literatur aus dem Zusammenhange der jetzigen und der vergangenen vor; ich sah die Morgenröte eines schönen werdenden Tages. Was erfindsame, fleißige Geister unsrer Zeit und der Vorzeit Nützliches versuchten, begannen, taten, sah ich von der Nachwelt gebraucht und übertroffen. Sie berichtigte Erfindungen, auf Anlagen bauete sie; sie schuf sich gleichsam neue Organe; die ganze Ansicht der Dinge war verändert.

Unsre Bemühungen, die Alten in ihrem Geist zu lesen, waren nichts weniger als verkannt; ich hörte den Namen einiger meiner Freunde mit Liebe und Hochachtung nennen. Man war aber weiter gekommen; man dachte und schrieb wie die Alten. Zeiten, denen ähnlich, in denen die edelsten Griechen und Römer schrieben, waren erschienen; man schrieb, was man sah und tat, und schrieb merkwürdige Dinge. Der Feldherr und Bürger, der Philosoph und Staatsmann trennten sich nicht voneinander.

Zeiten waren gekommen, in denen nicht Strafen allein, sondern auch öffentliche Ehren und Belohnungen waren. Da lebten Künstler, da sangen Dichter. Es war Griechenland und war es auch nicht; denn drittehalb Jahrtausende waren nicht umsonst verflossen in dem immer aufeinanderbauenden Tempel der Zeiten. Mein Herz erhob sich, da ich aus meinen Tagen einzelne Laute meiner Bekannten und Freunde hörte.

Ich sah ein Theater, wie ich's zu unsrer Zeit nicht gesehen hatte, dem griechischen sehr ähnlich. Sogar der Chor erschien auf demselben wieder, als Zeuge einer allgemeinen Teilnehmung an dem, was verhandelt ward, unserer Zeit fremde.

Ich bemerkte den Zustand der Philosophie; Männer, die mir teuer gewesen waren, erblickte ich als Gesetzgeber und Einrichter der Nachwelt. Meine ganze Seele war wie in den Tagen meiner Jugend.[111]

Gesetze endlich, Regierungen, der Zustand der Menschheit waren so, und so leicht verändert, daß ich mich wunderte wie wir das alles gewußt, gekannt und nicht angewandt haben konnten. Auch hier nannte man mir heilige, verehrte Namen meiner und der Vorzeit, die ich geliebt hatte. Allenthalben, auch im Tempel der Religion, verehrte man eine Göttin, aber nicht mit Worten, sondern in Taten und Seele, die Humanität. Indem auch ich sie anbeten wollte, riß mich ein neues Traumgesicht fort.


Durch Sturm und Wellen, über Felsen und Wüsten kam ich zum Sitze des alten Menschenfreundes Prometheus. Er war nicht mehr an seinen Felsen geschmiedet; kein Adler zehrete mehr an seiner nimmerverzehrten Leber. Gewalt und Stärke, die ihn einst angeschmiedet hatten, dieneten ihm; die vom Stachel der Liebe umhergetriebene Jo saß in menschlich-göttlicher Gestalt ruhig zu seiner Seite. Der alte Ocean auf seinem geflügelten Roß und die Oceaniden auf ihrem Wagen, alle menschenfreundlichen Nymphen und Pflegerinnen der Erde waren um ihn versammlet, und er sprach:

»Meine Vorsicht konnte mich nicht trügen, denn ich wußte, was ich den Menschen gegeben hatte mit meinem Geschenk. Unsterblichkeit ist nicht für sie auf Erden; aber mit dem Licht, das ich ihnen vom Olympus holte, hatten sie alles. Träge Geschöpfe, daß sie so lang in der Dämmerung gingen; endlich haben sie das Mittel gefunden, das in ihnen selbst lag, die Vernunft. Sie gibt das Maß und die Waage, sich selbst zu regieren, Leidenschaften, auch die stärksten und härtesten, zu überwinden und allein meiner Mutter Themis zu gehorchen. Lange litt ich mit ihren Leiden; darum war ich an den Felsen geschmiedet, die Zeit und ein edler Göttersohn, der Sohn meines ärgsten Feindes, haben mich befreiet.« Das Traumbild verschwand, und ich erwachte.
[112]

Multa renascentur quae iam cecidere, cadentque

Quae nunc sunt in honore –

Alter erit tum Tiphys, et altera quae vehat Argo

Delectos heroas: erunt etiam altera bella,

Atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles.


24.

Ich fürchte, Ihr armer Prometheus wird lange noch die Fesseln tragen, die ihm Gewalt und Stärke anlegten. Um indessen nicht alte Zweifel zu wiederholen, lege ich Ihnen nur noch eine, aber eine Hauptfrage vor:

Wäre die ganze Idee einer fortgehenden oder fortschreitenden Vervollkommung des Menschengeschlechts nicht ein bloßer Traum? Prometheus wußte seinen armen Kranken kein anderes Heilmittel zu geben als die täuschende, blinde Hoffnung.

Welche andre Gattung der Geschöpfe läßt sich vervollkommen? Und für wen? für sich oder für andre? Welchen Beruf also, welche Sicherheit darüber hätte der einzige Mensch für sich?

Und wo steht sein Ziel der Vollkommenheit? Die Linie dahin, ist sie eine Asymptote? eine Ellipse? eine Zykloide? oder welch eine andre Kurve?

Das menschliche Geschlecht besteht nur in einzelnen Menschen. Werden wir vollkommner geboren als unsre Vorfahren? vollkommner erzogen? Und wenn dies auch wäre, der[113] einzelne Mensch wächst, kulminiert und geht rückwärts. Ein andrer tritt an seine Stelle, wächst, kulminiert und geht rückwärts. Er nimmt, was er etwa erworben hatte, ins Grab; der andre hat neue Mühe im Erwerben und ebenden Ausgang.

Was heißt Vervollkommung? Heißt's Vermehrung der Kräfte? Diese bleiben in dem den Menschen von der Natur bestimmten Maß und Kreise. Der Mensch, sooft man ihn auch einen Gott oder einen Engel nennete, kann nie ein Gott oder ein Engel werden.

Oder wäre Vervollkommung eine Vermehrung von Werkzeugen und Mitteln zum Gebrauch menschlicher Kräfte? So kommt es immer doch darauf an, ob sie gut gebraucht werden; denn in den Händen des Bösewichts sind vermehrte Mittel vermehrte Übel.

Also veränderte sich die Frage dahin: Wird das menschliche Geschlecht (nicht kultivierter, sondern) moralisch besser? Besser in Neigungen? in Grundsätzen? in Anwendung dieser Grundsätze zu Ordnung der Neigungen? zu Bezwingung der Leidenschaften? zu mehrerer und schwererer Tugendübung? Getraueten Sie sich, dieses zu behaupten?

Und woher behaupteten Sie's? Aus der Natur der Sache? aus dem Wesen der Menschheit? aus der Geschichte und Erfahrung?

Ziehen Sie die Zusammenordnung der Menschen auf unserm Erdball klimatisch, lokal, politisch, und wie Sie ferner wollen, in Erwägung; bemerken Sie den Wechsel der Dinge in Reichen, in Staaten, in Familien, in Ständen; allenthalben werden Sie zwar Macht, Reichtum, Trieb, Leidenschaft blinde Neigung herrschend finden, aber auch erleuchtete Vernunft, Weisheit, Güte? und zwar nach dem Fortgange der Zeiten mit wachsendem Lichte?

Chronologisch und genealogisch hängt freilich das Menschengeschlecht zusammen oder rücket fort, aber auch dynamisch? rationell? moralisch?

Und verlöre unser Geschlecht dabei, wenn es nicht fortrückte? Der einzelne Mensch nicht; denn der lebt auf seiner[114] Stelle und kommt nicht wieder. Das Ganze auch nicht; dies lebt nur in einzelnen Teilen. Die wachsende Vollkommenheit des Ganzen wäre ein Ideal, das keinem zugut kommt, das nur in einem alles übersehenden Geist existieren könnte, etwa im Geist des Schöpfers, und was wäre für diesen ein solches Spielwerk?

Vergönnen Sie also, daß ich mit Lessing den ganzen Traum von wachsender Vollkommenheit unseres Geschlechts für einen heilsamen Trug annehme. Der Mensch muß nach etwas Höherem streben, damit er nicht unter sich sinke. Er muß vorwärts getrieben werden, damit er nur von der Stelle komme und nicht in Trägheit ermatte. Der Wahn einer Perfektibilität und der Trieb dazu scheinet ihm nur als Verwahrungsmittel gegen die Untätigkeit und Verschlimmerung gegeben. Er geht wie in der Mühle das blinde Pferd oder wie die kletternde Ziege.


–Oh man, proud man,

drest in a little brief authority,

most ignorant of what he is most assur'd,

plays such fantastic tricks before high heav'n

as make an angel weep.


Shakesp.
[115]


25.

Alle Ihre Fragen über den Fortgang unsres Geschlechts, die eigentlich ein Buch erforderten, beantwortet, wie mich dünkt, ein einziges Wort: Humanität, Menschheit. Wäre die Frage, ob der Mensch mehr als Mensch, ein Über-, ein Außermensch werden könne und solle, so wäre jede Zeile zuviel die man deshalb schriebe. Nun aber, da nur von den Gesetzen seiner Natur, vom unauslöschlichen Charakter seiner Art und Gattung die Rede ist, so erlauben Sie, daß ich sogar c.


Über den Charakter der Menschheit

1.


Vollkommenheit einer Sache kann nichts sein, als daß das Ding sei, was es sein soll und kann.


2.


Vollkommenheit eines einzelnen Menschen ist also, daß er im Kontinuum seiner Existenz er selbst sei und werde daß er die Kräfte brauche, die die Natur ihm als Stammgut gegeben hat, daß er damit für sich und andre wuchere.


3.


Erhaltung, Leben und Gesundheit ist der Grund dieser Kräfte; was diesen Grund schwächet oder wegnimmt, was Menschen hinopfert oder verstümmelt, es habe Namen, wie es wolle, ist unmenschlich.


4.


Mit dem Leben des Menschen fängt seine Erziehung an; denn Kräfte und Glieder bringt er zwar auf die Welt, aber den Gebrauch dieser Kräfte und Glieder, ihre Anwendung,[116] ihre Entwicklung muß er lernen. Ein Zustand der Gesellschaft also, der die Erziehung vernachlässigt oder auf falsche Wege lenkt oder diese falschen Wege begünstigt oder endlich die Erziehung der Menschen schwer und unmöglich macht, ist insofern ein unmenschlicher Zustand. Er beraubt sich selbst seiner Glieder und des Besten, das an ihnen ist, des Gebrauchs ihrer Kräfte. Wozu hatten sich Menschen vereinigt, als daß sie dadurch vollkommenere, bessere, glücklichere Menschen würden?


5.


Unförmliche also oder schiefausgebildete Menschen zeigen mit ihrer traurigen Existenz nichts weiter, als daß sie in einer unglücklichen Gesellschaft von Kindheit auf lebten; denn Mensch zu werden, dazu bringt jeder Anlage gnug mit sich.


6.


Sich allein kann kein Mensch leben, wenn er auch wollte. Die Fertigkeiten, die er sich erwirbt, die Tugenden oder Laster, die er ausübt, kommen in einem kleinern oder größeren Kreise andern zu Leid oder zur Freude.


7.


Die gegenseitig wohltätigste Einwirkung eines Menschen auf den andern jedem Individuum zu verschaffen und zu erleichtern, nur dies kann der Zweck aller menschlicher Vereinigung sein. Was ihn stört, hindert oder aufhebt, ist unmenschlich. Lebe der Mensch kurz oder lange, in diesem oder jenem Stande, er soll seine Existenz genießen und das Beste davon andern mitteilen; dazu soll ihm die Gesellschaft, zu der er sich vereinigt hat, helfen.


[117] 8.


Gehet ein Mensch von hinnen, so nimmt er nichts als das Bewußtsein mit sich, seiner Pflicht, Mensch zu sein, mehr oder minder ein Gnüge getan zu haben. Alles andre bleibt hinter ihm, den Menschen. Der Gebrauch seiner Fähigkeiten, alle Zinsen des Kapitals seiner Kräfte, die das ihm geliehene Stammgut oft hoch übersteigen, fallen seinem Geschlecht anheim.


9.


An seine Stelle treten junge, rüstige Menschen, die mit diesen Gütern forthandeln; sie treten ab, und es kommen andre an ihre Stelle. Menschen sterben, aber die Menschheit perenniert unsterblich. Ihr Hauptgut, der Gebrauch ihrer Kräfte, die Ausbildung ihrer Fähigkeiten, ist ein gemeines, bleibendes Gut und muß natürlicherweise im fortgehenden Gebrauch fortwachsen.


10.


Durch Übung vermehren sich die Kräfte, nicht nur bei einzelnen, sondern ungeheuer mehr bei vielen nach- und miteinander. Die Menschen schaffen sich immer mehrere und bessere Werkzeuge; sie lernen sich selbst einander immer mehr und besser als Werkzeuge gebrauchen. Die physische Gewalt der Menschheit nimmt also zu: der Ball des Fortzutreibenden wird größer; die Maschinen, die es forttreiben sollen, werden ausgearbeiteter, künstlicher, geschickter, feiner.


11.


Denn die Natur des Menschen ist Kunst. Alles, wozu eine Anlage in seinem Dasein ist, kann und muß mit der Zeit Kunst werden.


[118] 12.


Alle Gegenstände, die in seinem Reich liegen (und dies ist so groß als die Erde), laden ihn dazu ein; sie können und werden von ihm, nicht ihrem Wesen nach, sondern nur zu seinem Gebrauch erforscht, gekannt, angewandt werden. Niemand ist, der ihm hierin Grenzen setzen könne, selbst der Tod nicht; denn das Menschengeschlecht verjünget sich mit immer neuen Ansichten der Dinge, mit immer jungen Kräften.


13.


Unendlich sind die Verbindungen, in welche die Gegenstände der Natur gebracht werden können; der Geist der Erfindungen zum Gebrauch derselben ist also unbeschränkt und fortschreitend. Eine Erfindung weckt die andre auf; eine Tätigkeit erweckt die andre. Oft sind mit einer Entdeckung tausend andre und zehntausend auf sie gegründete, neue Tätigkeiten gegeben.


14.


Nur stelle man sich die Linie dieses Fortganges nicht gerade, noch einförmig, sondern nach allen Richtungen, in allen möglichen Wendungen und Winkeln vor. Weder die Asymptote noch die Ellipse und Zykloide mögen den Lauf der Natur uns vormalen. Jetzt fallen die Menschen begierig über einen Gegenstand her; jetzt verlassen sie ihn mitten im Werk, entweder seiner müde oder weil ein andrer, neuerer Gegenstand sie zu sich hinreißt. Wenn dieser ihnen alt geworden ist, werden sie zu jenem zurückkehren, oder dieser wird sie gar auf jenen zurückleiten. Denn für den Menschen ist alles in der Natur verbunden, eben weil der Mensch nur Mensch ist und allein mit seinen Organen die Natur siehet und gebrauchet.


[119] 15.


Hieraus entspringt ein Wettkampf menschlicher Kräfte, der immer vermehrt werden muß, je mehr die Sphäre des Erkenntnisses und der Übung zunimmt. Elemente und Nationen kommen in Verbindung, die sich sonst nicht zu kennen schienen; je härter sie in den Kampf geraten, desto mehr reiben sich ihre Seiten allmählich gegeneinander ab, und es entstehen endlich gemeinschaftliche Produktionen mehrerer Völker.


16.


Ein Konflikt aller Völker unsrer Erde ist gar wohl zu gedenken; der Grund dazu ist sogar schon geleget.


17.


Daß zu diesen Operationen die Natur viel Zeit, mancherlei Umwandlungen bedarf, ist nicht zu verwundern; ihr ist keine Zeit zu lang, keine Bewegung zu verflochten. Alles, was geschehen kann und soll, mag nur in aller Zeit wie im ganzen Raum der Dinge zustande gebracht werden; was heute nicht wird, weil es nicht geschehen kann, erfolgt morgen.


18.


Der Mensch ist zwar das erste, aber nicht das einzige Geschöpf der Erde; er beherrscht die Welt, ist aber nicht das Universum. Also stehen ihm oft die Elemente der Natur entgegen, daher er mit ihnen kämpfet. Das Feuer zerstört seine Werke; Überschwemmungen bedecken sein Land; Stürme zertrümmern seine Schiffe, und Krankheiten morden sein Geschlecht. Alles dies ist ihm in den Weg gelegt, damit er's überwinde.[120]


19.


Er hat dazu die Waffen in sich. Seine Klugheit hat Tiere bezwungen und gebraucht sie zu seiner Absicht; seine Vorsicht setzt dem Feuer Grenzen und zwingt den Sturm, ihm zu dienen. Den Fluten setzt er Wälle entgegen und geht auf ihren Wogen daher; den Krankheiten und dem verheerenden Tode selbst sucht und weiß er zu steuren. Zu seinen besten Gütern ist der Mensch durch Unfälle gelangt, und tausend Entdeckungen wären ihm verborgen geblieben, hätte sie die Not nicht erfunden. Sie ist das Gewicht an der Uhr, das alle Räder derselben treibet.


20.


Ein Gleiches ist's mit den Stürmen in unsrer Brust, den Leidenschaften der Menschen. Die Natur hat die Charaktere unseres Geschlechts so verschieden gemacht, als diese irgend nur sein konnten; denn alles Innere soll in der Menschheit herausgekehrt, alle ihre Kräfte sollen entwickelt werden.


21.


Wie es unter den Tieren zerstörende und erhaltende Gattungen gibt, so unter den Menschen. Nur unter jenen und diesen sind die zerstörenden Leidenschaften die wenigern; sie können und müssen von den erhaltenden Neigungen unsrer Natur eingeschränkt und bezwungen, zwar nicht ausgetilgt, aber unter eine Regel gebracht werden.


22.


Diese Regel ist Vernunft, bei Handlungen Billigkeit und Güte. Eine vernunftlose, blinde Macht ist zuletzt immer eine ohnmächtige Macht; entweder zerstört sie sich selbst oder muß am Ende dem Verstande dienen.


[121] 23.


Desgleichen ist der wahre Verstand immer auch mit Billigkeit und Güte verbunden; sie führet auf ihn, er führet auf sie. Verstand und Güte sind die beiden Pole, um deren Achse sich die Kugel der Humanität beweget.


24.


Wo sie einander entgegengesetzt scheinen, da ist's mit einer oder dem andern nicht richtig; eben diese Divergenz aber macht Fehler sichtbar und bringt den Kalkül des Interesse unsres Geschlechts immer mehr zur Richtigkeit und Bestimmtheit. Jeder feinere Fehler gibt eine neue, höhere Regel der reinen allumfassenden Güte und Wahrheit.


25.


Alle Laster und Fehler unsres Geschlechts müssen also dem Ganzen endlich zum Besten gereichen. Alles Elend, das aus Vorurteilen, Trägheit und Unwissenheit entspringt, kann den Menschen seine Sphäre nur mehr kennen lehren; alle Ausschweifungen rechts und links stoßen ihn am Ende auf seinen Mittelpunkt zurück.


26.


Je unwilliger, hartnäckiger, träger das Menschengeschlecht ist, desto mehr tut es sich selbst Schaden; diesen Schaden muß es tragen, büßen und entgelten; desto später kommt's zum Ziele.


27.


Dies Ziel ausschließend jenseit des Grabes setzen, ist dem Menschengeschlecht nicht förderlich, sondern schädlich. Dort kann nur wachsen, was hier gepflanzt ist, und einem Menschen[122] sein hiesiges Dasein rauben, um ihn mit einem andern außer unsrer Welt zu belohnen, heißt, den Menschen um sein Dasein betrügen.


28.


Ja, dem ganzen menschlichen Geschlecht, das also verführt wird, seinen Endpunkt der Wirkung verrücken, heißt, ihm den Stachel seiner Wirksamkeit aus der Hand drehn und es im Schwindel erhalten.


29.


Je reiner eine Religion war, desto mehr mußte und wollte sie die Humanität befördern. Dies ist der Prüfstein selbst der Mythologie der verschiednen Religionen.


30.


Die Religion Christi, die er selbst hatte, lehrte und übte, war die Humanität selbst. Nichts anders als sie; sie aber auch im weitsten Inbegriff, in der reinsten Quelle, in der wirksamsten Anwendung. Christus kannte für sich keinen edleren Namen, als daß er sich den Menschensohn, d.i. einen Menschen, nannte.


31.


Je besser ein Staat ist, desto angelegentlicher und glücklicher wird in ihm die Humanität gepfleget, je inhumaner, desto unglücklicher und ärger. Dies geht durch alle Glieder und Verbindungen desselben von der Hütte an bis zum Throne.


32.


Der Politik ist der Mensch ein Mittel; der Moral ist er Zweck. Beide Wissenschaften müssen eins werden, oder sie sind schädlich widereinander. Alle dabei erscheinende Disparaten indes müssen die Menschen belehren, damit sie wenigstens durch eigenen Schaden klug werden.


[123] 33.


Wie jeden aufmerksamen einzelnen Menschen das Gesetz der Natur zur Humanität führet – seine rauhen Ecken werden ihm abgestoßen, er muß sich überwinden, andern nachgeben und seine Kräfte zum Besten andrer gebrauchen lernen –, so wirken die verschiedenen Charaktere und Sinnesarten zum Wohl des größeren Ganzen. Jeder fühlt die Übel der Welt nach seiner eigenen Lage; er hat also die Pflicht auf sich, sich ihrer von dieser Seite anzunehmen, dem Mangelhaften, Schwachen, Gedruckten an dem Teil zu Hülfe zu kommen, da es ihm sein Verstand und sein Herz gebietet. Gelingt's, so hat er dabei in ihm selbst die eigenste Freude; gelingt's jetzt und ihm nicht, so wird's zu anderer Zeit einem andern gelingen. Er aber hat getan, was er tun sollte und konnte.


34.


Ist der Staat das, was er sein soll, das Auge der allgemeinen Vernunft, das Ohr und Herz der allgemeinen Billigkeit und Güte, so wird er jede dieser Stimmen hören und die Tätigkeit der Menschen nach ihren verschiednen Neigungen, Empfindbarkeiten, Schwächen und Bedürfnissen aufwecken und ermuntern.


35.


Es ist nur ein Bau, der fortgeführt werden soll, der simpelste, größeste; er erstrecket sich über alle Jahrhunderte und Nationen; wie physisch, so ist auch moralisch und politisch die Menschheit im ewigen Fortgange und Streben.


36.


Die Perfektibilität ist also keine Täuschung; sie ist Mittel und Endzweck zu Ausbildung alles dessen, was der Charakter unsres Geschlechts, Humanität, verlanget und gewähret.[124]

Hebet eure Augen auf und sehet. Allenthalben ist die Saat gesäet; hier verweset und keimt, dort wächset sie und reift zu einer neuen Aussaat. Dort liegt sie unter Schnee und Eise; getrost! das Eis schmilzt, der Schnee wärmt und decket die Saat. Kein Übel, das der Menschheit begegnet, kann und soll ihr anders als ersprießlich werden. Es läge ja selbst an ihr, wenn es ihr nicht ersprießlich würde; denn auch Laster, Fehler und Schwachheiten der Menschen stehen als Naturbegebenheiten unter Regeln, und sind oder sie können berechnet werden. Das ist mein Credo. Speremus atque agamus.


26.

Neulich sprach jemand von einer Gesellschaft, von der er sonderbare Dinge behauptete. Er sagte, »ihre wahre Taten sein so groß, so weit aussehend, das ganze Jahrhunderte vergehen könnten, ehe man sagen dürfte: ›Das haben sie getan!‹ Gleichwohl hätten sie alles Gute getan, was noch in der Welt ist (›Merke wohl‹, sagte er, ›in der Welt!‹), und führen fort, an alle dem Guten zu arbeiten, was noch in der Welt werden wird (›Merke wohl‹, sagte er, ›in der Welt!‹). Und, setzte er hinzu, die wahren Taten dieser Gesellschaft zielen dahin, um größtenteils alles, was man gemeiniglich gute Taten nennt, entbehrlich zu machen.«

Wer war begieriger über dieses Rätsel als ich? Und hier ist ungefähr unser Gespräch darüber.




Gespräch über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft

Er: Wofür hältst du die bürgerliche Gesellschaft der Menschen?

Ich: Für etwas sehr Gutes.[125]

Er: Ohnstreitig. Aber hältst du sie für Zweck oder für Mittel? Glaubst du, daß die Menschen für die Staaten erschaffen worden oder daß die Staaten für die Menschen sind?

Ich: Jenes scheinen einige behaupten zu wollen, dieses aber mag wohl das Wahrere sein.

Er: So denke ich auch. Die Staaten vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sichrer genießen könne. Das Totale der einzelnen Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staats. Außer dieser gibt es gar keine. Jede andre Glückseligkeit des Staats, bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nichts. –

Ich: Gut also! Das bürgerliche Leben des Menschen, alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit. Was weiter?

Er: Nichts als Mittel, und Mittel menschlicher Erfindung, ob ich gleich nicht leugnen will, daß die Natur alles so eingerichtet, daß der Mensch sehr bald auf diese Erfindung geraten müssen. Nun sage mir, wenn die Staatsverfassungen Mittel, Mittel menschlicher Erfindungen sind, sollten sie allein von dem Schicksale menschlicher Mittel ausgenommen sein?

Ich: Was nennest du Schicksale menschlicher Mittel?

Er: Das, was unzertrennlich mit menschlichen Mitteln verbunden ist, daß sie nicht unfehlbar sind. Daß sie ihrer Absicht nicht allein nicht entsprechen, sondern auch wohl gerade das Gegenteil davon bewirken.

Ich: Ich glaube dich zu verstehen. Aber man weiß ja wohl, woher es kommt, wenn so viel einzelne Menschen durch die Staatsverfassung an ihrer Glückseligkeit nichts gewinnen. Der Staatsverfassungen sind viele; eine ist also besser als die andre; manche ist sehr fehlerhaft, mit ihrer Absicht offenbar streitend; und die beste soll vielleicht noch erfunden werden.

Er: Das ungerechnet! Setze die beste Staatsverfassung, die[126] sich nur denken läßt, schon erfunden; setze, daß alle Menschen in der ganzen Welt diese beste Staatsverfassung angenommen haben: meinst du nicht, daß auch dann noch, selbst aus dieser besten Staatsverfassung, Dinge entspringen müssen, welche der menschlichen Glückseligkeit höchst nachteilig sind und wovon der Mensch in dem Stande der Natur schlechterdings nicht gewußt hätte?

Ich: Es würde dir schwer werden, eins von jenen nachteiligen Dingen zu nennen –

Er: Die auch aus der besten Staatsverfassung notwendig entspringen müssen? Oh, zehne für eines.

Ich: Nur eines erst.

Er: Wir nehmen also die beste Staatsverfassung für erfunden an; wir nehmen an, daß alle Menschen in der Welt in dieser besten Staatsverfassung leben; würden deswegen alle Menschen in der Welt nur einen Staat ausmachen?

Ich: Wohl schwerlich. Ein so ungeheurer Staat würde keiner Verwaltung fähig sein. Er müßte sich also in mehrere kleine Staaten verteilen, die alle nach den nämlichen Gesetzen verwaltet würden.

Er: Und jeder dieser kleineren Staaten hätte sein eignes Interesse? Jedes Glied desselben hätte das Interesse seines Staats?

Ich: Wie anders?

Er: Diese verschiedenen Interesse würden öfters miteinander in Kollision kommen, so wie jetzt; und zwei Glieder aus zwei verschiedenen Staaten würden einander ebensowenig mit unbefangenem Gemüt begegnen können, als jetzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer begegnet.

Ich: Sehr wahrscheinlich.

Er: Das ist: wenn jetzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer begegnet, so begegnet nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen Menschen, die ihrer verschiedenen Tendenz sich bewußt sind, welches sie[127] gegeneinander kalt, zurückhaltend, mißtrauisch macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das geringste miteinander zu schaffen und zu teilen haben.

Ich: Das ist leider wahr.

Er: Nun so ist es denn auch wahr, daß das Mittel, welches die Menschen vereiniget, um sie durch diese Vereinigung ihres Glücks zu versichern, die Menschen zugleich trennet. Tritt einen Schritt weiter. Viele von den kleinern Staaten würden ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz verschiedene Bedürfnisse und Befriedigungen, folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz verschiedene Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen haben?

Ich: Das ist ein gewaltiger Schritt.

Er: Hätten sie das, so würden sie auch, sie möchten heißen, wie sie wollten, sich untereinander nicht anders verhalten, als sich unsre Christen und Juden und Türken von jeher untereinander verhalten haben. Nicht als bloße Menschen gegen bloße Menschen, sondern als solche Menschen gegen solche Menschen, die sich einen gewissen geistigen Vorzug gegeneinander streitig machen und darauf Rechte gründen, die dem natürlichen Menschen nimmermehr einfallen könnten.

Ich: Allenfalls dächte ich doch, so wie du angenommen hast, daß alle Staaten einerlei Verfassung hätten, daß sie auch wohl alle einerlei Religion haben könnten. Ja, ich begreife nicht, wie einerlei Staatsverfassung ohne einerlei Religion auch nur möglich ist.

Er: Ich ebensowenig. Auch nahm ich jenes nur an, um dir deine Ausflucht abzuschneiden. Eines ist zuverlässig ebenso unmöglich als das andre. Ein Staat, mehrere Staaten. Mehrere Staaten, mehrere Staatsverfassungen. Mehrere Staatsverfassungen, mehrere Religionen. – Nun sieh da das zweite Unheil, welches die bürgerliche Gesellschaft ganz ihrer Absicht entgegen verursacht. Sie kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie zu trennen, nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern[128] durch sie hinzuziehen. Laß mich noch das dritte hinzufügen. Nicht gnug, daß die bürgerliche Gesellschaft die Menschen in verschiedene Völker und Religionen teilet und trennet. Diese Trennung in wenige große Teile, deren jeder für sich ein Ganzes wäre, wäre doch immer noch besser als gar kein Ganzes. – Nein, die bürgerliche Gesellschaft setzt ihre Trennung auch in jedem dieser Teile gleichsam bis ins unendliche fort.

Ich: Wieso?

Er: Oder meinst du, daß ein Staat sich ohne Verschiedenheit von Ständen denken läßt? Er sei gut oder schlecht, der Vollkommenheit mehr oder weniger nahe, ohnmöglich können alle Glieder unter sich das nämliche Verhältnis haben. – Wenn sie auch alle an der Gesetzgebung Anteil hätten, so können sie doch nicht gleichen Anteil haben, wenigstens nicht gleich unmittelbaren Anteil. Es wird also vornehmere und geringere Glieder geben. – Wenn anfangs auch alle Besitzungen des Staats unter sie gleich verteilet worden, so kann diese gleiche Verteilung doch keine zwei Menschenalter bestehen. Es wird bald reichere und ärmere Glieder geben.

Ich: Das versteht sich.

Er: Nun überlege, wieviel Übel es in der Welt wohl gibt, die in dieser Verschiedenheit der Stände ihren Grund nicht hätten.

Ich: Wenn ich dir doch widersprechen könnte! Aber was willst du damit? Mir das bürgerliche Leben dadurch verleiden? Mich wünschen machen, daß den Menschen der Gedanke, sich in Staaten zu vereinigen, nie möge gekommen sein?

Er: Verkennest du mich so weit? Wenn die bürgerliche Gesellschaft auch nur das Gute hätte, daß allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet werden kann, ich würde sie auch bei weit größern Übeln noch segnen.

Ich: Wer des Feuers genießen will, muß sich den Rauch gefallen lassen.

Er: Allerdings. Aber weil der Rauch bei dem Feuer unvermeidlich[129] ist, durfte man darum keinen Rauchfang erfinden? Und der den Rauchfang erfand, war der darum ein Feind des Feuers? Sieh, dahin wollte ich.

Ich: Wohin? Ich verstehe dich nicht.

Er: Das Gleichnis war doch sehr passend. – Wenn die Menschen nicht anders in Staaten vereinigt werden konnten als durch jene Trennungen, werden sie darum gut, jene Trennungen?

Ich: Das wohl nicht.

Er: Werden sie darum heilig, jene Trennungen?

Ich: Wie heilig?

Er: Daß es verboten sein sollte, Hand an sie zu legen.

Ich: In Absicht...

Er: In Absicht, sie nicht größer einreißen zu lassen, als die Notwendigkeit erfordert. In Absicht, ihre Folgen so unschädlich zu machen, als möglich.

Ich: Wie könnte das verboten sein?

Er: Aber geboten kann es doch auch nicht sein, durch bürgerliche Gesetze nicht geboten. Denn bürgerliche Gesetze erstrecken sich nie über die Grenzen ihres Staats. Und dieses würde nun gerade außer den Grenzen aller und jeder Staaten liegen. – Folglich kann es nur ein opus super erogatum sein, und es wäre bloß zu wünschen, daß sich die Weisesten und Besten eines jeden Staats diesem operi super erogato freiwillig unterzögen.

Ich: Recht sehr zu wünschen.

Er: Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhöret.

Ich: Recht sehr zu wünschen!

Er: Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, die dem Vorurteil ihrer angebornen Religion nicht unterlägen, nicht glaubten, daß alles notwendig[130] gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen.

Ich: Recht sehr zu wünschen!

Er: Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt, in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herabläßt und der Geringe sich dreist erhebet.

Ich: Recht sehr zu wünschen!

Er: Und wenn er erfüllt wäre, dieser Wunsch? Nicht bloß hier und da, nicht bloß dann und wann. Wie wenn es dergleichen Männer jetzt überall gäbe? zu allen Zeiten nun ferner geben müßte?

Ich: Wollte Gott!

Er: Und diese Männer nicht in einer unwirksamen Zerstreuung lebten? nicht immer in einer unsichtbaren Kirche?

Ich: Schöner Traum!

Er: Daß ich es kurz mache. Und diese Männer die *** wären? (Hier nannte er mir den Namen der Gesellschaft, doch ohne mich im mindesten zu ihr einzuladen. Er, der aufrichtigste Mann, gestand selbst, daß die genannten Absichten zu ihrem Geschäft nur so mit gehörten, daß »dies Geschäft nichts Willkürliches, nichts Entbehrliches, sondern etwas Notwendiges sei, darauf man durch eignes Nachdenken ebensowohl verfallen könne, als man durch andre darauf geführt wird, daß Worte, Zeichen und Gebräuche, daß die ganze Aufnahme in diese Gesellschaft nichts Notwendiges, nichts Wesentliches sei«; und durch diese Winke geleitet, war ich auf sicherm Wege Es begann zwischen uns ein zweites Gespräch, ohngefähr folgendermaßen:)

Ich: Wenn es auch außer deiner Gesellschaft eine andre, freiere Gesellschaft gäbe, die das große Geschäft, wovon wir sprachen, nicht als Nebensache, sondern als Hauptzweck, nicht verschlossen, sondern vor aller Welt, nicht in Gebräuchen und Sinnbildern, sondern in klaren Worten und Taten, nicht in zwei oder drei Nationen, sondern unter allen aufgeklärten[131] Völkern der Erde triebe: nicht wahr, so entließest du mir die Aufnahme in deine kleine Gesellschaft?

Er: Herzlich gern. Das Nitrum muß ja wohl in der Luft sein, ehe es sich als Salpeter an den Wänden einer dunkeln Kammer ansetzt.

Ich: Zumal wenn ich in dieser Gesellschaft, die zu allen Zeiten existiert hat und existieren wird, längst gelebt und in ihr mein Vaterland, meine innigste Freunde gefunden hätte?

Er: Desto besser.

Ich: Und in meiner Gesellschaft nichts von dem zu befürchten wäre, was ich in der deinigen immer noch besorgen muß: wo nicht Trug für Wahrheit, so wenigstens pädagogische Anleitung, Pedanterie des Herkommens, Aufhalt?

Er: Ganz nach meinem Sinn; aber nenne mir deine Gesellschaft.

Ich: Die Gesellschaft aller denkenden Menschen in allen Welt teilen.

Er: Groß genug ist sie, aber leider eine zerstreute, unsichtbare Kirche.

Ich: Sie ist gesammelt, sie ist sichtbar. Faust oder Guttenberg war, wie soll ich sagen, ihr Meister vom Stuhl oder vielmehr ihr erster dienender Bruder. Ich treffe in ihr alles an, was mich über jede Trennung der bürgerlichen Gesellschaft erhebt und mich zum Umgange nicht mit solchen und solchen Menschen, sondern mit Menschen überhaupt, nicht nur einführt, sondern auch bildet.

Er: Ich verstehe dich wohl. Seitdem die Buchdruckerei ihre Worte und Zeichen in alle Welt sendet, sollte es, meinst du, keine geheime Worte und Zeichen mehr geben. Indessen stiftet auch die Buchdruckerei nur eine idealische Gesellschaft.

Ich: Wie es in diesen Dingen sein muß. Über Grundsätze können sich nur Geister einander erklären; die Zusammenkunft der Körper ist sehr entbehrlich, wenn sie nicht zugleich auch meistens sehr zerstreuend und verführerisch[132] wäre. Im Umgange mit Geistern, auf Fausts Mantel bleibt meine Seele frei; sie kann jedes Wort, jedes Bild prüfen.

Er: Und sie heben dich über alle Vorurteile der Staaten, der Religion, der Stände?

Ich: Völlig. Entweder denke ich bei meinen Gesellschaftern Homer, Plato, Xenophon, Tacitus, Mark Antonin, Baco, Fénelon gar nicht daran, zu welchem Staat oder Stande sie gehörten, welches Volkes und welcher Religion sie waren, oder wenn sie mich daran erinnern, geschiehet's gewiß mit weniger Störung, als es in deiner sichtbaren Gesellschaft je geschehen kann und mag.

Er: Gewiß.

Ich: Und kann darauf rechnen, daß sich in dieser Gesellschaft, an eben diesen Grundsätzen und Lehren alle edlen Geister der Welt mit mir vereinigen.

Er: Und du kannst selbst mit ihnen sprechen, dich ihnen vernehmlich und hörbar machen auf eben dem Wege.

Ich: Wenn ich's wie du könnte! Ich sprach mit deinem Geist, ehe ich deine Person sah; ich kannte dich, ohne von einer geheimen Gesellschaft zu sein, am Wort, am Griff, am Schlage. Deine und andrer Taten haben längst und sicherer bei mir bewirkt, was Gebräuche und Zeichen nur sehr unsicher und langsam bewirken könnten: sie haben mich über jedes Vorurteil von Staatsverfassung, angeborner Religion, Rang und Ständen längst erhoben.

Er: Welche Taten?

Ich: Poesie, Philosophie und Geschichte sind, wie mich dünkt, die drei Lichter, die hierüber Nationen, Sekten und Geschlechter erleuchten: ein heiliges Dreieck! Poesie erhebt den Menschen durch eine angenehme, sinnliche Gegenwart der Dinge über alle jene Trennungen und Einseitigkeiten. Philosophie gibt ihm feste, bleibende Grundsätze darüber, und wenn es ihm nötig ist, wird ihm die Geschichte nähere Maximen nicht versagen.

Er: Ob aber auch diese Grundsätze, diese Maximen und Anschauungen[133] Taten wirkten? Gäbe nicht die Gesellschaft einen Antrieb mehr?

Ich: Ich nehme dir deine eignen Worte aus dem Munde. »Sage mir nichts von der Menge der Antriebe. Lieber einem einzigen Antriebe alle mögliche intensive Kraft gegeben! Die Menge solcher Antriebe ist wie die Menge der Räder in einer Maschine. Je mehr Räder, desto wandelbarer.«

Er: Und was wäre dein einziger Antrieb?

Ich: Humanität. Gäbe man diesem Begriff alle seine Stärke, zeigte man ihn im ganzen Umfange seiner Wirkungen und legte ihn als Pflicht, als unumgängliche, allgemeine, erste Pflicht sich und andern ans Herz, alle Vorurteile von Staatsinteresse, angeborner Religion und das törichtste Vorurteil unter allen, von Rang und Stande, würden –

Er: Verschwinden? Da irrest du dich sehr.

Ich: Nicht verschwinden, aber gedämpft, eingeschränkt, unschädlich gemacht werden, was deine genannte und vielleicht verdienstvolle Gesellschaft ja auch nur bewirken konnte, wenn sie es bewirken wollte. Weißt du es nicht besser als ich, daß alle dergleichen Siege über das Vorurteil von innen heraus, nicht von außen hinein erfochten werden müssen? Die Denkart macht den Menschen, nicht die Gesellschaft; wo jene da ist, formt und stimmt sich diese von selbst. Setze zwei Menschen von gleichen Grundsätzen zusammen; ohne Griff und Zeichen verstehen sie sich und bauen in stillen Taten den großen, edlen Bau der Humanität fort. Jeder, nachdem er kann, in seiner Lage, praktisch; er freuet sich aber auch am Werk andrer Hände, weil er überzeugt ist, daß dies unendliche, unabsehliche Gebäude nur von allen Händen vollführt werden kann, daß alle Zeiten, alle Beziehungen dazu erfordert werden, mithin ein jeder einen jeden nicht einmal kennen darf, kennen soll, geschweige, daß er ihn durch Eidschwüre, durch Gesetze und Symbole bände.

Er: Du bist auf dem rechten Wege; auf ihm gibt es freie Arbeit. Kein wahres Licht läßt sich verbergen, wenn man es[134] auch verbergen wollte; und das reinste Licht sucht man nicht eben in den Grüften.

Ich: Alle solche Symbole mögen einst gut und notwendig gewesen sein; sie sind aber, wie mich dünkt, nicht mehr für unsre Zeiten. Für unsre Zeiten ist gerade das Gegenteil ihrer Methode nötig, reine, helle, offenbare Wahrheit.

Er: Ich wünsche dir Glück. Glaubst du aber nicht, daß man auch dem Wort Humanität einen Fleck anhängen werde?

Ich: Das wäre sehr inhuman. Wir sind nichts als Men schen; sei du der Erste unsrer Gesellschaft.20[135]

17

Die nordische Parze. Braga ist der Gott der Dichtkunst. A. d. H.

18

Die Stelle ist aus Gerstenbergs »Gedicht eines Skalden,« Kopenhagen und Leipzig 1766. A. d. H.

19

In der Folge des Briefwechsels finde ich diese Anlagen entwickelt A. d. H.

20

Der erste Teil dieses Gesprächs ist aus Lessings »Ernst und Falk, Gespräche für Freimaurer,« Wolfenbüttel 1781, genommen, denen der zweite Teil des Gesprächs eine andre Wendung gibt. A. d. H.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1971, S. 75-137.
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Briefe zur Beförderung der Humanität
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