Erste Sammlung

(1793)
[5]

1.

Mit Freude und Zustimmung, m. Fr., ist Ihr Vorschlag zu einem Briefwechsel über die Fort- oder Rückschritte der Humanität in älteren und neueren, am meisten aber in denen uns nächsten Zeiten von unsern sämtlichen Freunden aufgenommen und bewillkommet worden. »Ich bin ein Mensch,« sagte D., »und nichts, was die Menschheit betrifft, ist mir fremde. Mit jedem Jahr des Lebens fällt uns ein beträchtlicher Teil des Flitterstaats nieder, mit dem uns von Kindheit auf so wie in Handlungen, so auch in Wissenschaften, in Zeitvertreib und Künsten die Phantasie schmückte. Unglücklich ist, wer lauter falsche Federn und falsche Edelsteine an sich trug; glücklich und dreimal glücklich, wem nur die Wahrheit Schmuck ist und der Quell einer teilnehmenden Empfindung im Herzen quillet. Er fühlt sich erquickt, wenn andre, bloß Menschen von außen, rings um ihn winseln und darben; im allgemeinen Gut, im Fortgange der Menschheit findet er sich gestärkt, seine Brust breiter, sein Dasein größer und freier.«

»Sein Dasein größer und freier,« fiel L. ein, »denn indem er sich über den schleichenden, alltäglichen Gang der Dinge erhoben fühlet, atmet er ein reineres Element; er vergißt den niedrigen Kummer, der ihm da und dort das Herz drückte, wenn er den Strom der Zeit stockend und sich in einem stehenden Sumpf gesenkt glaubte. Der Strom der Zeit steht nie still; jetzt rieselt er sanft, jetzt rauscht er gewaltig; allenthalben aber wehet auf ihm Odem des Lebens.«

»In die Gedanken- oder Handlungssphäre andrer größerer Menschen gesetzt,« sagte B., »nehmen wir teil an ihrem Geist:[7] wir denken mit ihnen, auch wenn wir mit ihnen nicht wirken konnten, und freuen uns ihres Daseins. Je reiner die Gedanken der Menschen sind, desto mehr stimmen sie zusammen; die wahre unsichtbare Kirche durch alle Zeiten, durch alle Länder ist nur eine.«

»Und in diese wollen wir rein eintreten, meine Freunde,« fügte A. hinzu, »mit ungeteiltem Herzen, mit reinen Händen. Kein Parteigeist soll unser Auge benebeln, keine Schmeichelei unser Angesicht schänden. Unter uns ist, wie jener Apostel sagte, kein Jude noch Grieche, kein Knecht noch Freier, kein Mann noch Weib; wir sind eins und einer. Indem wir an uns und nicht an die Welt schreiben, gehen wir aller eitlen Rücksichten müßig; warum sollten wir heucheln? Das lohnte der Mühe nicht, die Feder einzutunken; wir dürften sodann nur lesen.«

»Lesen!« sagte das ganze Chor und ging in ein Detail über das, was jener hier, dieser dort gelesen hatte; alle waren darüber einig, daß es der Seele eine Arznei sei, wenn sie vom zerteilten, vielfachen Lesen in sich zurückgezogen werde und wie durch ein Gelübde, oder vor einem heiligen Gericht, über das, was sie gehört, gelesen, gesehen hat, sich selbst redliche Rechenschaft gebe.

»Diese Rechenschaft wollen wir uns einander geben,« fügte ich hinzu; und so ward ein Bund der Humanität geschlossen, vielleicht wahrer, wenigstens unanmaßender und stiller, als je einer geschlossen ward. Fangen Sie nun an, mein Freund; unsre Freunde sind, wie Sie wissen, hie und da zerstreuet; alle sind bereit, sie warten auf Ihren Anklang.1


2.

[8] Endlich ist mir die Lebensbeschreibung eines meiner Lieblinge in unserm Jahrhundert, Benjamin Franklins, von ihm selbst für seinen Freund geschrieben, zu Händen gekommen; aber bedauren Sie's, nur in der französischen Übersetzung, und nur ein kleines Stück derselben, die früheren Lebensjahre des Mannes, ehe er völlig in seine politische Laufbahn trat.2 Sollte die Politik der Engländer vermögend sein, das Übrige und Ganze in der Ursprache zu unterdrücken, so bedauren Sie mit mir den sinkenden Geist der Nation und lassen indessen dies Buch ja unter uns zirkulieren.

Sie wissen, was ich von Franklin immer gehalten, wie hoch ich seinen gesunden Verstand, seinen hellen und schönen Geist, seine sokratische Methode, vorzüglich aber den Sinn der Humanität in ihm geschätzt habe, der seine kleinsten Aufsätze bezeichnet. Auf wie wenige und klare Begriffe weiß er die verworrensten Materien zurückzuführen! Und wie sehr hält er sich allenthalben an die einfachen, ewigen Gesetze der Natur, an die unfehlbarsten praktischen Regeln, aus Bedürfnis und Interesse der Menschheit! Oft denkt man, wenn man ihn lieset: ›Wußte ich das nicht auch? aber so klar sahe ich's nicht, und weit gefehlt, daß es bei mir schlichte Maxime des Lebens wurde.‹ Zudem sind seine Einkleidungen so leicht und natürlich, sein Witz und Scherz so gefällig und fein, sein Gemüt so unbefangen und fröhlich, daß ich ihn den edelsten Volksschriftsteller unseres Jahrhunderts nennen möchte, wenn ich ihn durch diesen mißbrauchten Namen nicht zu entehren glaubte. Unter uns wird er dadurch nicht entehrt! Wollte Gott, wir hätten in ganz Europa ein Volk, das ihn läse, das seine Grundsätze anerkennte und zu seinem eignen Besten darnach handelte und lebte; wo wären wir sodann![9]

Franklins Grundsätze gehen allenthalben darauf, gesunde Vernunft, Überlegung, Rechnung, allgemeine Billigkeit und wechselseitige Ordnung ins kleinste und größeste Geschäft der Menschen einzuführen, den Geist der Unduldsamkeit, Härte, Trägheit von ihnen zu verbannen, sie aufmerksam auf ihren Beruf, sie in einer milde fortgehenden, unangestrengten Art geschäftig, fleißig, vorsichtig und tätig zu machen, indem er zeigt, daß jede dieser Übungen sich selbst belohnet, jede Vernachlässigung derselben im Großen und Kleinen sich selbst strafe. Er nimmt sich der Armen an, nicht anders aber als daß er ihnen Wege des Fleißes mit überwiegender Vernunft eröffnet. Mehrmals hat er es erwiesen, wie hell und bestimmt er in die Zukunft sah, wie entwirrt die verworrensten Geschäfte der Leidenschaft in einfachen Resultaten vor seinem Auge lagen. Einen solchen Mann von sich selbst sprechen, am Rande des Lebens ihn seinem Sohn erzählen zu hören, wer er sei und wie er, was er ist, geworden – wen das nicht reizend belehrte! –

Hören Sie nun den guten Alten, und Sie finden in seiner Lebensbeschreibung durchaus ein Gegenbild zu Rousseaus »Konfessionen«. Wie diesen die Phantasie fast immer irreführte, so verläßt jenen nie sein guter Verstand, sein unermüdlicher Fleiß, seine Gefälligkeit, seine erfindende Tätigkeit, ich möchte sagen, seine Vielverschlagenheit und ruhige Beherztheit. Begleiten Sie ihn in diesem Betracht aus der Bude des Lichtziehers in die Werkstätte des Messerschmiedes, in die Buchdruckerei, von Boston nach Neu-York, nach Philadelphia, London u. f. und bemerken, wie er allenthalben zu Hause ist, sich zu finden weiß, Freunde gewinnt, überall ins größere Allgemeine blickt und in jedem Verhältnis einen fortstrebenden Geist zeiget. Die Galerie seiner Bekannten und Mitgenossen, die er dabei aufstellt, wie dieser hier verdirbt, dort jener zugrunde geht, und wie er dies oft voraussiehet und zu seinem Besten gebrauchet, ist äußerst lehrreich. Für junge Leute kenne ich fast kein neueres Buch, das ihnen so ganz eine Schule des Fleißes, der Klugheit und Sittsamkeit[10] sein könnte, als dieses. Und wie ruhig ist's gedacht! wie angenehm-scherzhaft erzählt der liebenswürdige Alte! Glücklich, wer auf sein Leben zurücksehen kann, wie Franklin, dessen Bestrebungen das Glück so herrlich gekrönt hat. Nicht der Erfinder der Theorie elektrischer Materie und der Harmonika ist mein Held (obwohl auch in diesen ruhmwürdigen Erfindungen ein und derselbe Geist wirkte), der zu allem Nützlichen und Wahren aufgelegte und auf die bequemste Weise werktätige Geist, er, der Menschheit Lehrer, einer großen Menschengesellschaft Ordner, sei unser Vorbild! Auch außer denen ihm freilich äußerst vorteilhaften Zeit- und Landesumständen mag er uns dieses sein; denn Franklins Geist fände sich überall zurecht, auch da, wo wir leben.

Zu diesem Zweck werden Sie in seinem Leben besonders bemerken, wie er sich, trotz seiner Armut und mechanischen Berufsart, selbst literarische Bildung gab, seinen Stil formte und jedes Mittel, auch die Buchdruckerei, dazu anwandte; wie er in dieser die popularsten Wege, Zeitungen, Kalender, einzelne Blätter, die gemeinsten und beliebtesten Einkleidungen auffand, um Ideen unter das Volk zu bringen und sich durch die Stimme der Nation zu belehren; wie endlich von frühen Jahren an er nicht sowohl gelehrte als belehrende Gesellschaften liebte, deren Mitglieder sich miteinander übten. Auch dieserhalb wünschte ich jedem gutartigen Jünglinge diese Jugendjahre Franklins in die Hände. Der Unbegüterte, der sich selbst nicht verläßt, wird finden, daß er von Gott durch dessen großes und vielfaches Organ, die Menschheit, nie verlassen werde; er wird auf das zurückgeführt, was der edle Jüngling Persius für den Zweck aller menschlichen Weisheit erkannte:


Quid sumus et quidnam victuri gignimur; ordo

Quis datus aut metae quam mollis flexus et unde;

Quis modus argento; quid fas optare; quid asper

Utile nummus habet; patriae carisque propinquis[11]

Quantum elargiri deceat; quem te Deus esse

Jussit et humana qua parte locatus es in re,

Disce –


Nächstens sende ich Ihnen Franklins Plan zu einer seiner früheren Gesellschaften; lassen Sie unsre Freunde daraus oder dabei bemerken, was für uns dienet: denn das Philadelphia, für welches diese Gesellschaft gestiftet ist, kann überall liegen.


3.

Fragen zu Errichtung einer Gesellschaft der Humanität von Benjamin Franklin


»Haben Sie heut morgen die Fragen durchgelesen, um zu erwägen, was Sie der Gesellschaft über eine derselben zu sagen haben möchten, nämlich

1. Ist Ihnen irgend etwas in dem Schriftsteller, welchen Sie zuletzt gelesen, aufgestoßen, das merkwürdig oder zur Mitteilung an die Gesellschaft schicklich ist, besonders in der Geschichte, Moral, Poesie, Naturkunde, Reisebeschreibungen, mechanischen Künsten oder andern Teilen der Wissenschaften?«

(Mich dünkt, die Frage ist für uns geschrieben. Wie einst die Pythagoreer, so sollte jeder Rechtschaffene am Abend sich selbst fragen, was er, vielleicht unter vielem Nichtswürdigen,[12] heut wirklich Nützliches gelesen und bemerkt habe. Jeder gebildete Mensch wird sich auf diesem Wege in kurzem nach einem andern sehnen, dem er sein Merkwürdiges mitteile und der ihm das Seinige mitteile; denn das einsame Lesen ermattet: man will sprechen, man will sich ausreden. Kommen nun verschiedne Menschen mit verschiednen Wissenschaften, Charakteren, Denkarten, Gesichtspunkten, Liebhabereien und Fähigkeiten zusammen, so erwecken, so vervielfachen sich unzählbare Menschengedanken. Jeder trägt aus seinem Schatze vom Wucher seines Tages etwas bei, und in jedem andern wird es vielleicht auf eine neue Art lebendig. Geselligkeit ist der Grund der Humanität, und eine Gesellung menschlicher Seelen, ein wechselseitiger Darleih erworbener Gedanken und Verstandeskräfte vermehrt die Masse menschlicher Erkenntnisse und Fertigkeiten unendlich. Nicht jeder kann alles lesen; die Frucht aber von dem, was der andre bemerkte, ist oft mehr wert als das Gelesene selbst.)

»2. Haben Sie etwa neuerlich eine Geschichte gehört, deren Erzählung der Gesellschaft angenehm sein könnte?«

(So gemein diese Frage scheinet, so ein fruchtbares Samenkorn kann sie in der Hand verständiger Menschen werden. Aus Geschichte wird unsre Erfahrung; aus Erfahrung bildet sich der lebendigste Teil unsrer praktischen Vernunft. Wer nicht zu hören versteht, verstehet auch nicht zu bemerken; und aus dem Erzählen zeigt sich, ob jemand zu hören gewußt habe. Franklins beste Einkleidungen gingen aus solchen verständig angehörten lebendigen Tatsachen hervor; von ihnen empfingen sie ihre gefällige Gestalt, ihre leichte Wendung. In Zeiten, da man viel hörte, viel erzählte und wenig las, schrieb man am besten; so ist's noch in allen Materien, die aus lebendiger Ansicht menschlicher Dinge entspringen müssen und dahin wirken. Schrift und Rede ist bei uns oft zu weit voneinander getrennt; daher sind Bücher oft Leichname oder Mumien, nicht lebendig-beseelte Körper. Griechen und Römer, auch unter Galliern und Briten die erlesenste Schriftsteller waren sprechende oder gar handelnde Personen; der[13] Geist der Rede und Handlung atmet also auch in ihren Schriften. Überhaupt äußert sich in den entscheidendsten Fällen der wahre Geist der Humanität mehr sprechend und handelnd als schreibend. Wohl dem Menschen, der in lobwürdiger und angenehmer lebendiger Geschichte lebet!)

»3. Hat irgendeine Bürger nach Ihrem Bewußtsein neulich in seinen Verrichtungen Fehler begangen? und was war nach Ihrer erhaltenen Nachricht die Ursache davon?«

»4. Haben Sie neulich vernommen, daß irgendeinem Bürger etwas besonders geglückt sei? und durch welche Mittel? Haben Sie z.B. gehört, auf was Weise ein jetzt reicher Mann hier oder sonst irgendwo zu seinem Vermögen kam?«

(Fragen, die in einem aufstrebenden jungen Handelsstaat von der nützlichsten Wirkung sein konnten und in keinem Staate unnütz sein werden, in dem Industrie, Erfindung, Unternehmung noch nicht gar ausgetilgt sind. Ein auf den Mitbürger neidisches Auge schadet sich selbst am meisten; wo findet dies aber mehrere Nahrung als in despotischen Verfassungen, wo von Schmeichelei, Gunst, Betrug und Willkür so vieles abhängt? In Verfassungen von freier Konkurrenz der Verstandes- und Gemütskräfte sowie der Kunst und des Fleißes ist das Auge der Mitkämpfer und Mitwerber gewiß nicht träger, aber verständiger aufeinander gerichtet. Man gewöhnet sich, Glück und Unglück, Reichtum und Armut, Verdienst und Trägheit natürlich anzusehen, forschet den Mitteln nach, wodurch jener sich hob, dieser sank; so lernt man von beiden. Schon der alte Hesiodus unterschied zwo Gattungen der Eifersucht, die böse und die gute; diese beschreibt er als nützlich, jene als niederträchtig und schädlich. Je mehr sich die Einrichtung menschlicher Dinge bessert, um so mehr muß auch der falschen Eifersucht Zaum und Zügel angelegt werden, indem nämlich die freie und edle Eifersucht emporkommt. Wer sollte sich nicht einen Zustand denken können, in welchem alle Handlungen und Vorteile der Menschen natürlich betrachtet, mithin auch also geschätzt und erworben werden? Da tritt sodann das Gute und Böse gleich[14] ans Licht; jeder darf frei darüber sprechen und daran lernen. Wie weit wir aber noch von diesem Ziele sind, mag nur der Markt der Wissenschaft zeigen. Wie selten urteilt ein Beurteiler fremder Werke nach der strengen Frage: »Welche Fehler hat mein Mitbürger begangen? und was ist die Ursache davon? Hat dieser, redlich betrachtet, seine Sache weitergebracht? wodurch ist's ihm gelungen? und was stehet andern Mitbürgern noch zurück?« Und doch ist diese Frage die einzig billige, nützliche und gerechte; sonst urteilen nur Sklaven oder Despoten. Von uns sei dieser Geist des kleinen Neides oder des übermütigen Stolzes gleich fern, aber die edle Eifersucht auf alles Gute, Nützliche und Schöne, dessen die menschliche Natur fähig ist, sei unsre Göttin!)

»5. Ist Ihnen irgendein Mitbürger bekannt, der neulich eine würdige Handlung getan hat, welche Preis und Nachahmung verdienet? oder der einen Fehler begangen, welcher uns zur Warnung und zu dessen Vermeidung dienlich sein kann?«

»6. Welche unglückliche Wirkungen haben Sie neulich an der Unmäßigkeit, Unvorsichtigkeit, an der Hitze oder irgendeinem Laster oder Torheit wahrgenommen? Welche glückliche Wirkungen hingegen haben Sie von der Nüchternheit, Klugheit, Mäßigkeit oder irgendeiner andern Tugend erfahren?«

(So fragt ein Lehrer der Humanität, so frage jeder Vater und Hausvater die Seinen. Wie weit wären wir gelangt, wenn über alle Fehler und Tugenden der Menschen, in Beziehung auf ihre Folgen, nur so klar und unbewunden gesprochen werden könnte, als wir bei uns gedenken. Was die falsche Bescheidenheit oder gar eine demütige Heuchelei hier verschweigt, das entdeckt und übertreibt dort eine kecke Lästerzunge desto ärger. So wird endlich der Sinn der Menschheit verrückt und das moralische Auge geblendet. Alles scheint uns natürlich, nur die Natur des Menschen nicht, deren Weisheit und Torheit mit ihren klaren Folgen uns unanschaubare Dinge, unaussprechliche Rätsel bleiben sollen. Und doch, welche Natur von außen und innen läge uns näher als die Natur des Menschen?)[15]

»7. Sind Sie oder jemand Ihrer Bekannten neulich krank oder verwundet gewesen? Welche Mittel wurden gebraucht, und welches waren die Wirkungen?«

(So hoch die Arzneikunst gestiegen ist, so hat jeder geschicktere Arzt anerkannt, daß sie zum Wohl des Menschengeschlechts noch viel höher steigen könne und steigen werde. Daher die fast schon unzählbaren Bemerkungen einzelner Ärzte; daher die Bemühungen großmütiger Menschen, erprobte Mittel aus der Dunkelheit ans Licht zu ziehen; daher endlich die Bemühungen ganzer Gesellschaften, aus andern Weltteilen, wäre es auch von Wilden, dergleichen Heil- und Hülfsmittel zu gewinnen und in Europa zu verbreiten. Ist das Wort Humanität kein leerer Name, so muß sich die leidende Menschheit dessen am meisten zu erfreuen haben.)

»8. Fällt Ihnen etwas ein, wodurch die Versammlung dem Menschengeschlecht, Ihrem Vaterlande, Ihren Freunden oder sich selbst nützlich sein könnte?«

»9. Ist irgendein verdienter Ausländer seit der letzten Zusammenkunft in der Stadt angekommen? und was haben Sie von seinem Charakter oder Verdiensten vernommen oder selbst bemerkt? Glauben Sie, daß es im Vermögen der Gesellschaft stehe, ihm gefällig zu sein oder ihn, wie er es verdient, aufzumuntern?«

»10. Kennen Sie irgendeinen jungen verdienten Anfänger, der sich neulich etabliert hat und welchen die Gesellschaft auf irgendeine Weise aufzumuntern vermögend wäre?«

»11. Haben Sie einen Mangel in den Gesetzen Ihres Vaterlandes neulich bemerkt, um deswillen es ratsam wäre, die gesetzgebende Macht um Verbesserung anzusprechen? Oder ist Ihnen ein wohltätiges Gesetz bekannt, was noch mangelt?«

»12. Haben Sie neulich einen Eingriff in die rechtmäßigen Rechte des Volks bemerkt?«

»13. Hat irgend jemand neulich Ihren guten Namen angegriffen, und was kann die Gesellschaft tun, um ihn sicherzustellen?«

»14. Ist irgendein Mann, dessen Freundschaft Sie suchen[16] und welche die Gesellschaft oder ein Glied derselben Ihnen zu verschaffen vermögend ist?«

»15. Haben Sie neulich den Charakter eines Mitgliedes angreifen hören, und auf welche Weise haben Sie ihn geschützt? Hat Sie irgend jemand beeinträchtigt, von welchem die Gesellschaft vermögend ist, Ihnen Genugtuung zu verschaffen?«

»16. Auf was Weise kann die Gesellschaft oder ein Mitglied derselben Ihnen in irgendeiner Ihrer ehrsamen Absichten beförderlich sein?«

»17. Haben Sie irgendein wichtiges Geschäft unter der Hand, bei welchem Sie glauben, daß der Rat der Gesellschaft Ihnen dienlich sein könnte?«

»18. Welche Gefälligkeiten sind Ihnen neulich von einem nicht anwesenden Mann erzeigt worden?«

»19. Ist irgendeine Schwierigkeit in Angelegenheiten vorhanden, welche sich auf Meinungen, auf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit beziehen und die Sie gern auseinandergesetzt haben möchten?«

»20. Finden Sie irgend etwas in den jetzigen Gebräuchen oder Verfahrungsarten der Gesellschaft fehlerhaft, welches verbessert werden könnte?«

(Ohne alle Anmerkung sprechen diese Fragen zum Herzen wie zum Verstande. Manche geheime Gesellschaft, die zur Besserung der Menschheit wirken wollte, mag auch dahingegangen sein; diese kann vor den Augen der Welt allenthalben als ein Bund der Edlen und Guten fortdauern, denn sie ist auf die Tugend selbst gegründet.)

Folgendes waren die Fragen, die jeder, der in der Gesellschaft aufgenommen werden wollte, die Hand auf seine Brust gelegt, beantworten mußte:

»1. Haben Sie irgendeine besondre Abneigung gegen eins der hiesigen Mitglieder?«

»2. Erklären Sie aufrichtig, daß Sie das Menschengeschlecht, ohne Rücksicht von welcher Hantierung oder Religion jemand sei, überhaupt lieben?«

»3. Glauben Sie, daß jemand an Körper, Namen oder Gut,[17] bloß spekulativer Meinungen oder der äußerlichen Art des Gottesdienstes wegen, gekränkt werden müsse?«

»4. Lieben Sie die Wahrheit um der Wahrheit willen und wollen sich bestreben, sie unparteiisch zu suchen und, wenn sie sie gefunden, auch andern mitzuteilen?«

Die Hand aufs Herz, meine Brüder! Ja, Amen.


4.

Glauben Sie nicht, m. Fr., daß Sie der einzige Liebhaber Franklins in unsrer kleinen Zahl sind. Alle Brüder reichen Ihnen die Hand auf seine Fragen, und von F. werden Sie nächstens ein Kästchen von amerikanischem Holz empfangen, in dem Sie eine Sammlung kleiner und größerer Aufsätze Franklins finden, unter welchen Ihnen wahrscheinlich manches neu sein wird. Freund F. hat sie mit vieler Sorgfalt zusammengesucht und glaubt daran einen moralisch-politischen Schatz zu haben.3

Ist es nicht sonderbar, daß in alten und neuen Zeiten die höchste und fruchtbarste Weisheit immer aus dem Volk entsprungen, immer mit Naturkenntnis, wenigstens mit Liebe zur Natur und Ansicht der Dinge verbunden, immer von ruhiger Unbefangenheit des Geistes, von heiterm Scherz begleitet gewesen und am liebsten unter der Rose gewohnt hat? Doch warum nenn ich dies sonderbar, da es Natur der Sache selbst ist. Nur wer die Menschen kennet, kann für sie sorgen; nur wer durch das Bedürfnis geweckt, durch Not gereizt, in mancherlei Verhältnissen umhergetrieben, die süße Frucht der Mühe schmeckte, kann diese auf die bequemste Art andern zu kosten geben. Er hat sich die schwere Wahrheit leicht gemacht; so macht er sie auch andern angenehm und faßlich.[18]

Daß Franklins Leben ganz und im Original erscheinen werde, will ich nicht zweiflen. Dem bessern Teil der englischen Nation ist es bekannt genug, daß er kein Aufrührer gewesen, daß er zum Frieden und zur Aussöhnung die einsichtvollesten Vorschläge getan habe, die, wie Weissagungen eines Propheten, die Zeit genugsam bestärkt hat. Äußerst schwor ging er an den Gedanken, daß England und Amerika sich trennen sollten; er fand es diesem Lande selbst nicht vorteilhaft und hielt auch das für gefährlich, daß es zur Freiheit so bald gelangte. Da nun die Zeit hierüber mit einer gebietenden Stimme bereits entschieden und England auf andre Weise schadlos gehalten hat, so glaube ich, daß nur wenige Augen sich schließen dürfen, und Franklins Lebensgeschichte wird uns gegönnet sein und bleiben. Lesen Sie in beikommendem Nekrolog4 die wenigen Fragmente seines politischen Lebens, und Sie werden den schönen Friedensstern, der in Franklin leuchtete, bis auf den Augenblick, da er in der westlichen Welt untergeht, segnen. Die letzte Rede, mit der er den Beitritt der widersinnigen Provinzen zur Konstitution bewirkte, so ganz in seinem Geist und Charakter, ist der scheidende Strahl dieses Sternes.

Aber ach, indem ich Ihnen den Nekrolog zusende, wie trübe sinkt mein Blick! Kein Stern mehr; ich wandle auf einem Kirchhofe und schaue traurig zur Erde nieder, insonderheit unter den deutschen Gebeinen. Die Pyramide hinten auf dem Umschlage dünkt mich Cestius' Pyramide zu Rom, neben welcher der Ausländer-Protestanten, meistens der Deutschen, Körper ruhn, verscharret hier in der Fremde. Welch eine niederschlagende Erinnerung gibt uns das Leben der meisten!5 Arm geboren, fleißig, redlich, einesteils talent-, andernteils verdienstreich, kamen sie nicht weiter, als daß sie ihr Leben entweder mühsam durchlebten oder in der Hälfte desselben fast[19] unbemerkt niedergingen und starben. Loudon glänzt als ein Gestirn in diesem Totentale; aber lesen Sie, wie es auch ihm gegangen, wie schwer es ihm gemacht worden, und wie er zuletzt sein Grabmal von Trümmern einer unerstürmten Pforte sich selbst als ein castrum doloris aufgerichtet. Aus dem Wirtenberger Hahn, diesem wahrhaftig newtonischen Kopfe, aus Schäffer, Ferber, Reiz, Meier und so manchen andern, was wäre in England geworden? (Was aus Herschel nicht geworden wäre, wenn er in der hannoverschen Hofkapelle diente!) Und wie ging's dem verdienten Crollius in Zweibrück, dem guten Meggenhofen in Bayern! wie verschwand Crugot, dieser sanft- und helleuchtende Stern, so bald unter Wolken! Auf welche Irrwege ward Basedow geführt, und wie traurig schreitet der arme Ephraim Kuh seine Laufbahn danieder! – Diese liegen nun neben Joseph II., neben Elliot, Howard, Franklin, Kreittmayr hier begraben. Sie schlafen freilich nebeneinander allesamt in Frieden; aber der Name auf ihren Leichsteinen gibt mehr zu denken, als selbst in Grays »Elegie auf dem Landkirchhofe« ausgedrückt sein möchte. Dem Toten, meine Freunde, gebühret eine Träne; so manchem deutschen Toten gebührt mehr als ein Seufzer.


5.

Der Trübsinn, der Sie bei dem Nekrolog angewandelt hat, ist nicht ganz ohne Grund; lassen Sie uns diesen aber näher beleuchten. Sollte die Grabstätte selbst, die hier errichtet worden, daran nicht etwa mit schuld sein?

Der Name »Totenregister« ist schon ein trauriger Name. Laß Tote ihre Toten begraben; wir wollen die Gestorbnen als Lebende betrachten, uns ihres Lebens, ihres auch nach dem Hingange noch fortwirkenden Lebens freuen und eben deshalb ihr bleibendes Verdienst dankbar für die Nachwelt aufzeichnen. Hiermit verwandelt sich auf einmal das Nekrologium[20] in ein Athanasium, in ein Mnemeion; sie sind nicht gestorben, unsre Wohltäter und Freunde; denn ihre Seelen ihre Verdienste ums Menschengeschlecht, ihr Andenken lebet.

Damit veränderte sich auch der Entwurf dieses Buches, und gewiß zu seinem Vorteil, wenn anders der Entwurf auszuführen wäre.

1. Nur deren Leben gehörte in diese Sammlung, die zum Besten der Menschheit wirklich beigetragen haben; und es wäre Hauptblick des Erzählers, wie sie dies taten, wie sie die wurden, die sie waren, womit sie zu kämpfen, was sie zu überwinden hatten, wie weit sie's brachten und was sie andern zu tun nachließen, endlich, wie sie ihr Geschäft, das Werk ihres Lebens, selbst ansahn. Eine treue Erzählung hievon, wo möglich aus dem Munde oder den Schriften der Entschlafnen oder von denen, die sie nahe gekannt und bemerkt haben, wäre wie eine Stimme aus dem Grabe, wie ein Testament des Verstorbnen über sein eigenstes Eigentum, über seinen edelsten Nachlaß.

2. Hieraus folgte, daß bei Männern der Wissenschaft man sich notwendig auf den Wert und die Wirkung ihrer Schriften, bei tätigen Geschäftsmännern auf den Beruf einlassen müßte, in welchem sie der Menschheit dienten. Bei Crugot z.B. sind seine »Predigten vom Verfasser des Christen in der Einsamkeit« nicht genannt, mit denen er doch, zumal im zweiten Teil, seinen Zeitgenossen so weit vorschritt. Crugots wenige Schriften verdienen zu bleiben, solange die deutsche Sprache bleibt; und es war mir ein angenehmer Umstand, hier zu finden, daß Carmer den »Christen in der Einsamkeit« zum Druck gefördert habe. Wie nun? sollte der helldenkende, liebenswürdige Mann, dessen Moral so ganz die reine Humanität Christi atmet, ohne hinterlassene, des Drucks würdige Schriften gestorben sein? Und sollte Carmer, sollten die zwei Prinzen und die Prinzessin, die, wie die Biographie sagt, ihren verdienstvollen Lehrer in ihm ehrten und liebten, sollten die Freunde,[21] die ihn näher kannten, dies Geschenk für Welt und Nachwelt verloren sein lassen? Ich hoffe nicht; denn nebst Sack und Spalding war Crugot nicht nur in jenen Gegenden, sondern für Deutschland überhaupt einer der ersten Verbreiter des guten Geschmacks und einer hellen Philosophie im Kreise seines Berufes. Er muß nicht tot sein, sondern er lebe!

3. Da schwerlich etwas Langweiligeres als ein unbestimmtes Leichenlob sein kann, so sind eben die zartesten Saiten des menschlichen Herzens auch hier, wie mich dünkt, aufs leiseste zu berühren. Familien-, Freundes-, Privatsituationen, wenn sie nicht auf einem hellen Detail beruhen, ertragen in allgemeinen Ausdrücken selten ein langes Lob; man überschlägt's oder ermüdet. Überhaupt ist das, was der Lehrer der Menschen vom Innern der Moralität sprach, auch in Absicht auf die Darstellung derselben wahr: »Was fürs Auge des Allsehenden allein gehöret und vor ihm getan ward, will nicht vor dem Auge der Menschen prangen, gesetzt, daß es auch der wahreste Freund des Verstorbnen vorzeigte.« Anders ist's mit bestimmten Tatsachen; die sprechen durch sich selbst, sie ermahnen, lehren, trösten.

4. Eingänge zu Lebensbeschreibungen durch einen Allgemeinsatz sind höchst mißlich. Welcher Allgemeinsatz erschöpft ein menschliches Leben? Welcher verführt nicht öfter, als er zurechtweiset? In den lateinischen memoriis sind solche Gemeinplätze hergebracht; hier, wünscht man, wachse die Bemerkung an ihrer natürlichen Stelle im Fortgange der Erzählung hervor, oder sie versiegle zuletzt den Eindruck des Ganzen. Über manches dieser Leben hätte viel Starkes können gesagt werden, bald mit einem strengen Blick, bald mit einem herzdurchdringenden Seufzer.

5. Denn freilich, m. Fr., ist's wahr: Deutschland weinet um manche seiner Kinder; es ruft: Sie sind nicht mehr, sie gingen gekränkt, beistand- und trostlos unter. Hier also auf dem Grabe des Verstorbnen, als auf einer heiligen Freistätte, müssen Wahrheit und Menschlichkeit, diese sanft und rührend,[22] jene unparteiisch und strenge, ihre Stimmen erheben und sprechen: »Dieser Mann ward unterdrückt, jener gemißbraucht, dieser verlockt und gestohlen. Ohne Recht und Urteil schmachtete er viele Jahre im Felsenkerker; das Auge seines Fürsten weidete sich an ihm; seine späte Entlassung ward Gnade, und nie bekam er die Ursache seines Gefängnisses zu wissen, bis an den Tag seines Todes.«7 Wahre Begegnisse dieser Art müßten von Munde zu Munde, von Tagebuch zu Tagebuch fortgepflanzt werden; denn wenn Lebendige schweigen, so mögen aus ihren Gräbern die Toten aufstehn und zeugen.

Auf diese Weise geführt, was wäre lehrreicher und nützlicher als ein solches Register der Toten? Es ist kein Bösewicht auf der Erde, den nicht, wenn sein schuldloser oder gar edler Gegner mit hingestreckten Armen daliegt und die Totenglocke über ihm ertönet, das, wodurch er ihm im Leben wehe tat, jetzt im Herzen steche und nage. Die Schlangen der Rache, des Neides und Undanks entschlafen am Grabe des Toten und wenden sich gegen den lebenden Verbrecher. Hier also sitze, wie dort auf Ajax Grabe, Tugend und Menschenwürde und wäge und richte.

Ich weiß wohl, wie schwer dies alles auszuführen sei, zumal in Deutschland. Eben aber, daß Mösers patriotische Phantasie »Aufmunterung und Vorschlag zu einer westfälischen Biographie« hier in einem weiteren Umfange erfüllet werden könnte, daß, wenn sonst nirgend, wenigstens auf einem Gottesacker die verdienten Männer mehrerer und aller deutschen Provinzen sich zusammenfänden und endlich doch in der Erde sich als Landesleute, als Brüder, als Mitarbeiter an einem Werk des Menschenberufs erkennten; das allein schon sollte jeden Gutgesinnten aufmuntern, aus seiner Gegend, wie er weiß und kann, zur Vervollkommung des Ganzen mit beizutragen.

6. Vor allen Dingen aber wünschte ich eigne Biographien[23] erlesner merkwürdiger Menschen. Wie weit stehen wir Deutsche hierin andern Nationen, Franzosen, Engländern, Italienern, nach! Wir lebten, dachten, müheten uns; aber wir konnten nicht schreiben. Die rauhe oder ermattete Hand, die das Schwert, den Zepter, das Handwerk- und Kunstwerkzeug, wohl auch die breite Kanzleifeder führte, verachtete meistens die Reißfeder mühsamer Selbstschilderung; mit der alten Chronikenzeit ging auch das häusliche und Familiengefühl, für die Seinen und mit ihnen fortzuleben, großenteils zu Grabe. Was also von merkwürdigen alten Selbstbeschreibungen gerettet, was von neuen hie und da entdeckt werden kann, sollte gerettet und genützt werden, bis (ich weiß gewiß, daß die Zeit kommt) merkwürdige Geschäfte auch freiere Gesinnungen und diese den Geist einer edlen Publizität erwecken werden, bei dem alle Stände im Lichte wandeln. »Praecipuum munus annalium, ne virtutes sileantur; utque pravis dictis factisque ex posteritate et infamia metus sit.«



Der Patriot

Von allen Helden, die der Welt

Als ewige Gestirne glänzen,

Durch alle Gegenden bis an der Erde Grenzen,

O Patriot, bist du mein Held.


Der du, von Menschen oft verkannt,

Dich ganz dem Vaterlande schenkest,

Nur seine Leiden fühlst, nur seine Größe denkest,

Und lebst und stirbst fürs Vaterland.


Umsonst sucht von der Tugend Bahn

Der Eigennutz dich zu verdrängen,

Und führet wider dich, mit Jauchzen und Gesängen,

Die lockende Verführung an;
[24]

Und ihr Gefolg, die güldne Pracht,

Den stolzen Reichtum, mit der Ehre,

Die Pfauenflügel schwingt, und einem Freudenheere,

Das um die süße Wollust lacht.


Siegprangender als Cäsar war,

Schlägt sich durch diesen furchtbarn Haufen

Die große Seele durch, mit Gold nicht zu erkaufen,

Nicht zu erschüttern durch Gefahr.


Denn wie ein Fels, der unbewegt,

Wann Wogen sich auf Wogen türmen,

Im Ozeane steht und ruhig in den Stürmen

Den ganzen Zorn des Himmels trägt:


So stehest du mit festem Mut

Und trotzest, ohne Freund, verlassen,

Dem Grimm der Mächtigen, der Bösen, die dich hassen,

Und ihrer ungerechten Wut.


Das Vaterland beglückt zu sehn,

Ist dir die göttlichste der Freuden,

Ist dir Ambrosia, selbst in dem härtsten Leiden,

Wann Bürger dich undankbar schmähn.


Bis dich der Himmel wieder ruft,

Die lichte Wohnung wahrer Helden,

Und wer du warest, einst des Volkes Tränen melden,

Verströmt um deine stille Gruft.


Unrühmlich, unbeweint im Tod,

Vermodern in vergeßnen Höhlen

Die Bürger schlimmer Art, in deren kleinen Seelen

Nur niedrer Eigennutz gebot.
[25]

Die Schändlichen! Das Vaterland,

Das ihnen, was sie hatten, Leben,

Ruh, Ehr und Überfluß und sichre Lust gegeben,

Bat hülflos mit erhobner Hand;


Sie aber wichen scheu zurück,

Und nützten den erzürnten Himmel

Zu häßlichem Gewinn, und dachten im Getümmel

Nur sich und ihres Hauses Glück.


Ihr Haus entflieht der Rache nicht,

Die endlich den Verbrecher findet:

Was mit verruchter Hand ein Bösewicht gegründet,

Zerstört ein andrer Bösewicht.


Des Bürgers Glück blüht mit dem Staat,

Und Staaten blühn durch Patrioten.

Athen besiegten Stolz und Eigennutz und Rotten,

Noch eh es Philipps Ehrsucht tat.


Und so fiel Rom, die Königin

Der Könige von allen Zonen,

Von ihrem Thron gestürzt; und ihre güldnen Kronen

Nahm ein erkaufter Barbar hin.


Oft wann in schauervoller Nacht

Ihr Schutzgeist ihren Schutt umflieget,

Stillschweigend übersieht, wie Rom im Staube lieget,

In Trümmern seiner alten Pracht;


Und dann die großen Taten denkt,

Die sein geliebtes Volk vollbrachte,

So lang fürs Vaterland der Bürger Liebe wachte,

Von niedrer Absicht unbeschränkt;
[26]

Als alles fremden Goldes Feind,

Ein Curius und Scipione

Und die Fabricier und männliche Catone

Noch lebten, mit dem Staat vereint;


Dann klagt er laut: »Sie sind nicht mehr!«

Des Kolosseums öde Mauern

Beginnen, rund umher antwortend, mit zu trauern,

Tiefbrausend wie ein stürmisch Meer.


»Sie sind nicht mehr, und Rom starb nach!

Erhoben durch die Patrioten,

Fiel mein geliebtes Rom, als allen Bürgerrotten

Ein patriotisch Herz gebrach.«


Daß dieser Fall der großen Stadt

Die sicher-stolzen Völker lehre,

Der größte Staat sei schwach, der ungezählte Heere,

Doch keine Patrioten hat.


6.

Ein Athanasium, ein Mnemeion Deutschlands! Wahrlich, unser Vaterland ist zu beklagen, daß es keine allgemeine Stimme, keinen Ort der Versammlung hat, wo man sich sämtlich höret. Alles ist in ihm zerteilt, und so manches schützet diese Zerteilung: Religionen, Sekten, Dialekte, Provinzen, Regierungen, Gebräuche und Rechte. Nur auf dem Gottesacker kann uns etwa eine Stelle gemeinsamer Überlegung und Anerkennung gestattet werden.

Aber warum nur hier? Arbeiten nicht in allen, vom höchsten bis zu den niedrigsten Ständen, sichtbare und unsichtbare Kräfte, diese gemeinsame Überlegung und Anerkennung zu erleichtern, zu bewirken? Ein Teil Deutschlands hatte sich vor dem andern mit unleugbaren Vorschriften ein großes[27] Voraus gegeben; der andre Teil eifert ihm nach, und wir können bald an der Stelle sein, ein Ebenmaß zu finden. Jeder biedre Mensch muß sich bestreben, dieses zu fördern, und glücklicherweise scheinen mir diejenigen, die die biedersten Deutschen sein sollen, die Fürsten, auf denselben Weg zu treten. Gewiß, der Unterschied der Religionen macht es nicht, denn in allen Religionen Deutschlands gibt es aufgeklärte, gute Menschen. Der Unterschied von Dialekten, von Bier- und Weinländern macht es auch nicht, was uns voneinander hält und sondert; ein leidiges Staatsinteresse, eine Anmaßung mehreren Geistes, mehrerer Kultur auf der einen, auf der andern Seite mehreren Gewichts, mehreren Reichtums u. f. war es, was uns entzweiet; und dem, dünkt mich, muß und wird die allmächtige Zeit obsiegen.

Denn sagen Sie, was hindert uns Deutsche, uns allesamt als Mitarbeiter an einem Bau der Humanität anzuerkennen, zu ehren und einander zu helfen? Haben wir nicht alle eine Sprache, ein gemeinschaftliches Interesse, eine Vernunft, ein und dasselbe menschliche Herz? Der Philosophie und Kritik hat man nirgend den Weg versperren können; sie arbeitet sich überall durch; sie wird in allen guten Köpfen rege. Ihre Regeln sind allenthalben dieselbe; ihr Zweck allenthalben nur einer. Auch der Wetteifer verschiedner Provinzen gegeneinander kann nicht anders, als diesen Zweck befördern.

Ruhm und Dank verdienet also ein jeder, der die Gemeinschaft der Länder Deutschlands durch Schriften, Gewerbe und Anstalten zu befördern sucht; er erleichtert die Zusammenwirkung und Anerkennung mehrerer und der verschiedensten Kräfte; er bindet die Provinzen Deutschlands durch geistige und also die stärksten Bande.

Daß uns eine Hauptstadt fehle, tut zu unsrer Sache gewiß nichts. Der Ausbildung des Geschmacks mag ihr Mangel eine Hindernis sein; und auch der Geschmack kann durch sie ebensowohl verderbt und gefesselt werden, als sie ihm anfangs Politur und Flügel verleihen mochte. Einsichten aber, ruhige Überlegungen, tätige Versuche, Empfindungen und[28] Äußerungen dessen, was örtlich und allenthalben zu unserm Frieden dienet, sie verschmähen die Mauern einer Hauptstadt und suchen das freie Land; ihre Werkstätte ist das gesamte Deutschland. Je mehrere und leichtere Boten allenthalben her, allenthalben hin gelangen, desto mehr wird die Mitteilung der Gedanken befördert, und kein Fürst, kein König wird diese zu hemmen suchen, der die unendlichen Vorteile der Geistesindustrie, der Geisteskultur, der gegenseitigen Mitteilung von Erfindungen, Gedanken, Vorschlägen, selbst von begangenen Fehlern und Schwächen einsieht. Jedes dieser Stücke kommt der Menschennatur, mithin auch der Gesellschaft, zugut; der Fehler wird entdeckt, der Irrtum wird gebessert, Gedanke weckt Gedanken, Empfindungen und Entschlüsse regen und treiben. Denn das ist eben die große und gute Einrichtung der menschlichen Natur, daß in ihr, wenn ich so sagen darf, alles im Keim da ist und nur auf seine Entwickelung wartet. Entschließet sich die Blüte nicht heute, so wird sie sich morgen zeigen. Auch alle möglichen Antipathien sind in der menschlichen Natur da; jedem Gift ist nicht nur sein Gegengift gewachsen, sondern die ewige Tendenz der waltenden lebendigen Kraft geht dahin, aus dem schädlichsten Gift die kräftigste Arznei zu bereiten. Ach, die Extreme liegen in unsrer engebeschränkten Natur so nahe, so dicht beieinander, daß es oft nur auf einen geschickten Fingerdruck ankommt, aus dem Einfalls- den Absprungswinkel zu machen, da unabänderlichen Gesetzen nach beide in ihrem Verhältnis einander gleich sind. Gedanken zu hemmen, dies Kunststück hat noch keine irdische Politik erfunden; ihr selbst wäre es auch sehr unzuträglich. Aber Gedanken zu sammlen, zu ordnen, zu lenken, zu gebrauchen, dies ist ihr, für alle Zeiten hinaus, unabsehlicher großer Vorteil.

Doch die Seite des Verstandes ist's nicht allein, in Absicht welcher ich Deutschland einen gemeinsamen Zusammenhang wünschte; vielmehr ist's die Seite des Charakters, der Entschlüsse, der Unternehmung. Wir wissen alle, daß die Deutschen von jeher mehr getan, als von sich reden gemacht[29] haben; das tun sie auch noch. In jeder Provinz Deutschlands leben Männer, die ohne französische Eitelkeit, ohne englischen Glanz, gehorsam, oft leidend, Dinge tun, deren Anblick jedermann schönen und großen Mut einspräche, wenn sie bekannt wären. Denen vollends wünsche ich keinen Hof, keine Hauptstadt; einen Altar der Biedertreue wünsche ich ihnen, an dem sie sich mit Geist und Herzen versammeln. Er kann nur im Geist existieren, d.i. in Schriften; und, o daß ausgezeichnet vor allen eine solche Schrift da wäre! An ihr würden sich Seelen entflammen und Herzen stärken. Der deutsche Namen, den jetzt viele Nationen gering zu halten sich anmaßen, würde vielleicht als der erste Name Europas erscheinen, ohne Geräusch, ohne Anmaßung, nur in sich selbst stark, fest und groß.


7.

Wir sind darüber einig, daß, wenn ein großer Name auf Europa mächtig gewirkt hat, es Friedrich gewesen. Als er starb, schien sein hoher Genius die Erde verlassen zu haben; Freunde und Feinde seines Ruhms standen gerührt; es war, als ob er auch in seiner irdischen Hülle hätte unsterblich sein mögen.

Sie denken leicht, wie begierig ich auf seine nachgelassenen Schriften8 war: hier, sagte ich, lebt und spricht noch sein Geist nach dem Ableben seines alten vielgeübten Körpers. Briefe, Gespräche, ja Worte von ihm, die, solang er König war, als Ehre gesucht, als Schätze umhergetragen wurden, sind jetzt ein gemeines Gut. Man kann sie unerschrocken prüfen, im Zusammenhange seines langen Lebens beherzigen; man darf ihnen widersprechen und sie mit seinen Taten vergleichen.

Zuerst also griff ich nicht nach Werken, die er absichtlich für die Welt geschrieben hatte, sondern nach seinem Briefwechsel,[30] und unter diesem auf den längsten und interessantsten, mit Voltaire. Er erstreckt sich von 1736 bis 1777, also über vierzig Jahre, und zeigt die Seele des großen Königes in den verschiedensten Situationen seines Lebens. Ich will einige Züge und Stellen auszeichnen.

Ein Prinz von 23 Jahren, der Erbe eines königlichen Thrones, sucht in weiter Entfernung den Mann auf, den er für den ersten Schriftsteller seiner Zeit hält, in dem er, wie er selbst sagt, »nicht nur Schätze des Geistes, Stücke mit so viel Geschmack, Delikatesse und Kunst gearbeitet, daß ihre Schönheiten bei jedem neuen Lesen neu scheinen, sondern auch jene Philosophie« findet, die unser königliche Jüngling insonderheit werthält. Er übersendet ihm seinen »Wolff,« erbittet sich dagegen seine Schriften, seinen Unterricht in Briefen und wird ein Schüler des Philosophen, nicht aus Eitelkeit, sondern ernst und bescheiden. »Autoren,« sagt er, »sind die Gesetzgeber des menschlichen Geschlechts; ihre Schriften verbreiten sich in alle Teile der Welt; sie manifestieren Ideen, die andre sich einprägen. Ist in ihnen Stärke des Gedankens mit Feuer des Ausdrucks vereinigt, so bezaubern sie und rühren. Bald atmet eine Menge Menschen die Liebe zum menschlichen Geschlecht, die sie ihr durch einen glücklichen Impuls einhauchten. Sie bilden gute Bürger, treue Freunde, Untertanen, die Aufruhr und Tyrannei in gleichem Grade verabscheun, voll Eifer, nur fürs allgemeine Beste. Ihnen, den Schriftstellern, ist man die Tugenden schuldig, die die Sicherheit und den Reiz des Lebens ausmachen; was ist man ihnen nicht schuldig?«

So sahe Friedrich die Wissenschaften an, und dies blieb sein Bekenntnis. Die Talente, die hiezu dienten, schätzte er an Voltaire, in seiner Jugend fast über die Maße, in seinem höheren Alter mäßiger; doch blieb ihm stets die hohe Achtung für einige große Stücke seines Lehrers, die er von andern sehr unterschied und ihm darüber offen seine Meinung sagte. Unter Waffen und im höchsten Alter hielt er die Wissenschaften nicht nur für sein schönstes Vergnügen, sondern auch[31] dem Staat und der menschlichen Gesellschaft unentbehrlich; ohne sie, meinte er, würden und blieben Fürsten, Stände und Völker Barbaren; Wissenschaften allein haben die Welt erleuchtet und einige auserwählte Seelen des Menschengeschlechts veredelt.


Blüht, ihr freundlichen Künste,

Blüht! Die goldenen Fluten

Des Paktolus benetzen

Euch in Zukunft die Wurzeln

Eures heiligen Hains.


Euch gebühret zu herrschen

Über schwächere Geister,

Und vor euren Altären

Alle Söhne des Irrtums

Feiernd opfern zu sehn.


In der Mitternacht hör ich

Oft den himmlischen Wohllaut

Eures Wettgesangs, höre

Polyhymniens Saiten

Und Uraniens Lied.


Und zerfließe vor Wonne:

Denn ihr singet die Taten

Der unsterblichen Götter,

Unterrichtet die Weisen

Und Regenten der Welt.


Angenehme Gefühle

Und mein Genius reißen

Allgewaltig mich zu euch,

Ketten ewig an euren

Siegeswagen mich an.9
[32]

Fast immer tönet diese Stimme um mein Ohr, wenn ich Friedrichs Schriften lese. Man wandelt in ihnen wie auf klassischem Boden; ein Gefühl für die Würde, den Wert, die Schönheit der Wissenschaften ist in seine kleinsten und größesten Aufsätze verbreitet.

Insonderheit lebt sein Geist in einer gewissen Reihe erwählter größerer Seelen, die er, meistens aus dem Altertum, sich zu Lieblingsnamen seiner Phantasie, zu Vorbildern, an denen er gern verweilet, ausersehen hatte. In Handlungen des Krieges und des Friedens, in Geschäften der Regierung und in Beziehungen der Menschheit kommen sie ihm oft wieder, als alte Lehrer und Freunde; so wie es denn bekannt ist, daß er nur wenige Schriftsteller, diese aber immer von neuem las und in seine Gedanken prägte. Nach gewissen Jahren wollte ihm das Neue nicht mehr gnugtun; er fand eine Spitzfindigkeit oder einen mathematischen Kalkül in Schriften, wohin dieser nicht gehörte. Die alten großen Formen weniger Hauptgedanken lagen in ihm, von denen er sich ungern trennen mochte. In Sachen des Vortrags sah er Voltaire als die letzte Stütze des Geschmacks an, der unter Ludwig XIV. gewesen war und unter Ludwig XV. und XVI. freilich nicht mehr sein konnte. Dagegen sieht er seine eignen Aufsätze in Versen bloß als Reimereien zum Vergnügen, in Prose als Übungen zu Entwicklung seiner Gedanken an und spricht von ihnen ohn alle Anmaßung. Diese Bescheidenheit ist, wie man offenbar sieht, kalte Überzeugung; er fühlt, was ihm fehle und warum er nicht sein könne, was z.B. Voltaire war. Er will's auch nicht sein; denn er fühlt seinen größern Beruf, ob er gleich den andern, ein großer Schriftsteller zu sein, als angenehmer erkennet und in Augenblicken des Enthusiasmus fast zu beneiden scheinet. Bald aber setzt sein Geist sich ins Gleichgewicht: »Gesunder Verstand,« meint er, »ein edler Trieb zur Ehre und unausgesetzte Tätigkeit sei seine Gabe, die wolle und müsse er auf seiner Stelle ausbilden, anwenden und gebrauchen.«

Fast unglaublich ist's auch, wie weit er in diesen Punkten[33] nicht etwa nur Voltairen, sondern auch seinen sämtlichen korrespondierenden Freunden überlegen ist. Wenige, aber große Grundsätze liegen als unerschütterliche Fundamente in seiner Seele; wenige, aber feste Maximen sind seine treuen Gefährten, auf die er zuletzt, und als König oft mit sehr leichter Mühe, alles zurückführt. Einige derselben wollten ihm im Siebenjährigen Kriege zuweilen untreu werden; er nimmt aber seine große Seele zusammen und verbeißt die verachtende Bitterkeit, mit der er insonderheit die Regierungen der Welt, ihre Unterhändler und Werkzeuge, wohl auch den größeren Teil des menschlichen Geschlechts ansieht. Ganz scheint er indessen von dieser zu langen und großen Überstrengung sieh nie wieder erholt zu haben; sein Geist kehrte, nach Endigung des Siebenjährigen Krieges, zu seinen früheren Vergnügen zwar zurück, war heiter, fest und wirksam, aber er blieb strenger und ernster. Mit Bewunderung habe ich (wenige Vorurteile ausgenommen) die fast allgemeine Billigkeit, Mäßigung und Enthaltsamkeit des großen Königes in seinen Urteilen von Sachen, Begebenheiten und Personen mir ausgezeichnet. Es war eine selbständige, große Seele.

Und daß sein Herz den Empfindungen der Humanität, der Freundschaft, der Bruder- und Schwesterliebe, dem Zuge zu allem Großen und Guten, nicht verschlossen gewesen, zeigen hundert Stellen seiner Schriften, tausend Momente seines Lebens. In jüngern Jahren hatte er einen Brief über die Humanität geschrieben, von dem er viel zu halten scheint, den ich aber in seinen Schriften nicht finde; er sagt von ihm:

»Es scheint, man stärke sich in einer Gesinnung, wenn man seinem Geist alle Gründe vorhält, die sie unterstützen. Und dies bestimmte mich, über die Humanität zu schreiben. Sie ist, nach meiner Meinung, die einzige Tugend und soll insonderheit denen als Eigentum zugehören, die ihr Stand in der Welt unterscheidet. Ein Landesherr, er sei groß oder klein, soll als ein Mensch angesehen werden, dessen Beruf es ist, menschlichem Elende abzuhelfen, soviel er kann; er ist ein Arzt, die mancherlei Unfälle seiner Untertanen zu heilen.[34]

Die Stimme der Unglücklichen, das Seufzen der Elenden soll zu ihm gelangen. Sei es aus Mitleid mit ihnen oder aus einer Rückkehr des Gedankens auf ihn selbst, so muß ihn die traurige Lage der Leidenden rühren, und wenn sein Herz irgend Empfindung hat, werden sie Hülfe bei ihm finden.

Ein Fürst ist gegen sein Volk, was das Herz dem Körper ist. Dies empfängt das Blut aus allen Gliedern und stößt es mit Gewalt bis an ihre äußersten Enden zurück. Der Fürst empfängt die Treue und den Gehorsam seiner Untertanen; er gibt ihnen Überfluß, Glückseligkeit, Ruhe, und was irgend zum Wachstum und zum Wohl der Gesellschaft tun kann, wieder.

Dies sind Maximen, die im Herzen jedes Menschen von selbst entspringen müssen; das Gefühl gibt sie, wenn man nur etwas nachdenkt; man hat keinen großen Kursus der Moral nötig, um sie zu lernen.

Tyrannen betrachten die Sache anders. Sie sehen die Welt als für sie geschaffen an; und um über gewisse gewöhnliche Unglücksfälle erhoben zu sein, verhärten sie ihr Herz vor denselben. Wenn sie ihre Untertanen unterdrücken, wenn sie hart, gewalttätig und grausam sind, so kommt dies daher, daß sie das Böse nicht kennen, das sie verüben; sie haben es nie selbst gefühlt, darum gehen sie so leicht darüber. Sie sind nicht im Fall des Mucius Scävola gewesen, der vorm Porsenna die Hand ins Feuer steckte und dadurch die Wirkung des Feuers auf seine Hand wohl kennenlernte.

Mit einem Wort. Die ganze Haushaltung des menschlichen Geschlechts ist eingerichtet, um Menschenliebe einzuflößen. Die Ähnlichkeit der Menschen untereinander; die Gleichheit ihres Loses und das unentbehrliche Bedürfnis, das einer vom andern hat; Unglücksfälle, die die Bande des Bedürfnisses noch stärker anziehen; die natürliche Neigung, die man zu seinesgleichen hat; unsre Selbsterhaltung, die uns Humanität predigt; die ganze Natur scheint sich zu vereinigen, um uns eine Pflicht einzuprägen, die unser Glück macht und täglich neue Annehmlichkeiten auf unser Leben verbreitet.«[35]

Wenn Friederich immer so gefühlt und getan hat, als er hier schreibt (und es war gewiß sein Ernst, da er es schrieb; auch wurden ihm in den unhumansten Situationen seines Lebens diese Gesinnungen nie ganz fremde), so wollen wir ihn als einen Heiligen anrufen, daß er uns seinesgleichen humane Denker, väterliche Regenten, Ärzte und Herzen des Volks erbitten helfe. Auch wollen wir wünschen, daß alle Fürsten und Prinzen die meisten seiner Werke (sie sind ja französisch geschrieben) lesen mögen, und zwar also, als ob sie den großen König selbst hörten.


8.

Wenn König Friederichs Lob auf die Humanität Ihnen gefällig gewesen, so lassen Sie sich einige kürzere Gedanken und Maximen vortragen, die ich in diesen angenehmen Briefen bezeichnet.


»Traurige Folge der menschlichen Hinfälligkeit! der Mensen ist nicht alle Tage sich selbst gleich. Oft zerstören sich ihre Entschlüsse ebenso schnell, als sie sie faßten. Der Spanier sagt sehr vernünftig ›Dieser Mann ist brav gewesen‹. Könnte man nicht ebensowohl sagen, daß große Männer es nicht immer, nicht allezeit sind?«


»Wenn ich etwas wünschte, so wäre es, gelehrte und gescheute Leute um mich zu haben; ich glaube nicht, daß eine Sorge um sie sich nicht sehr belohnte. Zuerst ist es eine Achtung, die man ihrem Verdienst schuldig ist, sodann ein Bekenntnis des Bedürfnisses, das man hat, von ihnen Licht zu bekommen. Ich komme kaum von Erstaunen zurück, wenn ich denke, daß eine kultivierte Nation, die, vom Genie unterstützt, im Besitz des guten Geschmacks ist, den Schatz nicht kennet, den sie in ihrem eignen Schoße trägt.«
[36]

»Meine jetzige Muße läßt mir Zeit, mich zu beschäftigen, wie ich will. Sie soll mir also nützlich und eine weise Muße werden, indem ich Philosophie und Geschichte studiere und mich mit Poesie und Musik vergnüge. Ich lebe jetzt als Mensch und ziehe dies Leben der majestätischen Gravität und dem tyrannischen Zwange der Höfe unendlich vor. Überhaupt kann ich keine Lebensart, nach der Elle abgemessen, ausstehn; nur die Freiheit hat für mich Reize.«


»Wenn Personen von einem gewissen Range die Hälfte ihrer Laufbahn erreichen, so urteilt man ihnen den Preis zu, den andre nur erhalten, wenn sie die ganze Laufbahn zurückgelegt haben. Woher dieses? Entweder wir sind weniger fähig, das recht zu machen, was wir tun sollen, oder es sind niedrige Schmeichler, die unsre kleinsten Handlungen geltend machen und zum Himmel erheben. Der verstorbne König von Polen rechnete große Summen ziemlich leicht; alle Welt pries seine hohe Kenntnis der Mathematik, von der er doch kein Wort verstand. Mehrere Beispiele mag ich nicht anfahren. In unsern Tagen hat es durchaus keinen großen Fürsten gegeben, der wirklich unterrichtet war, als Peter den Ersten.« (Und auch bei diesem macht Friedrich in der Folge mit Recht große Ausnahmen.)


»Wie verschieden ist ein betrachtendes von einem handelnden Leben! Ein Mann, der sich nur mit Denken beschäftigt, kann gut denken und sich übel ausdrücken; ein handelnder Mann, wenn er sich auch mit aller ersinnlichen Grazie ausdrückte, darf nie schwach handeln; wie man z.B. dem Könige von England, Jacob I., vorwarf, daß er nie etwas Schlechtes gesagt, nie etwas Lobwürdiges getan habe. Es füget sich oft, daß die, die gegen Handlungen andrer am meisten deklamieren, es schlechter als sie machen, wenn sie sich in den nämlichen Umständen befinden. Daß es ja mir nicht also gehe! Denn leichter ist's freilich zu tadeln, als zu tun; leichter, Lehren zu geben, als sie auszuüben. Und dann lassen Menschen[37] sich ja so leicht verführen, bald durch Anmaßung, bald durch den Glanz ihres Standes oder durch Hinterlist der Bösen, daß ihr Gewissen bestrickt wird, auch wenn sie die reinsten und besten Absichten von der Welt hätten.«


»Ich habe wenig Verdienst und Gelehrsamkeit, aber viel guten Willen und eine unerschöpfliche Achtung und Freundschaft für Personen von entschiedenem Wert. Dabei bin ich alle der Beständigkeit fähig, die die wahre Freundschaft fodert.«


»Könige ohne Freundschaft und ohne Erkenntlichkeit scheinen mir dem Könige gleich zu sein, den Jupiter den Fröschen gab. Ich kenne die Undankbarkeit nur insofern, als ich selbst durch sie gelitten habe, und kann, ohne Affektation fremder, mir unnatürlicher Gesinnungen, behaupten, daß ich jeder Größe entsagen würde, wenn sie die Freundschaft ausschlösse.«


»Ich verachte die Jesuiten zu sehr, als daß ich ihre Schriften lesen sollte; ein schlechtes Herz verdunkelt bei mir die Fähigkeiten des Geistes. Überdem leben wir nur so kurze Zeit und unser Gedächtnis ist so schwindend, daß nur das Ausgesuchteste uns unterrichten sollte.«


»Die deutschen Prinzen verachten gemeiniglich die Gelehrten. Die unmodische Kleidung, der Bücherstaub, der diesen etwa anhangt, und das wenige Verhältnis, das zwischen einem kenntnisreichen Kopf und dem leeren Hirn dieser Herren stattfinden kann, macht, daß sie sich über ihr Äußeres aufhalten und den großen Mann ohne Hofkleid ganz und gar nicht gewahr werden.10 Der Höfling hält das Urteil des Fürsten zu hoch, als daß er anders als er zu denken sich getrauen sollte; sie affektieren also auch, die zu verachten, die tausendmal[38] mehr als sie selbst wert sind. O Zeiten! o Sitten! Ich, der ich mich überhaupt nicht für das Zeitalter geschaffen fühle, in dem wir leben, mag dem Beispiele meiner Herren Mitbrüder nicht nachfolgen; ich predige ihnen unaufhörlich, daß der Gipfel der Unwissenheit Hochmut sei, und glaube, daß ein großer Mann, der über mir ist, auch meine Achtung verdiene.«


»Das lebhafteste Vergnügen, das ein vernünftiger Mensch in der Welt haben kann, ist, neue Wahrheiten zu entdecken; das nächste nach diesem ist, alter Vorurteile loszuwerden.«


»Die meisten Prinzen haben eine besondre Leidenschaft für die Stammbäume, eine Art Eigenliebe, die bis auf die entferntsten Vorfahren hinaufsteigt, ja die sie nicht nur für Vorfahren in gerader, sondern auch in jeder Seitenlinie interessieret. Ihnen sagen, daß unter ihren Ahnen schlechte, mithin verächtliche Menschen gewesen, hieße ihnen ein Schimpf, den sie nie verzeihen; und wehe dem profanen Autor, der in das Heiligtum ihrer Geschichte verwegen dränge und die Schande ihres Hauses unter die Leute brächte! Wenn diese Delikatesse sich bloß auf den guten Ruf ihrer Ahnen mütterlicherseits erstreckte, so wäre er noch zu entschuldigen, aber verlangen, daß fünfzig, sechzig Vorfahren, alle nach der Reihe, die honettsten Menschen von der Welt gewesen sein, das heißt die Tugend in eine Familie bannen und dem menschlichen Geschlecht unrecht tun. Eines Tages hatte ich die Unbedachtsamkeit, in Gegenwart jemandes zu behaupten, daß ein Herr von – so etwas getan habe, das einem Kavalier nicht gezieme; unglücklicherweise war dieser Herr von – zweites Geschwisterkind mit dem, in dessen Gegenwart ich dies sagte. Er formalisierte sich sehr darüber, und als ich ihn um die Ursache fragte, mußte ich erst durch einen langen Stammbaum passieren, um meine Beleidigung zu erfahren. Da war nun kein andrer Rat, als dem Unwillen meines Beleidigten alle meine Vorfahren preiszugeben, die[39] etwa nicht verdient hätten, es zu sein. Man tadelte mich; ich rechtfertigte mich aber damit, daß jeder Mann von Ehre, jeder honette Mann meines Stammes sei und daß ich sonst keinen dafür erkennte.«


»Gern würde ich unter einem gemäßigten Klima leben, gern als Privatmann die Freundschaft und Achtung würdiger Menschen verdienen und dem entsagen, wornach die meisten lüsten und streben; aber ich fühle zu sehr, daß, wenn ich nicht Prinz wäre, ich wenig sein würde. Euch reicht euer Verdienst zu, geachtet, beneidet, bewundert zu werden; ich habe Ahnen, Wappen, Titel, Einkünfte nötig, um die Augen der Menschen auf mich zu ziehen. Ein großer Fürst fiel einmal in die Hände seiner Feinde; er sahe seine Hofleute um sich her weinen, verzweifeln ›Ach‹, sagte er, ›an euren Tränen merke ich, daß ich noch König bin!‹ Wenige Worte, aber voll großen Sinnes!«


»Brüssel und fast das ganze Deutschland ist seiner alten Barbarei noch nicht los; die Künste werden in ihm wenig geachtet, also auch wenig kultivieret. Der Adel dient unter den Truppen, oder mit sehr leichten Studien tritt er in Collegia und spricht das Recht, daß es eine Lust ist. Edelleute mit Renten leben auf dem Lande, oder vielmehr in den Wäldern, wo sie denn auch so wild werden als die Tiere, die sie jagen. Der Adel unsres Landes gleicht zwar im ganzen dem andern deutschen Adel; doch hat er mehr Lust, sich zu unterrichten, mehr Lebhaftigkeit und, wenn ich sagen darf, mehr Genie als der größere Teil der Nation, insonderheit der westfälische, fränkische, schwäbische, österreichische Adel. Dies gibt Hoffnung, daß die Künste einst auch hier, aus der untern Klasse gezogen, gute Häuser und Paläste bewohnen werden. Berlin hat (wenn ich mich so ausdrücken darf) Funken aller Künste in sich, man sieht das Genie von allen Seiten hervorglimmen, und es bedürfte nur eines glücklichen[40] Hauchs, um das Leben den Wissenschaften wiederzugeben, die Athen und Rom einst berühmter machten als ihre Eroberungen im Kriege. Ich freue mich, diese glücklichen Produktionen meines Vaterlandes zu sehen: sie sind Rosen, die unter Dornen und Disteln wachsen, Funken des Genies, die durch die Asche hervorblicken, mit denen sie unglücklicherweise bedeckt sind.« (Geschrieben im Jahr 1739.)


»Eben hatte ich einen Brief angefangen über die Mißbräuche der Mode und der Gewohnheit, als die Gewohnheit des Erstgeburtrechts mich auf den Thron rief und mir meinen Brief wegzulegen befahl. Gern hätte ich ihn in eine Satire gegen diese Gewohnheit umgeändert, wenn nicht Satire aus dem Munde der Fürsten verbannt sein müßte.«


»Gewöhnlicherweise macht man sich in der Welt von den großen Revolutionen der Reiche eine abergläubige Idee; wenn man in den Kulissen ist, sieht man, daß die größten Zauberszenen durch die gemeinsten Triebfedern, durch Taugenichte hervorgebracht werden, die, wenn sie sich öffentlich, wie sie sind, zeigten, nur den Unwillen des Publikum auf sich ziehen würden. Betrug, Hinterlist, Doppelsinn, Treulosigkeit sind unglücklicherweise der herrschende Charakter der meisten Menschen, die an der Spitze der Nationen stehen und ihnen Exempel sein sollten. In solchen Fällen ist's demütigend, das menschliche Herz kennenzulernen; tausendmal schon habe ich meine liebe Einsamkeit, meine Studien, meine Freunde, meine ehemalige Unabhängigkeit zurückwünschend bedauret.« (1742.)


»Meine Ode auf den Krieg enthält meine wahren Gedanken. Man unterscheide den Stand des Mannes von ihm selbst, man kann Krieg führen aus Gründen, ein Staatsmann sein aus Pflicht und ein Philosoph aus Neigung. Fast nie sind die Menschen an Plätzen, die sie sich selbst wählen würden, daher gibt's so viele schlechte Schuster, schlechte Priester, schlechte Minister und Fürsten.« (1749.)[41]

»Hier ist eine Apologie der armen Könige, über die jedermann glossieret; und doch beneidet jeder ihr vorgegebnes Glück hundertmal. Die Versifikation ist unvollkommen; dies Studium erfordert einen Menschen ganz; mich ziehen tausend Pflichten, tausend Beschäftigungen auseinander. Ich bin ein angeketteter Galeerensklave auf dem Schiff des Staats oder ein Pilot, der weder sein Steuer verlassen noch einschlafen darf, ohne Furcht, das Schicksal des unglücklichen Palinurs zu haben. Die Musen fodern Stille und eine gänzliche Gleichheit der Seele; keine von beiden ist mein Teil. Es gibt auch gewisse privilegierte Seelen, die im Tumult der Höfe sowohl als im Gefängnis der Bastille oder auf dem Strohsack der Reise dichten können; die meinige ist nicht von dieser Zahl. Es ist eine Ananas, die nur im Treibhause fortkommt, an frischer Luft aber verdirbt.« (1749.)


– – Doch ich ermüde Sie mit Vorzeigung ausgerissener Blumen, die eigentlich nur auf der Stelle, da sie stehen, in der Situation, die sie hervorbrachte, den schönsten Reiz haben. Stünde mir die Versifikation eines Jacobi zu Gebot, und ich hätte Ihnen die eingestreueten Verse in der leichten Manier des Originals mitgeben können, freilich, da wäre es anders!


9.

Sie wollen also, daß ich meine Blumenlese auch in den reiferen, schwereren Jahren des Königs fortsetze; Ihr Wille geschehe. Fast mit jedem Jahre wächst meine stille Bewunderung des großen Mannes, und in den Zeiten des Siebenjährigen Krieges steigt sie fast zum hohen tragischen Mitleid. Eine Seele, die zum Genuß, zur schönsten Wirksamkeit in Zeiten der Ruhe und des Friedens geschaffen war, die in jugendlichen Jahren ihren ersten und zweiten Ausflug nach dem Kranz kriegerischer Ehre gleichsam nur in der Begeisterung des Augenblicks, gelockt oder aufgelodert von Staats[42] gründen, von sogenannten Rechten und der damaligen Lage Europas, rasch und glücklich getan hatte, muß jetzt diesen leicht erworbenen Kranz schwer und teuer erkaufen. Alle Mächte Europas vereinigen sich, den schwachgeglaubten, einzelnen Mann zu erdrücken, und seine unglaubliche Tapferkeit, sein unerschütterter Mut fodert, statt ihre Rache zu besänftigen, diese nur mehr auf. Er sieht die niedrigen Urheber und Werkzeuge seines fast schon unvermeidlichen Unglücks; mehr als ein Ungewitter zieht er mit künstlich-kühner Hand auf seine Feinde selbst hernieder; und doch sammeln sich die Wolken immer furchtbarer über ihn zusammen. In diesen Augenblicken der Gefahr, des Sieges, der größeren Gefahr und des fast unvermeidlichen Untergangs sind tief aus der Seele des Helden geschriebene Briefe Dinge, die wir bei keiner andern Nation, weder bei alten noch neueren, finden. Aus Cato, Cäsars, Brutus, Otho Seele haben wir nichts dergleichen; keiner von ihnen hat auch die Gefahren bestanden, aus denen Friedrich sich, vielleicht in Jahrtausenden unerreichbar, herauszog. Da wird's merkwürdig, was dieser starke, friedliche Mann jetzt über Menschen, über das Schicksal der Welt dachte.

Sogleich der erste vortreffliche Brief (9. Oktob. 1757), der sich mit den Worten endigt:


Pour moi, menacé du naufrage,

Je dois, en affrontant l'orage,

Penser, vivre et mourir en Roi


und mehrmals übersetzt ist, enthüllet die Denkart des Königes. In andern sind fürchterliche Ausrufe mit gefaßter Stärke: »Ich kann meinen Feinden sagen, wie Demosthenes den Atheniensern: ›Wohl dann! wenn Philippus tot ist, was wäre es, ihr Athenienser? Ihr würdet euch bald einen andern Philippus[43] machen.‹ O Östreicher, euer Hochmut, eure Sucht, alles zu beherrschen, würden euch bald andre Feinde machen; der Freiheit Deutschlands und Europas wird es nie an Verteidigern fehlen!«

Indessen betrübt ihn der Tod seiner Schwester aufs zarteste, »für die er sein Leben unter dieser Unglücksfällen gern würde hingegeben haben«.

Er wird geschlagen und sagt wie Franz: »Alles ging verloren, nur nicht die Ehre.«

»Je älter man wird, je mehr überredet man sich, daß die heilige Majestät, der Zufall, drei Vierteile dieser elenden Welt regieret und daß die, die sieh die Weisesten zu sein einbilden, die größten Narren der Gattung sind, die ohne Federn auf zwei Füßen gehet, zu der wir zu gehören die Ehre haben.«


»In den großen Bewegungen, denen ich entgegengehe, habe ich nicht Zeit, zu wissen, ob jemand Pasquille gegen mich schreibt in Europa; das weiß ich und dessen bin ich Zeuge, daß meine Feinde, mich zu erdrücken, alle Kräfte aufbieten. Ich weiß nicht, ob es der Mühe lohnet.«


»Es scheint, man vergißt in diesem Kriege, was Wohlstand: sei. Die poliziertesten Nationen kriegen wie wilde Tiere. Ich schäme mich der Menschheit; ich erröte über das Jahrhundert. Lasset uns die Wahrheit gestehen: Philosophie und Künste verbreiten sich nur auf eine geringe Zahl Menschen. Die große Masse, das Volk und der gemeine Adel bleiben das, wozu sie die Natur gemacht hat, boshafte Tiere.«


»Ihr habt der Sorbonne ein Grab gemacht; baut auch dem Parlament ein Grabmal. Es radotiert so stark, daß es mit ihm bald aus sein muß.«


»Ihr wünschet Frieden; wendet euch an die, die ihn der Welt geben können. Das sind aber Leute, die ihren Kopf voll hochmütiger Projekte haben; sie wollen eigenmächtige[44] Schiedsrichter der Regenten sein, und das mögen Menschen, die wie ich denken, nicht leiden. Ich liebe den Frieden, aber keinen andern als einen guten, standhaften, ehrenvollen Frieden. Sokrates und Plato hätten wie ich gedacht, wenn sie auf dem verwünschen Punkt gestanden hätten, den ich in dieser Welt einnehme.

Glaubt ihr, daß es ein Vergnügen sei, dies alberne Leben fortzuführen? Menschen, die man nicht kennt, um sich sterben sehen und sie dem Tode selbst zu überliefern, Tag für Tag seine Bekannte und Freunde zu verlieren, seinen Ruf dem Eigensinn des Ungefährs unaufhörlich ausgesetzt zu sehen, das ganze Jahr durch in Unruhe und scheuer Erwartung zuzubringen, ohne End und Maß sein Leben und Glück; aufs Spiel zu setzen?

Gewiß, ich kenne den Wert der Ruhe, die Annehmlichkeiten der Gesellschaft und die Freuden des Lebens; auch ich wünsche glücklich zu sein, wie irgend jemand. Sosehr ich aber diese Güter begehre, sowenig mag ich sie durch Niederträchtigkeit und Ehrlosigkeit erkaufen. Die Philosophie lehrt uns, unsre Pflicht tun, unserm Vaterlande selbst mit unserm Blut treu dienen, ihm unsre Ruhe, ja unser ganzes Dasein aufopfern.«


»Trotz aller Schulen der Philosophie wird der Mensch immerhin das bösartigste Tier der Welt bleiben; Aberglaube, Eigennutz, Rache, Verrat, Undankbarkeit werden bis ans Ende der Zeiten blutige, traurige Szenen hervorbringen, weil Leidenschaften uns beherrschen, selten die Vernunft. Immer wird's Kriege, Prozesse, Verwüstungen, Pest, Erdbeben, Banqueroute geben; um solche Dinge drehen sich die Annalen der Welt. Für Unglücksfälle ist die Ägide des Zeno ge macht; die Kränze aus dem Garten Epikurs sind für das Glück.«


»Ich stehe auf dem Punkt, mich mit den Russen zu setzen; es bleiben mir also nur die Königin von Ungarn, die Mandarinen des heil. Reichs und die lappländischen Räuber fürs[45] künftige Jahr übrig. Mein Herz hat mich diesen Gang tun heißen, ein Gefühl der Menschlichkeit, das gern die Ströme Bluts versiegen machen möchte, die beinah unsre ganze Sphäre überschwemmen, das gern den Mördereien, Barbareien, Mordbrennereien und allen den Abscheulichkeiten ein Ende machen möchte, die Menschen gegeneinander ausüben und durch die unglückliche Gewohnheit, sich im Blute zu baden, Tag für Tag wilder werden. Dauret dieser Krieg fort, so muß Europa in die Finsternis der Unwissenheit zurückfallen, und unsre Zeitgenossen werden wilde Tiere. Es ist Zeit, diesen Scheußlichkeiten ein Ende zu machen. Alle dies Unglück ist eine Folge der Ehrsucht Österreichs und Frankreichs. Laß sie ihren ungeheuren Projekten Grenze setzen; laß, wenn die Vernunft sie nicht weise machen kann, sie durch die Erschöpfung ihrer Finanzen, durch den übeln Zustand ihrer Sachen weise werden! Erröten mögen sie, wenn sie hören, daß der Himmel, der die Schwachen gegen den Anfall der Starken unterstützt hat, den ersten auch Mäßigung gnug verlieh, um von ihrem Glück keinen Mißbrauch zu machen und diesen den Frieden anzutragen. Das ist alles, was ein armer, ermatteter, gereizter, gekratzter, gebissener, hinkender, geknickter Löwe Euch sagen kann.« (1759.)


»Schwert und Tod haben unter uns abscheulich gewütet, und, was das Traurigste ist, wir sind noch nicht am Ende der Tragödie. Ihr könnt leicht denken, was so grausame Stöße auf mich für Wirkung gehabt haben; ich hülle mich in meinen Stoizismus, so gut ich es kann. Fleisch und Blut empören sich oft gegen die tyrannische Herrschaft der Vernunft; sie müssen aber nachgeben. Wenn ihr mich sehen solltet, würdet ihr mich kaum wiedererkennen: ich bin alt, verfallen, greis, voll Runzeln, ich verliere Zähne und Lustigkeit. Wenn das fortwährt, wird an mir nichts überbleiben als die Tollheit, Verse zu machen, und eine unverletzbare Anhänglichkeit an meine Pflichten und an die wenigen tugendhaften Menschen, die ich kenne. Meine Laufbahn ist schwer, voll Dornen und[46] Disteln. Ich habe allen Gram erprobt, der irgend die Menschheit kränken kann und mir oft die schönen Verse wiederholet:

Beglückt, wer in der Weisen Tempel u. f.«

»Ihr eifert gegen Jesuiten und Aberglauben. Es ist gut, gegen den Irrtum zu streiten; glaubt aber nicht, daß die Welt sich je ändern werde. Der menschliche Geist ist schwach, mehr als drei Vierteile der Menschen sind zu Sklaven des ungereimtesten Fanatismus geboren. Die Furcht vor Hölle und Teufel benebelt ihnen die Augen; sie verabscheuen den Weisen, der ihnen Licht schaffen will. Der große Haufe unsres Geschlechts ist dumm und boshaft. Umsonst suche ich in ihm das Bild der Gottheit, das ihm, wie die Theologen sagen, aufgeprägt worden. Jeder Mensch hat ein wildes Tier in sich; wenige wissen es zu bändigen, die meisten lassen ihm den Zügel, wenn die Furcht der Gesetze sie nicht zurückhält.

Vielleicht findet ihr mich zu menschenfeindlich. Ich bin krank; ich leide; und habe mit einem Halbdutzend *** und *** zu tun, die einen Sokrates und Antonin selbst außer Fassung bringen möchten. Ihr seid glücklich, dem Rat des Candide zu folgen und euren Garten zu bauen; nicht jedermann in der Welt kann es so gut haben. Der Ochs muß den Pflug ziehen wie die Nachtigall singen, der Delphin schwimmen und ich Krieg führen.«


»Je mehr ich dies Handwerk treibe, desto mehr überrede ich mich, daß das Glück die größeste Rolle dabei spiele. Ich glaube nicht, daß ich es lange treiben werde; meine Gesundheit nimmt zusehends ab, und es kann leicht sein, daß ich bald in das Land wandre, wo Gram und Schmerz, wo unsre Vergnügen und Hoffnungen uns nicht mehr folgen, wo man sich in dem Zustande findet, in dem man vor der Geburt war Vielleicht belustigt ihr euch bald mit meiner Grabschrift und gebt Rechenschaft von mir, wie Babouc dem Engel Ithuriel von Paris gab – –«[47]

Gnug. Muß man nicht unwillig werden, wenn man sieht, wie ein blühender Baum, eine so große, schöne Seele, nicht vom Sturme des Schicksals, sondern von giftigen Winden und Stürmen einer herrschsüchtigen Politik weniger schlechter Menschen so gebeugt und zerknickt wird? Die feste Eiche daurete aus; der schöne Palmbaum erhob sich; seine fröhliche, jugendliche Gestalt kam ihm aber nie ganz wieder. Friedrich tat seinem Lande wohl, wie sein Geist im großen ganzen es erforderlich und nötig hielt; aber hart zu sein, hatte er wider Willen in einer schweren Schule gelernet. Er sahe die Gefahr seiner Länder, seiner Krone, die Fortdauer seiner Macht; denn er hatte sie gegen ganz Europa behaupten müssen Wie anders, als daß er fortan ernst und strenge an die Zukunft dachte und der von ihm gegründeten Monarchie wenigstens das zum Schutz ließ, was er ihr lassen konnte, Gerechtigkeit, innere Ordnung, Kriegsheere und Geld. Man verzeihe ihm, wenn er für diese Dinge auch auf harten Wegen sorgte. Die böse Politik, die leider das Staatssystem Europas ausmacht, zwang ihn dazu, und freilich gingen manche zartere Zweige der Humanität, die der an sich selbst fühlbare, fröhliche Charakter Friederichs gewiß würde angebauet haben, dabei verloren. Hat überhaupt die Menschheit in Europa einen größeren Feind als diese Politik der Höfe in jenem sogenannten großen Staatensystem nebst allem, was dazu gehöret?11


10.
An den Kaiser

Den Priester rufst du wieder zur Jüngerschaft

Des großen Stifters, machest zum Untertan

Den jochbeladnen Landmann, machst den

Juden zum Menschen. Wer hat geendet,[48]

Wie du beginnest? Wenn von des Ackerbaus

Schweiß nicht für ihn auch triefet des Bauren Stirn,

Pflügt er nicht Eigentum dem Säugling,

Seufzet er mit, wenn von Erntelasten

Der Wagen seufzt: so bürdet Tyrannenrecht

Dem Unterdrückten Landeserhaltung auf,

Dienst, den die blut'ge Faust des Stärkern

Grub in die Tafel. Und die zerschlägst du.

Wen faßt des Mitleids Schauer nicht, wenn er sieht,

Wie unser Pöbel Kanaans Volk entmenscht!

Und tut der's nicht, weil unsre Fürsten

Sie in zu eiserne Fessel schmieden?

Du lösest ihnen, Retter, die rostige

Engangelegte Fessel vom wunden Arm;

Sie fühlen's, glauben's kaum. So lange

Hat's um die Elenden her geklirret.

Wir weinten Unmut, daß uns der Römer Rom

Zwar nicht beherrschte, aber doch peinigte;

Und blutig ist die andre Träne,

Daß uns der Römlinge Rom beherrschet,

Daß Deutschlands Kaiser Bügel des Zelters hielt,

Daß Deutschlands Kaiser nackt um die Teufelsburg

Herging, erfror, wenn nicht Mathildis –

Aber du kommst kaum und siehst, so siegst du.

Nun mag der dreikrontragende Obermönch

Mit allen seinen purpurbemäntelten

Mönchlein das Kanonsrecht, wie weit es

Walte, beschielen: denn du wirst sehen!
[49]

So bewillkommte Klopstock den Kaiser Joseph auf seinem Kaiserthrone; mit welcher sonderbaren Empfindung lasen wir die Ode, die ich vorher nicht gekannt hatte, eben jetzt nach seinem vernommenen Tode. Es entspann sich darüber zwischen meinem Freunde und mir eine Art elegischen Gesprächs, das ich Ihnen hersetzen will, soweit ich mich dessen erinnere.


Gespräch
nach dem Tode des Kaiser Josephs II.

A. Ein sonderbares Ding ist der Tod eines Monarchen. Wir sahen ihn bei Joseph vorher, wir wußten, daß der Kranke sich ihm nahte; und jetzt, da über ihm die Totenglocken tönen, welch eine andre Empfindung! Ohne ihn gekannt und von ihm eine Wohltat genossen zu haben, hätte ich weinen mögen, da ich die letzten Umstände seines Lebens las. Vor neun Jahren, da er auf den Thron stieg, ward er als ein Hülfsgott angebetet und von ihm das Größeste, Rühmlichste, fast das Unmögliche erwartet; jetzt trägt man ihn als ein Söhnopfer der Zeit zu Grabe. Hat je ein Kaiser, hat je ein Sterblicher, möchte ich sagen, mehr gewollt, sich mehr bemühet, mehr angestrebet, rastloser gewirket als er? Und welch ein Schicksal, vorm Angesichte des Todes in den besten Lebensjahren die Erreichung seiner Absichten nicht nur aufgeben, sondern die ganze Mühe und Arbeit seines Lebens förmlich widerrufen, feierlich ausstreichen zu müssen, und so zu sterben! Mir ist kein Beispiel in der Geschichte bekannt, daß es einem Monarchen so hart gegangen wäre.

B. Das war das Schicksal des Monarchen; setzen Sie noch das Verhängnis hinzu, das ihn als Menschen traf. Das einzige, was er in seinem Hause mit Zärtlichkeit liebt, der letzte Gegenstand seiner Familienhoffnung wird ihm genommen – und damit der Schmerz so empfindlicher sei, eben nach dem Aufblick der Freude, unerwartet genommen! Sein[50] Liebling muß so dicht vor ihm das Opfer des Grabes werden, daß seine Leiche die ihrige aus dem Kaiserhause gleichsam wegdrängt und sein Leben sich nur solange zu fristen scheint, damit vor seinen Augen noch dessen letzte Freude zerknickt werde! – »Begrabet sie,« sprach er, »damit für meine Leiche Platz werde!« Ein einziges Schicksal!

A. Der Unglückliche konnte zuletzt nicht sagen: »Ich kam, ich sah, ich siegte!,« kaum: »Ich kam, ich sah, ich wollte!«

B. Beruhigen Sie sich. Auch darin schon liegt viel, wie er sagen zu können: »Ich sah und wollte!«

Er hat viel, sehr viel, und weniges müßig gesehen. Allenthalben, wo es in andern Ländern besser war, oder ihm besser zu sein schien, sammlete er mit rastloser Tätigkeit Gedanken, Entwürfe in seine Seele –

A. Die der Tod ihm jetzt alle raubet! – Ja, ja! er hat vieles, fast zu vieles gesehen. Nicht mir die Länder Europas, die er bereisete, nicht nur das Innere seiner Länder, die er als Erbe und Mitregent früh und lange genug bis zum kleinsten Detail kennenlernte, nicht dies nur! Er sah eben damit auch Gruben des Schlammes, die ihn erbitterten, Pfützen und Moräste von Untreue, Schwelgerei, Üppigkeit, Trägheit, Unordnung, die er mit Gewalt ausfüllen und zum gesunden Garten machen wollte und in deren Abgrunde er erliegt. Der Unrat schlägt über ihm zusammen, und vielleicht kommt die ganze alte Verfassung wieder.

B. Das wollen wir nicht glauben. Er bekommt einen Nachfolger, der ein geprüfter Haushälter, ein versuchter Regent ist, von dem Joseph selbst zum Teil gelernt und geborgt hatte –

A. Und doch wollte er, fast ohne Ausnahme, der letzten Absicht nach, lauter Billiges, Nützliches, Gutes! Oft war, was er wollte, nur erste Pflicht der Vernunft, der Humanität, der gesellschaftlichen Rechte; an etwas Außerordentliches und Überfeines war während seiner Regierung lange noch nicht zu denken. Dennoch erregt er in allen Provinzen und Ländern, auch bei Ständen, denen er am meisten helfen[51] wollte, murrende Unzufriedenheit; er stirbt beim Ausdruck eines allgemeinen Ungewitters, des Aufruhrs in seinem weiten Reiche –

B. Wollen wir nicht, m. Fr., diesen Ort verlassen, wo die Totenglocken uns übertäuben? Was hilft über einen Unglücksfall das bloße Staunen? Wir wollen freie Luft suchen und uns darüber frei unterreden.

(Wir gingen auf eine angenehme Höhe, auf der die zahlreichen Dörfer der ringsum liegenden Ebene ein angenehmer Anblick waren. Die Totenglocken, die von den Landkirchtürmen in der Entfernung tönten, machten eine sanftere Harmonie, und unser Gespräch knüpfte sich bald von neuem an.)

B. Woher glauben Sie denn, daß das ungewöhnliche Schicksal Josephs gekommen sei? Alle Dinge in der Welt haben ihre Ursache.

A. Wie mich dünkt, stand er dem großen Friedrich zu nahe; und es war Natur der Sache –

B. Wieso zu nahe? Friedrich hat ihm doch nicht geschadet. Er hat ihm zu einem größern Schlesien, den Königreichen Galizien und Ludomirien geholfen; aus dem Bayrischen Sukzessionskriege gegen Friedrich kam Joseph auch mit fast unerwarteter Ehre. Überdem hat Friedrich von ihm meistens sehr günstig geurteilt, und der alte König glaubte wohl nicht, daß Joseph ihm sobald nachfolgen würde.

A. So meine ich's nicht. Denken Sie sich die Lebensgeschichte des Kaisers. Mit ihm als einem Säuglinge mußte seine Mutter nach Ungarn flüchten und ihn als einen Gegenstand des Mitleidens den Ständen zeigen; vor wem flüchtete sie? gegen wen erbat sie sich Mitleid und Beistand? Was war also natürlicher, als daß der Name Friedrichs dem Kinde und Jünglinge oft genannt werden mußte; denn eben auch die Jahre, in denen der Geist des Menschen aufwacht, fielen bei Joseph in die Zeit des Siebenjährigen Krieges –

B. Dem er dazu nicht beiwohnen durfte!

A. Notwendig ward Friedrich ihm als Nachbar, als Feind[52] seines Hauses, noch mehr aber als der König und Kriegsmann, für den er damals mit einem ganz einzelnen Glück und Ruhm galt –

B. Und immer gelten wird! –

A. Ein Gegenstand der dringendsten Nacheiferung.

B. Und worin eiferte er ihm zuerst nach?

A. In allem. Er wollte selbst regieren, wie Friederich.

B. Das Selbstregieren ist ein erhabener Gedanke; wäre es aber vom Alleinbefehlen nicht sehr unterschieden? Friedrich teilte die Geschäfte, die auszuführen waren, mit großem Bedacht nicht nur ein, sondern auch aus. Er verrichtete, was für ihn gehörte, mit Leichtigkeit und überließ andern, was sie tun sollten.

A. Das tat Joseph auch. Haben Sie das Reglement nicht gelesen, das er bei seiner zweiten Reise nach Italien den Chefs aller seiner Departements nachließ? Er wollte nur befohlen haben, und sie sollten ausführen; sie sollten seine Befehle selbst nach Ort und Stelle modifizieren.

B. Das ist mehr, als ein Gesetzgeber sonst zu verstatten pflegt. Aber auf die Geschäfte und die Geschäftigkeit des Monarchen selbst wieder zu kommen, Friedrich sah nicht nur, sondern er übersah auch vieles, sobald er nur seinen Hauptzweck erreichte.

A. Ob dieses ein uneingeschränktes Lob wäre?

B. Dafür gebe ich es auch nicht; genug, als ein einzelner Mensch erreichte er damit seinen Endzweck. Er blickte in das Detail der Dinge nicht zu tief, damit er sich nicht verwirrte.

A. Die Ersparung würde Joseph mit der Zeit auch gelernt haben.

B. Friedrich fing nicht zuviel, nicht alles auf einmal an.

A. Joseph tat's, weil für ihn so viel, ja alles zu tun war. Vielleicht ahndete er, daß er nicht lange leben würde; zudem verwickelte ihn eins ins andre; er glaubte, nichts könne ganz gesehenen, wenn nicht alles begonnen würde. Hatte er darin so ganz unrecht?[53]

B. Nicht unrecht, aber es ging über Menschenkräfte. Überdem zerstreuete Friedrich sich nicht, er reisete nicht –

A. Dem Kaiser waren diese Zerstreuungen Belehrung; sie waren ihm das einzige Vergnügen, seiner Gesundheit selbst unentbehrlich.

B. Friedrich, der in jüngern Jahren zu reisen außerordentliche Lust hatte, entsagte, sobald er Regent war, allen Reisen in fremde Länder; er betrachtete sich als Steuermann auf dem Schiff seiner Staaten. So angenehm er in Gesellschaften hätte werden können, so begnügte er sich dennoch an einer Gesellschaft weniger erlesenen Freunde und wählte sieh eine andre noch einsamere Ergötzung, die er unausgesetzt, obwohl sehr regelmäßig trieb, ja die ihm bald so unentbehrlich ward als den Morgenländern das Opium –

A. Sie meinen die Lektüre?

B. Die Lektüre und Schriftstellerei, das Lesen und Schreiben; beide sind voneinander auch vielleicht unzertrennlich. Durchs Schreiben lernt man lesen und hören, durchs Hören lernt man schreiben und wird dazu getrieben, begeistert.

A. Ob das aber einen Regenten nicht zu sehr zerstreuen möchte? Kaiser und Autor!

B. Autor muß ein Kaiser und jeder Regent unausbleiblich werden, indem er Gesetze, Verordnungen bekanntmacht. Soll er also nur vor fremde Werke seinen Namen schreiben, so schreibet er ihn meistens nur vor Werke, deren er sich selbst schämet.

A. Das war Josephs Fall nicht. Er schrieb selbst Gesetze.

B. Und großenteils vortreffliche. Glauben Sie aber, daß das ewige Gesetzschreiben einem Regenten genug ist, zur geistigen Erheitrung, zur Verjüngung seiner Seele? Friedrich las und schrieb bloß und allein zu Bildung seines Geistes, zur Erfrischung und Ordnung seiner Gedanken: dann vergaß er Politik und Staatssorgen. Er lebte unter den Alten, dachte mit ihnen, mit großen Männern einer edlern Zeit. Er stärkte sich damit in jener hohen Einfalt fester Grundsätze und der Erfüllung seiner Pflichten; er ward selbst ein Alter –[54]

A. Welches alles freilich dem immertätigen Joseph entgehen mußte! –

B. Ihn, scheint es, hatte die Muse, als er geboren ward, mit ihrem himmlischen Auge nicht gesegnet. Jesuiten hatten ihn nicht gelehrt, was Friedrich in der schweren Schule seiner Jugend durch eignen Aufschwung seines Geistes sich selbst lehrte.

A. Von Schriftstellern soll er überhaupt nicht groß gedacht haben.

B. So wenig groß, daß er den ganzen Bücherhandel für einen Käsehandel ansah. Ihm war also die Hauptquelle der innern höheren Freude und Ermunterung versagt, aus welcher Friedrich schöpfte. Er wußte nur in unsrer Zeit zu leben; daher auch sein Zeitalter unklassisch geblieben.

A. Es hat indessen doch vortreffliche Schriftsteller in Wien, in Böhmen, selbst in Ungarn unter ihm gegeben.

B. Unter ihm, aber nicht durch ihn.

A. Bei Friedrich mochte das derselbe Fall sein.

B. Friedrich fand die Literatur seiner Länder auf einem Fuß, daß sie sich selbst forthelfen konnte. Sie war sogar gegen die Barbarei seines Vorgängers bestanden; mithin, sobald er nur die Freiheit zu denken nachließ und selbst einen großen, edlen Geschmack zeigte, so eiferte man nach, ja man flog voran.

A. Auch Joseph verstattete die Freiheit zu denken.

B. Vortrefflich! und noch edler, daß er sie nie zurückrief, wenn die Freiheit gleich Frechheit ward und ihn selbst antastete. Möge dieser große Geist sich auf seine Nachkommen fortbreiten! Damit aber erfüllte Joseph die Hoffnungen lange nicht, die man fast unglaublich von ihm hatte –

A. Überspannte Hoffnungen!

B. Nicht überspannte, weil alles für ihn bereitstand und nur auf seinen Wink wartete. Welch ein Zeitalter hätte Joseph erwecken können, für sich und für andre! Bei dem unendlich vielen, was er sah, übersah er dieses.[55]

A. Der deutschen Sprache und Schaubühne indes hat er doch genutzet.

B. Ich glaube es. Und wieviel andern hätte er mit der leichtesten Mühe nutzen können, wenn ihm von Kindheit auf der Geschmack daran beigebracht wäre! Unglücklich ist ein künftiger Regent, dem in seiner Jugend der Quell verschlossen oder trübe gemacht wird, der ihm in seiner künftigen, ewig zerstreuenden und ermüdenden Laufbahn doch allein die schönste Erquickung geben kann und muß. Nur durch die Wissenschaften gewinnt ein Regent das Maß seiner selbst, eine Sammlung seiner Gedanken, ein geistiges Organ, die Dinge anzusehen und zu genießen. Ohne Liebe zur Wissenschaft bleibt er ein sinnlicher Mensch, dem bei aller seiner Tätigkeit von außen in entscheidenden Fällen dennoch das innere Auge, das innerste Herz zu fehlen scheinet.

(Hier verbreitete sich unser Gespräch auf einzelne verdiente Männer in den österreichischen Staaten, auf die reiche. Ernte, die in diesem weiten Felde für die künftige Zeit zu erwarten stehet; endlich beschieden wir uns auf den morgenden Tag zu dieser Stunde wieder auf diesen angenehmen Hügel. Und wir setzten das Gespräch fort:)


B. Mich dünkt, aus unserm gestrigen Gespräch erhellete, daß Joseph dem alten Könige nicht in allem, nicht im Vornehmsten nachgeeifert habe; wissen Sie etwas anderes, worin dieser ihm schädlich gewesen?

A. In dem Kriegs-, in dem Eroberungsgeist, den er ihm wider Willen einflößte.

B. Friedrich ihm? Soviel ich weiß, war seit dem Siebenjährigen Kriege dem großen Könige die Lust zu kriegen ganz vergangen; er suchte und predigte Frieden. Zur Teilung Polens tat nicht er den Vorschlag; und als er ihn annahm, begnügte er sich mit dem kleinsten Teil des Erwerbes. Seinetwegen hätte Joseph immer in Ruhe regieren und seine Staaten ordnen können; ja, als er nach Bayern griff,[56] setzte eben Friedrich sich seinem Ländererwerb bloß in der Absicht entgegen, daß künftig ein so böser Zunder zu Kriegen, der Ländererwerb, in Deutschland nicht mehr statthaben sollte. Mich dünkt, dieser Habgeist dorfte Joseph nicht eben anderswo herkommen; leider war er ja die ererbte Politik des Habsburgischen Hauses. Joseph dachte, wie bekannt ist, an die Länder, die Östreich hatte aufopfern müssen, und vergaß, wie es zu manchen Ländern gekommen sei. Offenbar war auch, wenigstens im damaligen Moment, der Zeitgeist für dergleichen Erwerbe nicht gestimmt. Mit seinen Ansprüchen auf Bayern und die Schelde verlor der Kaiser das Zutrauen Europas; mit Anmaßungen in Deutschland verlor er das Zutrauen des Reichs, vielleicht mehr, als er's verdiente. Mit dem traurigen Türkenkriege endlich –

A. Denken Sie nicht an diesen Krieg. Feldherrn, Freunde, Gesundheit, Ruhe und Leben opferte der zu freigebige Bundsgenoß einem Feldzuge auf, der ihm vielleicht hätte fremde sein mögen

B. Und fremde sein müssen, da die innere Einrichtung seines Reichs, sein männlich großes Werk, alle seine Kräfte foderte. Jetzt, indem er die Krim durchwanderte, wohin nie ein römischer Kaiser gekommen war und nie einer zu einem solchen Zweck hätte kommen mögen, fingen die Niederlande an zu glühen.

A. Und im unglücklichen Türkenkriege loderten fast alle Provinzen in hellen Flammen auf. Verwünscht sein überhaupt alle Eroberungskriege! Aus dem zivilisierten Europa wenigstens sollten sie durch einen allgemeinen Fürstenbund alle verbannt sein. König Friedrich mit seinem eroberten Schlesien, das er durch seinen Siebenjährigen Krieg schwer gnug verteidiget hat, möge die Reihe der Eroberer, als beinah unübertrefflich, schließen!

B. So werden auch in Friedenszeiten die deshalb gemachten drückenden Anstalten aufhören. Glauben Sie, m. Fr., reine Bemühungen zum Besten der Menschheit können in einem[57] Staat schwerlich gedeihen, solange der Eroberungsgeist die Fahne schwingt und die erste Staatslivrei träget. Wir sind sodann und bleiben, was wir bereits zu Tacitus' Zeit waren, »auch im Frieden zum Kriege gewaffnete Barbaren«.

A. Das Lob des Kriegshelden gebe ich gern auf und beklage vielmehr, daß Joseph diesen Dienst auch persönlich sich so sauer werden ließ, als selten ein gemeiner Soldat tun würde.

B. Friedrich war nie Soldat; er war Feldherr.

A. So wollen wir denn lieber von Josephs Feldzügen gegen den Aberglauben, gegen die Intoleranz und Pfäfferei reden. Hier ist doch sein Verdienst unstreitig.

B. Unstreitig; ich hoffe, auch unsterblich.

A. Es ward ihm auch sauer gnug. Die Hyder gewann immer neue Köpfe. Und doch war im meisten seine Absicht ebenso unverkennbar als gerecht, nützlich, unentbehrlich. Was war z.B. rechtmäßiger, als daß er die Geistlichkeit seines Landes fremder Gerichtsbarkeit, die Sünden seines Landes fremder Dispensation entnahm?

B. Oder billiger als die Freiheit, die er der Bücherzensur gab?

A. Oder pflichtmäßiger, als daß er die Klöster verminderte und den Unterricht des Volks vermehrte?

B. Oder rühmlicher, als daß er alle Religionsparteien vor Bedrückungen schützte? Aber, m. Fr., wer hatte ihm bei diesem allen die Hände binden können?

A. Sie kennen die Hyder nicht!

B. Wenn der Kaiser es unverrückt gewollt, wenn er bei jedem Schritt, den er tun wollte, die Folgen überdacht, die Auskunft gegen sie zum voraus bestimmt, soviel möglich alle Ärgernisse vermieden, sodann aber auch ruhig den Bann oder das Interdikt erwartet hätte.

A. Dazu wäre es wohl nie gekommen; die innern Verdrießlichkeiten und Unordnungen aber waren desto größer.

B. Lassen Sie es uns gestehen: an denen der Kaiser zum Teil selbst schuld war. Durch Nachgeben, durch Ärgernisse, durch unvorgesehene Folgen u. f. Überhaupt scheinet es,[58] daß er bei der Religionsänderung auf keinen festen Grund gebauet habe; alles blieb schwankend, und die harte Behandlung der Deisten in Böhmen –

A. Diese war eine Übereilung!

B. Nein! es war eine Folge des Unwillens, daß sich diese Leute von ihm selbst nicht bekehren lassen wollten. Ein andrer Regent hätte sich gefreuet, ein Völkchen solcher Art zu finden; und wenn er's mit seinem Schutze beehrt hätte, würde er hie und da vielleicht nicht unverwerfliche Funken erweckt haben. Jetzt ward der Name, den jeder hochschätzen muß, er sei Christ, Jude, Türk, Heide, der Name Deist vom toleranten Joseph gemißhandelt, das tut mir weh, für ihn selbst und zum Besten der Menschheit.

(Hier verbreitete sich das Gespräch abermals auf mehrere Anstalten des Kaisers, auf die Beschaffenheit und die Verteidiger seines Kirchenrechts u.f.; am folgenden Tage endlich kamen wir zu den Hauptmerkwürdigkeiten seiner Regierung.)

A. Daß Joseph sich des unterdrückten Landmanns annahm, wird also wohl sein größester Ruhm bleiben.

B. Sein größester, und wahrlich ein humaner Ruhm. Golden sind die Grundsätze, die er in mehreren Befehlen äußert: »Ist es nicht Unsinn zu glauben,« sagt er, »daß die Obrigkeiten das Land besessen, bevor noch Untertanen waren, und daß sie das ihrige unter gewissen Bedingungen an die letztern abgetreten haben? Müßten sie nicht auf der Stelle vor Hunger davonlaufen, wenn niemand den Grund bearbeitete? Ebenso absurd wäre es, wenn sich ein Landesfürst einbildete, das Land gehöre ihm und nicht er dem Lande zu; Millionen Menschen sein für ihn und nicht er für sie gemacht, um ihnen zu dienen.«

A. Ähnliche Stellen sind in allen seinen Befehlen. Er kannte den Quell des Verderbens und nahm sich seiner bis auf den Grund an. Jede Saite des menschlichen Elends hat er berühret.

B. Daß Joseph dies tat, bleibt sein ewiger Ruhm, wenn er[59] gleich nicht allenthalben durchdrang. Seine Verordnungen gegen die Leibeigenschaft, über Majorate, Steuern u. f. enthalten so viel Merkwürdiges, daß eine spätere Zeit gewiß besser und sichrer verfolgen wird, was er hie und da übereilt angab. Vielleicht trauete er gelesenen Theorien zu Sehr, tat große Schritte und lebte nicht lange gnug, seine Schritte zu behaupten.

A. Welchen Widerstand hat er auch hierin erfahren!

B. Einen größeren, als ihm selbst die Pfaffen in ihrem Kreise entgegensetzen konnten. Der Widerstand wird immer wiederkommen, sobald ein Regent sich des Landmanns annimmt, zumal in denen von slawischen Nationen bewohnten Ländern. Hier gilt's aber, was Kaiser Siegmund sagte: »Wer über ein Ding nicht springen kann, muß drunter wegkriechen.«

A. Das dünkte Joseph nicht der königliche Weg.

B. Drum ist er auch dem Sprunge erlegen. Alles, m. Fr., läßt sich in der Welt nicht auf einmal, nicht mit Gewalt ausführen, dazu ohne Gehülfen, ohne Werkzeuge, woran es dem Kaiser sehr fehlte.

A. Das wundert mich indes, daß er auch das Volk nicht mehr gewann, gegen welches er doch so popular war. Er Suchte das Beste desselben so entschieden! –

B. Stieß aber dabei auch das Volk in manchem so vor die Stirn, beleidigte unschuldige, ja angenehme Vorurteile desselben so sehr, daß der arme Haufe von Pfaffen und andern sich gegen seinen eignen Wohltäter selbst ins Netz jagen ließ.

A. Welche unschuldige Vorurteile des Volks hat er beleidigt?

B. Aus vielen führe ich nur wenige in; zuerst das Vorurteil der Sprache. Hat wohl ein Volk, zumal ein unkultiviertes Volk, etwas Lieberes als die Sprache seiner Väter? In ihr wohnet sein ganzer Gedankenreichtum an Tradition, Geschichte, Religion und Grundsätzen des Lebens, alle sein Herz und Seele. Einem solchen Volk seine Sprache nehmen oder herabwürdigen heißt ihm sein einziges unsterbliches[60] Eigentum nehmen, das von Eltern auf Kinder fortgeht.

A. Und doch kannte Joseph mehrere dieser Völker persönlich und sehr genau.

B. Um so mehr ist's zu verwundern, daß er den Eingriff nicht wahrnahm, den er sich damit in ihre beliebtesten Rechte erlaubte. »Wer mir meine Sprache verdrängt (glaubt der Idiot nicht ungründlich), will mir auch meine Vernunft und Lebensweise, die Ehre und Rechte meines Volks rauben.« Wahrlich, wie Gott alle Sprachen der Welt duldet, so sollte auch ein Regent die verschiednen Sprachen seiner Völker nicht nur dulden, sondern auch ehren.

A. Er wollte aber eine schnellere Betreibung der Geschäfte, eine schnellere Kultur bewirken.

B. Die beste Kultur eines Volks ist nicht schnell; sie läßt sich durch eine fremde Sprache nicht erzwingen. Am schönsten und, ich möchte sagen, einzig gedeihet sie auf dem eignen Boden der Nation, in ihrer ererbten und sich forterbenden Mundart. Mit der Sprache erbeutet man das Herz des Volks, und ist's nicht ein großer Gedanke, unter so vielen Völkern, Ungarn, Slawen, Wlachen u.f., Keime des Wohlseins auf die fernste Zukunft hin ganz in ihrer Denkart, auf die ihnen eigenste und beliebteste Weise zu pflanzen?

A. Was brauchte Joseph dazu für Hände! Ihm schien es ein größerer Gedanke, alle seine Staaten und Provinzen womöglich zu einem Kodex der Gesetze, zu einem Erziehungssystem, zu einer Monarchie zu verschmelzen.

B. Ein Lieblingsgedanke unsres Jahrhunderts! Ist er aber ausführbar? ist er billig und nützlich? Brabanter und Böhmen, Siebenbürger und Lombarden, stehen sie auf einer Stufe der Kultur? gehören sie also in ein Institut der Erziehung? in einen Kodex der Gesetze und Strafen? Gott selbst hat sich eine solche Zusammenschmelzung nicht erlaubt; daher er jedes Volk nach seiner Weise unterrichtet.

A. Leider war der ganze Normalzuschnitt der Kollegien und Schulen ein exjesuitischer, armer Begriff! –[61]

B. Der indessen ganze Völker aufbrachte. Über Armseligkeiten solcher Art empörte sich die Universität Löwen, die Niederlande machten dem erregten Feuer gerne Platz; so griff es weiter! –

A. Und doch meinte es auch hierin Joseph gut mit den Völkern. Was er ihnen gab, war freilich nicht das Beste, aber doch ein Besseres, als sie besaßen. Er war selbst nicht besser erzogen worden

B. Und seine Gesetzbücher?

A. Mit denen ging er freilich etwas schnell zu Werk.

B. In einer notdringenden Sache mußte die Bahn gebrochen werden. Was ich dabei am meisten bedaure, ist, daß Joseph durch manche Gesetze seinen eignen Absichten völlig entgegenzuarbeiten schien.

A. Zum Beispiel?

B. Zum Beispiel in seinem Kriminalkodex die Häufung der Verbrechen gegen den Staat.

A. Dagegen er ja aber die Verbrechen der beleidigten Majestät aufhob.

B. Geringe Aufopferung gegen ein viel größeres Un heil, dem Platz gemacht wurde. Zum Verbrechen gegen den Staat kann alles, auch das kleinste Vergehen gegen die Polizei gemacht werden. Denn was wäre nicht gegen den Staat, sobald man statt der sichtbaren, doch nur leibhaften Majestät dies willkürliche, unbestimmte Phantom auf den Thron erhöbe?

A. Freilich, auch die mitleidswertesten Krankheiten der Natur können sodann zu Rebellen gegen den Staat gemacht werden, z.B. der unglückliche Selbstmord. Der Ärmste der Menschen hat sich dem Staat entzogen; mithin müssen alle körperliche Beschimpfungen, die niedrigsten Schläge sein Los sein. Was die gütige Natur selbst nicht verhindern konnte, will der Monarch im Namen des Staates durch knechtische Beschimpfungen nicht verhindern, sondern rächen und strafen.

B. Schweigen Sie, Freund. Die Vernachlässigung, ja ich möchte[62] sagen, die Vernichtung des Gefühls für Ehre und Schande hat mich in Josephs Gesetzgebung ganz irre gemacht. Vernichte das Gefühl der Ehre, den Namen der Familie und Verwandten, die den Toten gebührende Achtung u.f.; womit willst du es ersetzen? Die Natur selbst sträubt sich gegen solche Einrichtungen, die Joseph daher bald selbst einschränken, einstellen mußte oder auch bald unglücklicherweise nicht einstellte. In wenigen Jahren hätte er auf Straßen und Gassen zwischen lauter Verbrechern gegen den Staat wandeln müssen, ein fürs Volk, für den Regenten und für alles, was Mensch oder Halbmensch ist, abscheulicher Anblick! –

A. Ich weiß selbst nicht, wie Joseph bei seinem übrigens guten Herzen zu diesem Mangel an Mitempfindung und Delikatesse kam.

B. Ein Wort würde Ihnen dies erklären. Können Sie es leugnen, daß bei Joseph der Schein der Selbstherrschaft das meiste, ja alles verderbte?

A. Kaum wage ich's zu leugnen. Er wollte das Beste, aber er wollte es als Despot. Selbst in dem schönen, ich möchte sagen, väterlichen Aufsatze, den er an die Chefs seiner Kollegien schrieb, von dem wir gesprochen haben, sind davon Spuren.

B. Und die willkürliche Verkürzung zugesicherter Gehalte? könnte manche derselben auch die äußerste Not entschuldigen?

A. Kaum.

B. Und die Benutzung der Waisengelder für den Staat? Und die Art der Klosteraufhebung und der Veräußerung geistlicher Güter? Und die Verwaltung der Religionskassen? Und die Konduitenlisten? Und die Verfügungen auf dieselbe? Warum ließ er sich in Ungarn nicht krönen? warum entzog er den Ungarn ihre Krone? Ich könnte noch lange so fragen.

A. Und doch war er in seinem mühseligen Leben nichts weniger als ein Sardanapal. Er diente dem Staat als Taglöhner, als unablässiger Werkmann.[63]

B. Wie gefährlich ist's, auf der oder jener Stelle, aus der oder jener Fürstengattung zum Thron, zu Thronen geboren zu sein! Eine unglückliche Fee bringt an der Wiege des Prinzen einen unauslöschlichen Querstrich in die Seele des Kindes und gibt ihm die schreckliche Verwünschung mit, daß nach Verhältnis der besten Bemühungen des unglücklichen Halbgotts der Querstrich für ihn selbst und andre unzerstörlich wachse.

A. Unglücklich!

B. Wem unterlag also Joseph? Nicht der Schwachheit der menschlichen Natur, sondern der geglaubten und von Kindheit auf genährten Allgewalt des Selbstbeherrschers. Nicht das Schicksal, die Natur der Dinge, der Wille seiner Untertanen hat ihn gebeuget.

(Natürlicherweise ging das Gespräch hier auf eine Menge einzelner Umstände seines Lebens und Todes über, die mein Freund wußte; es erhob sich endlich wieder:)

A. Seine Fehler hat Joseph schwer gebüßet –

B. Und in sein Grab genommen; das Gute, das er gewollt und anfangsweise bewirkt hat, wird, ob wohl einesteils in zerfallenden Resten, bleiben und dereinst glücklicher an den Tag treten; denn es ist dem größten Teile nach ein reines Gute zum Ertrage der Menschheit. Er hat es seinen Nachfolgern schwer gemacht –

A. Ich dächte, leicht gemacht: sie dürfen nur seiner Bahn folgen.

B. Vorderhand schwer gemacht. Er hat an allen Säulen gerüttelt und den Staat beweget. Wer künftighin eine Säule nur angreift, wird die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen, und man wird ihn durch Liebkosungen und Schreckbilder von dem Werk abzuziehen suchen, das Joseph begann und unmöglich endigen konnte. Er hat die Bedürfnisse seiner Staaten tiefer gekannt als vielleicht kein Regent unsrer Zeiten.

A. Und emsiger besorgt als vielleicht kein Regent unsrer Zeiten.[64]

B. Oft ist der Wille größer als die Tat, das Unternehmen edler als die Ausführung. Ich weiß nicht, ob viele nach seinem Tode viel zu seinem Lobe schreiben werden; aber was man dazu aus Ansicht der Dinge schreibt, wird die billigere Nachwelt gutheißen, seinen Schatten ehren und nicht mehr mit Bedauren, sondern mit frohem Erstaunen einst sagen: »Auch er schon sah dies und wollte!«

A. Kennen Sie seinen Brief, den er im Jahr 1784 an die Stadt Ofen schrieb, als sie ihm eine Ehrensäule setzen wollte? Hier ist er:

»Wenn die Vorurteile werden ausgewurzelt und wahre Vaterlandsliebe und Begriffe für das allgemeine Beste werden beigebracht sein; wenn jedermann in einem gleichen Maße das Seinige mit Freude zu den Bedürfnissen des Staats, zu dessen Sicherheit und Aufnahme beitragen wird; wenn Aufklärung durch verbesserte Studien, Vereinfachung in der Belehrung der Geistlichkeit und Verbindung der wahren Religionsbegriffe mit den bürgerlichen Gesetzen; wenn eine bündigere Justiz, Reichtum durch vermehrte Population und verbesserten Ackerbau; wenn Erkenntnis des wahren Interesse des Herrn gegen seine Untertanen und dieser gegen ihren Herrn; wenn Industrie, Manufakturen und deren Vertrieb, die Zirkulation aller Produkte in der ganzen Monarchie unter sich werden eingeführt sein, wie ich es sicher hoffe: alsdann verdiene ich eine Ehrensäule, nicht aber jetzt.«

B. Wenn dies alles geschehen ist, bedarf der große Wollende keiner Ehrensäule mehr; sein Unternehmen, sein schwerer Anfang ist ihm allein schon ein Koloß für die Nachwelt.

So endete unser Gespräch; und die Glocken verhallten. Wünschen Sie nicht auch mit mir ein Leben Josephs zur Lehre für die Nachwelt?[65]


11.

Wie kommt es, m. Fr., daß unsre Poesie, verglichen mit der Poesie älterer Zeiten, an öffentlichen Sachen so wenig teilnimmt? Die Poesie der Hebräer in den heiligen Büchern ist ganz patriotisch; die Poesie der Griechen nach ihren Hauptarten nahm in den besten Zeiten sehr vielen, die Poesie der Römer einen bei weitem schon geringeren Anteil an öffentlichen Begebenheiten und Geschäften. Seitdem endlich die Barden und Leiermänner ziehender Heere Trompetern und Paukern ihre Stellen überließen, seitdem –

Doch sofern beantworte ich mir die Frage selbst, auf die ohnedem andre bereits geantwortet haben. Wie kommt's aber, daß auch seitdem die Dichterei gedruckte Kunst ist, ihr Anteil an der gemeinen Sache zu verschiedenen Zeiten so ungleich gewesen und jetzt so gar gering zu sein scheinet? Mehrere tapfere Gedichte auch aus unserm Vaterlande von Luther, Opitz, Logau und nach einem großen Sprunge der Zeiten von Kleist, Gleim, Uz, Klopstock, Stolberg, Bürger u.a. sind uns in Herz und Seele geschrieben; ist diese Muse anjetzt entschlafen? Oder hat sie, wie Baal, etwas anderes zu schaffen, daß sie vom Geiste der Zeit nicht erweckt, das Geräusch um sich her nicht höret?

Mich dünkt, so ist es; sie hat etwas anderes zu schaffen. Schlagen Sie darüber die neueren Dichter nach. Und doch erwarten wir, wenn wir von einem neuen Dichter hören, zuerst und vor allem ein Wort des Herzens zum Herzen, einen Laut der allgemeinen Stimme, des Wunsches und Strebens der Nationen, den Hauch und Nachklang des mächtigen Zeitgeistes.

Der göttliche Mund der Muse ist in aller Welt gepriesen. Sie darf Dinge sagen, die die Prose nicht zu sagen wagt, und flößet sie unvermerkt in Herz und Seele. Gab sie der Fabel einst jenen lieblichen Ton, jene Süßigkeit, nach welcher wir auch nach Jahrtausenden noch wie nach einer Erquickung lechzen; wie? und sie sollte der auf uns dringenden Wahrheit[66] wenigstens einen gefälligen. Anzug, eine einladende Gestalt nicht zu geben vermögen?

Oft beunruhigen mich in meiner Einsamkeit die Schatten jener alten mächtigen Dichter und Weisen. Jesaias, Pindar, Alcäus, Äschylus stehen als gewaffnete Männer vor mir und fragen: »Was würden wir in euren Zeiten gedacht, gesagt, getan haben?« Luthers edler Schatte schließet sich an sie an, und wenn die Erscheinung vorüber ist, finde ich um mich Öde.

Gewiß, meine Freunde, wir wollen auf alles merken, was uns der göttliche Bote, die Zeit, darbeut. Keiner ihrer edlen Laute soll uns entschlüpfen.

Glauben Sie nicht, daß ich damit die armselige Zunft jener Tyrannenbändiger und Regentenwürger zurückwünsche, die vor einigen Jahren ihre Wut ausließ. Es war Geschrei, darum ist's verhallet, ein Nachklang ohne Kraft und Wesen. Die wahre Muse ist sittsam, »lene consilium, et dat et dato gaudet alma«; diesen sanften Ratschluß empfing sie vom Himmel und haucht ihn dem Geiste der Zeit ein –


Finire quaerentem labores

Aonio recreat antro.
[67]

Hold und schön klingen mir hierüber die Töne der Alten, und ich wünschte, daß wie einst dem Horaz so auch mir die Muse des Simonides, Alcäus, Stesichorus noch ertönte.12 Aber sie liegt im Staube, und wir müssen uns nur an dem, was der Vergessenheit entrann, den Geist erheben und das Herz stärken. Mit unbeschreiblicher Freude habe ich in diesen Tagen jenes feine Echo der Griechen, den Horaz, gelesen und wieder gelesen. Er lebte in einer kritischern Zeit, als wir leben, war mit Glück und Person an August und Mäcen gefesselt; und wie edel, wie stolz und unterrichtend ist seine Muse! Sie bricht die Blüte der Zeit und schwebt auf den Fittichen ihres reinsten Lufthauches.




12.

Mich dünkt, Ihre Fragen über den geringen Anteil, den die heutige Dichtkunst an den Händeln der Zeit nimmt, haben Sie sich selbst beantworten können; denn der Stoff dazu liegt völlig in Ihrem Briefe.

Schaffen Sie uns den Zustand der Griechen wieder, und Alcäus, Pindar, Ächylus sind mit ihnen auch da. In vielerlei Rücksicht aber würden wir diese Zeiten nicht wünschen und uns dagegen an unserer dichterischen Unteilnehmung begnügen. So wäre es auch in Ansehung der Zeiten Horaz' oder gar der Kreuzzieher und Harfner. Opitz und Logau fühlten die Drangsale des Dreißigjährigen Krieges; wider ihren Willen mußten sie an dem Elende, das er verbreitete,[68] teilnehmen; der Widerschein seiner Flammen glänzt in ihren Gedichten. Kleist, Uz und Gleim trafen auf die Zeiten der preußisch-österreichischen Kriege; alle drei fanden darin unverwelkliche Lorbeern, der erste aber auch bei vieler Not, die er als Krieger mit bedrücktem Herzen sah, seinen blutigen Tod. Was diese Dichter uns aus teurer Erfahrung sangen, warum müßte es uns, durch neue Erfahrung teuer erkauft, wieder gesungen werden? Tönt uns Kleists Stimme nicht noch?13


Ihr, denen zwanglose Völker der Herrschaft Steuer vertrauten,

Führt ihr durch Flammen und Blut sie zur Glückseligkeit Hafen?

Was wünscht ihr, Väter der Menschen, noch mehrere Kinder? Ist's wenig,

Viel Millionen beglücken? Erfordert's wenige Mühe?

O mehrt derjenigen Heil, die eure Fittiche suchen,

Deckt sie, gleich brütenden Adlern. Verwandelt die Schwerter in Sicheln,

Erhebt die Weisheit im Kittel und trocknet die Zähren der Tugend.


Die rührende Stimme seines »Grab- und Geburtsliedes,« seine »Sehnsucht nach Ruhe,« sein »Abschied« hinter »Cissides und Paches« tönt noch jedem Leser ins Herz, nachdem der Dichter die Gesinnungen seiner Seele mit Leben und Blut versiegelt. So ist's mit den patriotischen Oden Uz', Klopstocks; und der preußische Kriegssänger ist ebensowohl Volks-, Friedens-, Staatssänger geworden, hat bis auf die neuesten Zeiten fast an jeder großen Angelegenheit Anteil genommen, die seinem Gesichtskreise irgend nur nahe lag –14[69] Aber, m.F., nach unsrer Lage der Dinge halte ich das zu nahe, zu starke Teilnehmen der Dichter an politischen Angelegenheiten beinahe für schädlich. Zu bald nimmt der Dichter einseitige Partei und tut der besten Sache (geschweige einer schwachen, wankenden) mit dem besten Willen Schaden. Dadurch schwächt er die gute Wirkung seiner Gedichte selbst; denn in kurzem ist die Situation der Zeit vorüber; man siehet die Dinge anders an; man behandelt ihn als einen abgekommenen Barden. Also bleibe die Poesie in ihrem reinen Äther, der Sphäre der Menschheit,


Coetusque vulgares et udam

Spernat humum fugiente penna.


In diesem höheren, freieren Raume begegnen sich alle politische Meinungen als Freundinnen und Schwestern; denn im Elysium wohnt keine Feindschaft.

Sehr gut also, daß unsre Musenalmanache äußerst wenige politische Oden mit sich führen. Bald würden zween gegeneinander im Streit liegen, und überhaupt ist's doch nur Spiel, wenn Genien mit Waffen der großen Götter spielen.

Das aber glauben Sie, daß die Poesie als eine Stimme der Zeit unwandelbar dem Geiste der Zeit folge; ja oft ist sie eine helle Weissagung zukünftiger Zeiten. Lesen Sie in Stolbergs »Jamben,« 1784 gedruckt, (S. 66) den »Rat« und mehrere Gedichte, lesen Sie mehrere, frühere und spätere Oden Klopstocks und leugnen noch, daß auch auf deutschen Höhen oder in ihren Tälern ein prophetischer Geist der Zeiten wehe. Schade nur, daß er nicht vernommen wird; denn, um aller deutschen Redlichkeit willen, welcher Mann von Geschäften läse ein Gedicht, um in ihm die Stimme der Zeit zu hören! –

Wir, meine Freunde, wollen den Garten der Grazien und Musen in der Stille bauen. Verständiger Homer, edler Pindar und ihr sanften Weisen, Pythagoras, Sokrates, Plato, Aristoteles,[70] Epikur, Zeno, Mark Antonin, Erasmus, Sarpi, Grotius, Fénelon, St. Pierre, Penn, Franklin, sollt die heiligen Mitwohner unsrer friedlichen Gärten werden. Das aufschießende Korn bedarf mancherlei Witterung; die Saat in der Erde will Ruhe und milden, erquickenden Regen.


13.

Milden erquickenden Regen wünschet die keimende Saat der Humanität in Europa, keine Stürme. Die Musen wohnen friedlich auf ihren heiligen Bergen, und wenn sie ins Schlachtfeld, wenn sie in die Ratskammern der Großen treten, entbieten sie Frieden. Eine edle, würdige Tat zu loben ist ihnen ein süßeres Geschäft, als alle Flüche Alcäus' oder Archilochus' auf taube Unmenschen herabzudonnern.

Wenn es z.B. in unsern Zeiten einen Regenten gäbe, der an seinem Teil dem barbarischen Menschenerkauf im andern Weltteil entsagte und damit andern Staaten zu ihrem Erröten ein Beispiel gab; wenn er nach Jahrhunderten der erste wäre, der die Sklaverei willkürlicher Fronen und andre erdrückende Lasten seinem Volk entnahm und ein andres seiner Völker von ebenso drückenden Einschränkungen im Handel befreiete; wenn dieser Regent ein hoffnungsvoller königlicher Jüngling und Einrichtungen dieser Art nur das Vorspiel seiner Regierung wären: Heil dem Dichter, der solche Taten ohne alle Schmeichelei würdig und schön darstellte! Heil jedem Leser und Hörer, der diesem Sänger einer reinen Humanität mit reinem Herzen zujauchzte! Dänemark ist das friedliche, glückliche Land, dem dieser Stern aufgehet: sein Kronprinz ist der königliche Jüngling, der seine Laufbahn also beginnet, und F. L. Stolberg der Dichter, der ihm hierüber würdig danket.


An den Kronprinzen von Dänemark

[71] Noch nie erscholl ein Name der Mächtigen

Zu meiner Leier, Jüngling; ich weihte sie

Den Freunden nur Und Gott, und süßem

Häuslichen Glück, und der Liebe Tränen,


Und Dir, Natur, im Hain und am Meergestad,

Und Dir, o Freiheit! Freiheit, du Hochgefühl

Der reinen Seelen! Deinen Becher

Kränzt ich mit Blumen des kühnen Liedes.


Und werd ihn kränzen, weil eine Nerve mir

Noch zucket! werd ihn kosten mit zitternder

Und blauer Lippe, wenn des Todes

Hand mir ihn reichet in hehrer Stunde.


Nun wind ich junge Blumen im Kranze dir,

O Jüngling, weil du früh es nicht achtetest,

Zu herrschen über Sklaven, weil du

Forschetest, hörtest, beschlossest, tatest!


Das Joch des Landmanns drückte Jahrhunderte;

Du brachst es! Hör es, heiliger Schatte du

Von meinem Vater, der das Beispiel

Diesseit der Eider und dann am Sund gab.15


Du brachst es, Jüngling! wandtest errötend dich

Vom Dank des Landes, sahst auf dem Ozean

Der Handlung Bande, die des Neides

Hand und der Habsucht im Finstern knüpfte:
[72]

Zerrissest leicht wie Spinnengewebe sie,

Daß nicht die stolze Fichte des Normanns mehr

Dem Bruderhafen huldigt, eh sie

Schwellende Segel dem Ostwind öffne.16


Nicht gleiche Gaben spendet des Vaters Hand

Den Völkern. Eisen starret im Schachte dort,

Hier wanken Ähren, unsres Tisches

Freude gedeihet auf fernen Bergen.


Zum freien Tausche ladet der Vater ein;

Doch schmiedet, hart und klügelnd, der blinde Mensch

Dem Tausche Zwang; der biedre Normann

Kaufte sein Brot auf verengtem Markte.


Nun reifen fremde Saaten für ihn, wenn früh-

Erwacht der Winter auf dem Gebürge sich

Ausstrecket und von starrer Schulter

Glanzende Flocken in Täler schüttelt.


Ich sah dich handeln, Jüngling, und freute mich,

Doch nur mit halber Freude. Lud Danien

Nicht häufend noch auf seine Schulter

Fluch des zertretnen, zerrißnen Volkes,


Uneingedenk der heiligen Lehren und

Für jene Ader fühllos, die Gottes Hand

Im Herzen spannte, daß sie klopfend

Unrecht und Recht und Erbarmen lehre?


Von Menschen kaufte Menschen der Mensch, und ward

Ein Teufel! – Wer vermag den getrübten Blick

Zu heften auf des armen Mohren

Elend und Schmach und gezuckte Geißel?
[73]

Aufs schwangre Weib, das jammernd die Hände ringt

Am krummen Ufer; – Tränenlos starret sie

Dem fernen Segel nach; noch schallt ihr

Dumpf in den Ohren das Hohngelächter


Des Treibers, noch der klirrenden Kette Klang,

Und ihres Mannes Klage, das Angstgeschrei

Der jüngsten Tochter, die der Wütrich

Ihr aus umschlingenden Armen losriß. –


Du setzest Ziel dem Greuel, ein nahes Ziel!

Errötend staun und ahme dem Beispiel nach

Der Brite, will er wert der Freiheit

Sein, die auf Weisheit und Recht sich gründet.


Gott setze deinen Tagen ein fernes Ziel,

O Jüngling! keins dem Segen, der dein einst harrt.

Sei deinen Tausenden noch lange

Bruder! Nur einer ist aller Vater.

F. L. Gr. z. Stolberg


Wenn mehrere solcher Gesänge über Anlässe solcher Art uns zukommen, meine Brüder, so wollen wir einander unsre Freude ja mitteilen; denn besangen Horaz und Pindar je ein edleres Thema edler?[74]

1

Die Namen der korrespondierenden Freunde sind unter die Briefe nicht gesetzt; denn was können uns Buchstaben bezeichnen, das die Briefe nicht selbst erklärten? Anmerk. d. Herausg.

2

Sie sind jetzt auch deutsch übersetzt: »B. Franklins Jugendjahre, übersetzt von Bürger,« Berlin 1792. A. d. H.

3

Es wird davon eine niedliche Ausgabe im Deutschen veranstaltet werden; denn die meisten, alle sehr interessante Stücke, sind zerstreut oder gar nicht bekannt. A. d. H.

4

»Nekrolog von Schlichtegroll,« Gotha 1791.

5

Die in der Folge angeführten Namen sind alle aus dem ersten Jahrgange des »Nekrologen«. Mehrere waren damals noch nicht erschienen. A. d. H.

7

Eine sehr bekannte deutsche Geschichte, über welche jetzt der zweite Teil von Schubarts selbstgeschriebenem Leben Auskunft gibt. A. d. H.

8

»Œuvres posthumes de Frédéric II.,« Berlin 1788.

9

Ein von Götz übersetztes Gedicht Friedrichs. A. d. H.

10

Diese und einige andre Bemerkungen Friedrichs haben sich gottlob seitdem hie und da verändert. A. d. H.

11

Die Folge des Briefwechsels enthält eine Fortsetzung dieses Auszuges. A. d. H.

12

Anspielung auf Horaz' Ode 9, B. 4.:

Non, si priores Maeonius tenet

Sedes Homerus, Pindaricae latent

Ceaeque et Alcaei minaces

Stesichorique graves Camenae.

A. d. H.

13

Die folgenden Verse sind aus Kleists erster eigner Ausgabe des »Frühlings« genommen; wer will, vergleiche sie mit der jetzt gangbaren Ausgabe. A.d.H.

14

Seitdem sind Gleims Zeitgedichte in einer Sammlung erschienen (1792), die keinem, der an dem Geiste der Zeit Anteil nimmt, uninteressant sein kann. A.d.H.

15

Des Dichters Vater war der erste in Holstein, der den Bauern seines Guts Freiheit und Eigentum gab Die Königin Sophia Magdalena aus dem Hause Brandenburg, Großmutter des jetzigen Königes von Dänemark, gab den Bauern des Amts Hirschholm auf seinen Rat und nach der Einrichtung, die er trotz aller in den Weg gelegten Schwierigkeiten mit Mut durchsetzte, Freiheit und Eigentum.

16

Den Norwegern ist die Überfahrt nach Westindien leichter als den Dänen, deren Schiffe der Kattegat oft aufhält. Jene dieses Vorteils zu berauben, verpflichtete man die Schiffer, vor der Fahrt nach Westindien erst in Kopenhagen einzulaufen. Man nannte das: sich präsentieren.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1971, S. 5-75.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe zur Beförderung der Humanität
Briefe zur Beförderung der Humanität

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon