II

Vergleichung der mancherlei organischen Kräfte, die im Tier wirken

[83] Der unsterbliche Haller hat die verschiednen Kräfte, die sich im Tierkörper physiologisch äußern, nämlich die Elastizität der Faser, die Reizbarkeit des Muskels, endlich die Empfindung des Nervengebäudes, mit einer Genauigkeit unterschieden, die im ganzen nicht nur unwiderlegbar bleiben, sondern noch die reichste Anwendung, auch bei andern als menschlichen Körpern, zur physiologischen Seelenlehre gewähren dörfte.

Nun lasse ich's dahingestellet sein, ob nicht diese drei allerdings so verschiednen Erscheinungen im Grunde ein und dieselbe Kraft sein könnten, die sich in der Faser anders, anders im Muskel, anders im Nervengebäude offenbaret. Da alles in der Natur verknüpft und diese drei Wirkungen im belebten Körper so innig und vielfach verbunden sind, so läßt sich daran kaum zweifeln. Elastizität und Reizbarkeit grenzen aneinander, wie Fiber und Muskel zusammengrenzen. So wie dieser nur ein verflochtnes Kunstgebilde jener ist, so ist auch die Reizbarkeit wahrscheinlich nichts als eine auf innige Art unendlich vermehrte Schnellkraft, die in dieser organischen Verschlingung vieler Teile sich aus dem toten Fiberngefühl zur ersten Stufe des tierischen Selbstreizes erhoben. Die Empfindsamkeit des Nervensystems wird sodenn die dritte höhere Art derselben Kraft sein, ein Resultat aller jener organischen Kräfte, da der ganze Kreislauf des Bluts und aller ihm untergeordneten Gefäße dazu zu gehören scheint, das Gehirn, als die Wurzel der Nerven, mit dem feinen Saft zu befeuchten, der sich, als Medium der Empfindung betrachtet, über Muskel- und Faserkräfte so sehr erhebet.

Doch dem sei, wie ihm wolle; unendlich ist die Weisheit des Schöpfers, mit der er in den verschiednen Organisationen der Tierkörper diese Kräfte verband und die niedern allmählich den höhern unterordnen wollte. Das Grundgewebe von[83] allem auch in unserm Bau sind Fibern; auf ihnen blühet der Mensch. Die lymphatischen und Milchgefäße bereiten Saft für die ganze Maschine. Die Muskelkräfte bewegen diese nicht bloß zu Wirkungen nach außen, sondern eine Muskel, das Herz, wird das erste Triebwerk des Blutes, eines Safts aus so vielen Säften, der nicht nur den ganzen Körper erwärmet, sondern auch zum Haupt steigt und von da durch neue Zubereitungen die Nerven belebet. Wie ein himmlisches Gewächs breiten sich diese aus ihrer obern Wurzel nieder. Und wie sie sich breiten, wie fein sie sind, zu welchen Teilen sie verwandt werden, mit welchem Grad des Reizes hier oder da ein Muskel verschlungen sei, welchen Saft die pflanzenartigen Gefäße bereiten, welche Temperatur im ganzen Verhältnis dieser Teile gegeneinander herrsche, auf welche Sinnen es falle, zu welcher Lebensart es wirke, in welchen Bau, in welche Gestalt es organisiert sei – wenn die genaue Untersuchung dieser Dinge in einzelnen, zumal dem Menschen nahen Geschöpfen nicht Aufschlüsse über ihren Instinkt und Charakter, über das Verhältnis der Gattungen gegeneinander, zuletzt und am meisten über die Ursachen des Vorzuges der Menschen vor den Tieren gäbe, so wüßte ich nicht, woher man physische Aufschlüsse nehmen sollte. Und glücklicherweise gehen jetzt die Camper, Wrisberg, Wolf, Sömmerings und soviel andre forschende Zergliederer auf diesem geistigen physiologischen Wege der Vergleichung mehrerer Geschlechter in den Kräften der Werkzeuge ihres organischen Lebens. –

Ich setze meinem Zweck gemäß einige Hauptgrundsätze voraus, die die folgenden Betrachtungen über die inwohnenden organischen Kräfte verschiedner Wesen und zuletzt des Menschen einleiten mögen; denn ohne sie ist keine gründliche Übersicht der Menschennatur in ihren Mängeln und Vollkommenheiten möglich.


1. Wo Wirkung in der Natur ist, muß wirkende Kraft sein; wo Reiz sich in Bestrebungen oder gar in Krämpfen zeigt, da muß auch Reiz von innen gefühlt werden. Sollten diese[84] Sätze nicht gelten, so hört aller Zusammenhang der Bemerkungen, alle Analogie der Natur auf.

2. Niemand darf eine Grenze ziehen, wo eine augenscheinliche Wirkung Beweis einer inwohnenden Kraft sein könne und wo sie es nicht mehr sein soll. Denen mit uns lebenden Tieren trauen wir Gefühl und Gedanken zu, weil wir ihre tägliche Gewohnheit vor uns sehen; andre können hievon deswegen nicht ausgeschlossen sein, weil wir sie nicht nahe und innig gnug kennen oder weil uns ihre Werke zu kunstreich dünken; denn unsre Unwissenheit oder Kunstlosigkeit ist kein absoluter Maßstab aller Kunstideen und Kunstgefühle der belebten Schöpfung.

3. Also: Wo Kunst geübt wird, ist ein Kunstsinn, der sie übet; und wo ein Geschöpf durch Taten zeigt, daß es Begebenheiten der Natur zuvor wisse, indem es ihnen zu entgehen trachtet, da muß es einen innern Sinn, ein Organ, ein Medium dieser Voraussicht haben, wir mögen's begreifen können oder nicht. Die Kräfte der Natur werden deshalb nicht verändert.

4. Es mögen viel Medien in der Schöpfung sein, von denen wir nicht das mindeste wissen, weil wir kein Organ zu ihnen haben; ja es müssen derselben viel sein, da wir fast bei jedem Geschöpf Wirkungen sehen, die wir uns aus unsrer Organisation nicht zu erklären vermögen.

5. Die Schöpfung ist unendlich größer, in der Millionen Geschöpfe, jedes von besonderm Sinn und Triebe eine eigne Welt genießet, ein eignes Werk treibet, als eine andre Wüste, die der unachtsame Mensch allein mit seinen fünf stumpfen Sinnen betasten soll.

6. Wer einiges Gefühl für die Hoheit und Macht der sinn- und kunst- und lebenreichen Natur hat, wird dankbar annehmen, was seine Organisation in sich schließt, ihr aber deswegen den Geist aller ihrer übrigen Werke nicht ins Gesicht leugnen. Die ganze Schöpfung sollte durchgenossen, durchgefühlt, durcharbeitet werden; auf jedem neuen Punkt also mußten Geschöpfe sein, sie zu genießen, Organe, sie zu empfinden,[85] Kräfte, sie dieser Stelle gemäß zu beleben. Der Kaiman und der Kolibri, der Kondor und die Pipa: was haben sie miteinander gemein? Und jedes ist für sein Element organisiert, jedes lebt und webt in seinem Elemente. Kein Punkt der Schöpfung ist ohne Genuß, ohne Organ, ohne Bewohner: jedes Geschöpf hat also seine eigne, eine neue Welt.

Unendlichkeit umfaßt mich, wenn ich, umringt von tausend Proben dieser Art und ergriffen von ihren Gefühlen, Natur, in deinen heiligen Tempel trete. Kein Geschöpf bist du vorbeigegangen; du teiltest dich ihm ganz mit, so ganz, wie es dich in seiner Organisation fassen konnte. Jedes deiner Werke machtest du eins und vollkommen und nur sich selbst gleich. Du arbeitetest es von innen heraus, und wo du versagen mußtest, erstattetest du, wie die Mutter aller Dinge erstatten konnte. – Lasset uns einige dieser abgewogenen Verhältnisse der verschiednen wirkenden Kräfte in mancherlei Organisationen bemerken: wir bahnen uns damit den Weg zum physiologischen Standort des Menschen.


1. Die Pflanze ist zur Vegetation und Fruchtbringung da: ein untergeordneter Zweck, wie es uns scheint, aber im Ganzen der Schöpfung zu jedem andern die Grundlage. Ihn also vollführt sie ganz und wirkt um so unablässiger auf denselben, je weniger sie in andre Zwecke verteilt ist. Wo sie kann, ist sie im ganzen Keim da und treibt neue Schößlinge und Knospen; ein Zweig vom Baume stellet den ganzen Baum dar. Wir rufen also sogleich einen der vorigen Sätze hier zu Hülfe und haben das Recht, nach aller Analogie der Natur zu sagen: Wo Wirkung ist, muß Kraft, wo neues Leben ist, muß ein Principium des neuen Lebens sein, und in jedem pflanzenartigen Geschöpf muß dieses sieh in der größesten Wirksamkeit finden. Die Theorie der Keime, die man zur Erklärung der Vegetation angenommen hat, erkläret eigentlich nichts; denn der Keim ist schon ein Gebilde, und wo dieses ist, muß eine organische Kraft sein, die es bildet. Im ersten Samenkorn der Schöpfung hat kein Zergliederer alle künftige[86] Keime entdeckt; sie werden uns nicht eher sichtbar, als bis die Pflanze zu ihrer eignen völligen Kraft gelangt ist, und wir haben durch alle Erfahrungen kein Recht, sie etwas anderm als der organischen Kraft der Pflanze selbst zuzuschreiben, die auf sie mit stiller Intensität wirket. Die Natur gewährte diesem Geschöpf, was sie ihm gewähren konnte, und erstattete das Vielfache, das sie ihm entziehen mußte, durch die Innigkeit der einen Kraft, die in ihm wirket. Was sollte die Pflanze mit Kräften der Tierbewegung, da sie nicht von ihrer Stelle kann? Warum sollte sie andre Pflanzen um sich her erkennen können, da dies Erkenntnis ihr Qual wäre? Aber die Luft, das Licht, ihren Saft der Nahrung ziehet sie an und genießt sie pflanzenartig; den Trieb zu wachsen, zu blühen und sich fortzupflanzen übt sie so treu und unablässig, als ihn kein andres Geschöpf übet.

2. Der Übergang von der Pflanze zu den vielen bisher entdeckten Pflanzentieren stellet dies noch deutlicher dar. Die Nahrungsteile sind bei ihnen schon gesondert; sie haben ein Analogon tierischer Sinne und willkürlicher Bewegung; ihre vornehmste organische Kraft ist indessen noch Nahrung und Fortpflanzung. Der Polyp ist kein Magazin von Keimen, die in ihm, etwa für das grausame Messer des Philosophen, präformiert lägen, sondern wie die Pflanze selbst organisches Leben war, ist auch er organisches Leben. Er schießt Abschößlinge wie sie, und das Messer des Zergliederers kann diese Kräfte nur wecken, nur reizen. Wie ein gereizter oder zerschnittener Muskel mehr Kraft äußert, so äußert ein gequälter Polyp alles, was er kann, um sich zu erstatten und zu ergänzen. Er treibt Glieder, solange seine Kraft es vermag und das Werkzeug der Kunst seine Natur nur nicht ganz zerstörte. An einigen Teilen, in einigen Richtungen, wenn die Teile zu klein, wenn seine Kräfte zu matt werden, kann er's nicht mehr; welches alles nicht stattfände, wenn in jedem Punkt der präformierte Keim bereitläge. Mächtige organische Kräfte sind's, die wir in ihm wie im Triebwerk der Gewächse, ja noch tiefer hinab in schwächern, dunklern Anfängen wirken sehen.[87]

3. Die Schalentiere sind organische Geschöpfe voll so viel Lebens, als sich in diesem Elemente, in diesem Gehäuse nur sammlen und organisieren konnte. Wir müssen es Gefühl nennen, weil wir kein andres Wort haben; es ist aber Schnecken- oder Meeresgefühl, ein Chaos der dunkelsten Lebenskräfte, unentwickelt bis auf wenige Glieder. Siehe die feinen Fühlhörner, den Muskel, der den Sehnerven vertritt, den offnen Mund, den Anfang des schlagenden Herzens und, welch ein Wunder! die sonderbaren Reproduktionskräfte. Das Tier erstattet sich Kopf, Hörner, Kinnlade, Augen; es bauet nicht nur seine künstliche Schale und reibt sie ab, sondern erzeugt auch lebendige Wesen mit eben der künstlichen Schale, und manche Geschlechter sind zugleich Mann und Weib. In ihm liegt also eine Welt von organischen Kräften, vermöge deren das Geschöpf auf seiner Stufe vermag, was keins von ausgewickelten Gliedern vermochte, und in denen das zähe Schleimgebilde um so inniger und unablässiger wirket.

4. Das Insekt, ein so kunstreiches Geschöpf in seinen Wirkungen, ist gerade so kunstreich in seinem Bau: seine organische Kräfte sind demselben, sogar einzelnen Teilen nach, gleichförmig. Noch fand sich an ihm zu wenigem Gehirn und nur zu äußerst feinen Nerven Raum; seine Muskeln sind noch so zart, daß harte Decken sie von außen bepanzern müssen, und zum Kreislauf der größern Landtiere war in seiner Organisation keine Stelle. Sehet aber seinen Kopf, seine Augen, seine Fühlhörner, seine Füße, seine Schilde, seine Flügel; bemerket die ungeheuren Lasten, die ein Käfer, eine Fliege, eine Ameise trägt, die Macht, die eine erzürnte Wespe beweiset; sehet die fünftausend Muskeln, die Lyonnet in der Weidenraupe gezählt hat, da der mächtige Mensch deren kaum fünftehalbhundert besitzet; betrachtet endlich die Kunstwerke, die sie mit ihren Sinnen und Gliedern vornehmen, und schließet auf eine organische Fülle von Kräften, die in jedem ihrer Teile einwohnend wirken. Wer kann den ausgerissenen zitternden Fuß einer Spinne, einer Fliege sehen, ohne wahrzunehmen, wieviel Kraft des lebendigen Reizes in ihm sei, auch[88] abgetrennt von seinem Körper? Der Kopf des Tiers war noch zu klein, um alle Lebensreize in sich zu versammeln; die reiche Natur verbreitete diese also in alle, auch die feinsten Glieder. Seine Fühlhörner sind Sinne, seine feinen Füße Muskeln und Arme, jeder Nervenknote ein kleineres Gehirn, jede reizbare Faser beinahe ein schlagendes Herz: und so konnten die feinen Kunstwerke vollbracht werden, zu denen manche dieser Gattungen ganz gebauet sind und zu welchen sie Organisation und Bedürfnis treibet. Welche feine Elastizität hat der Faden einer Spinne, einer Seidenraupe! Und die Künstlerin zog ihn aus sich selbst, zum offenbaren Erweise, daß sie selbst ganz Elastizität und Reiz, also auch in ihren Trieben und Kunstwerken eine wahre Künstlerin sei, eine in dieser Organisation wirkende kleine Weltseele.

5. Bei den Tieren von kaltem Blut ist noch dieselbe Übermacht des Reizes sichtbar. Lange und heftig regt sich die Schildkröte noch, nachdem sie ihr Haupt verloren; der abgerissene Kopf einer Natter biß nach 3, 8, 12 Tagen tödlich. Der zusammengezogne Kinnbacken eines toten Krokodils konnte einem Unvorsichtigen den Finger abbeißen; so wie unter den Insekten der ausgerissene Stachel einer Biene zu stechen strebet. – Siehe den Frosch in seiner Begattung; Füße und Glieder können ihm abgerissen werden, ehe er von seinem Gegenstande abläßt. Siehe den gequälten Salamander; Hände, Finger, Füße, Schenkel kann er verlieren, und er erstattet sie sich wieder. So groß und, wenn ich sagen darf, so allgnugsam sind die organischen Lebenskräfte in diesen Tieren von kaltem Blut; und kurz, je roher ein Geschöpf ist, d.i. je minder die organische Macht seiner Reize und Muskeln zu feinen Nervenkräften hinaufgeläutert und einem größern Gehirn untergeordnet worden, desto mehr zeigen sie sich in einer verbreiteten, das Leben haltenden oder erstattenden organischen Allmacht.

6. Selbst bei Tieren von wärmerem Blut hat man bemerkt, daß in Verbindung mit den Nerven ihr Fleisch sich träger bewege und ihr Eingeweide dagegen heftigere Wirkungen[89] des Reizes zeige, wenn das Tier tot ist. Im Tode werden die Zuckungen stärker in dem Maß, als die Empfindung abnimmt, und ein Muskel, der seine Reizbarkeit bereits verloren, erlangt solche wieder, wenn man ihn in Stücke zerschneidet. Je nervenreicher also das Geschöpf ist, desto mehr scheint's von der zähen Lebenskraft zu verlieren, die nur mit Mühe abstirbt. Die Reproduktionskräfte einzelner, geschweige so vielartiger Glieder, als Haupt, Hände, Füße sind, verlieren sich bei den sogenannten vollkommenern Geschöpfen; kaum daß sich bei ihnen in gewissen Jahren noch ein Zahn ersetzt oder ein Beinbruch und eine Wunde ergänzet. Dagegen steigen die Empfindungen und Vorstellungen in diesen Klassen so merklich, bis sie sich endlich im Menschen auf die für eine Erdorganisation feineste und höchste Weise zur Vernunft sammlen.


Dürfen wir aus diesen Induktionen, die noch viel mehr ins einzelne geleitet werden könnten, einige Resultate sammlen, so wären es folgende:

1. Bei jedem lebendigen Geschöpf scheint der Zirkel organischer Kräfte ganz und vollkommen; nur, er ist bei jedem anders modifiziert und verteilet. Bei diesem liegt er noch der Vegetation nahe und ist daher für die Fortpflanzung und Wiedererstattung seiner selbst so mächtig; bei andern nehmen diese Kräfte ab, je mehr sie in künstlichere Glieder, feinere Werkzeuge und Sinnen verteilt werden.

2. Über den mächtigen Kräften der Vegetation fangen die lebendigen Muskelreize zu wirken an. Sie sind mit jenen Kräften des wachsenden, sprossenden, sich wiederherstellenden animalischen Fiberngebäudes nahe verwandt; nur, sie erscheinen in einer künstlich verschlungenen Form, zu einem eingeschränkteren, bestimmteren Zweck der Lebenswirkung. Jeder Muskel steht schon mit vielen andern im wechselseitigen Spiel; er wird also auch nicht die Kräfte der Fiber allein, sondern die seinigen erweisen, lebendigen Reiz in wirkender Bewegung. Der Krampffisch erstattet nicht, wie die Eidechse, der Frosch, der Polyp, seine Glieder; auch bei denen sich reproduzierenden[90] Tieren erstatten sich die Teile, in denen Muskelkräfte zusammengedrungen sind, nicht so wie die gleichsam absprossenden Glieder; der Krebs kann seine Füße, aber nicht seinen Schwanz neu treiben. In künstlich verschlungenen Bewegungskräften hört also allmählich das Gebiet des vegetierenden Organismus auf, oder vielmehr, es wird in einer künstlichern Form festgehalten und auf die Zwecke der zusammengesetzteren Organisation im ganzen verwendet.

3. Je mehr die Muskelkräfte in das Gebiet der Nerven treten, desto mehr werden auch sie in dieser Organisation gefangen und zu Zwecken der Empfindung überwältigt. Je mehr und feinere Nerven ein Tier hat, je mehr diese einander vielfach begegnen, künstlich verstärken und zu edlen Teilen und Sinnen verwandt werden, je größer und feiner endlich der Sammelplatz aller Empfindungen, das Gehirn, ist, desto verständiger und feiner wird die Gattung dieser Organisationen. Wo gegenteils bei Tieren der Reiz die Empfindung, die Muskelkräfte das Nervengebäude überwinden, wo dies auf niedrige Verrichtungen und Triebe verbraucht wird und insonderheit der erste und beschwerlichste aller Triebe, der Hunger, noch der herrschendste sein mußte, da wird, nach unserm Maßstabe, die Gattung teils unförmlicher im Bau, teils in ihrer Lebensweise gröber. –

Wer würde sich nicht freuen, wenn ein philosophischer Zergliederer16 es übernähme, eine vergleichende Physiologie mehrerer, insonderheit dem Menschen naher Tiere nach diesen durch Erfahrungen unterschiednen und festgestellten Kräften im Verhältnis der ganzen Organisation des Geschöpfs zu geben? Die Natur stellet uns ihr Werk hin, von außen eine verhüllete Gestalt, ein überdecktes Behältnis innerer Kräfte. Wir sehen seine Lebensweise; wir erraten aus der Physiognomie[91] seines Angesichts und aus dem Verhältnis seiner Teile vielleicht etwas von dem, was im Innern vorgeht; hier aber, im Innern, sind uns die Werkzeuge und Massen organischer Kräfte selbst vorgelegt, und je näher am Menschen, desto mehr haben wir ein Mittel der Vergleichung. Ich wage es, da ich kein Zergliederer bin, den Wahrnehmungen großer Zergliederer in ein paar Beispielen zu folgen; sie bereiten uns zum Bau und zur physiologischen Natur des Menschen vor.

16

Außer andern bekannten Werken finde ich in des ältern Alexander Monro Works, Edinburgh 1781, einen »Essai on Comparative Anatomy«, der eine Übersetzung so wie die schönen Tierskelette in Cheseldens Osteography, London 1783, einen Nachstich verdienten, der aber in Deutschland schwerlich an die genaue Pracht des Originals kommen dörfte.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 83-92.
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