15.

[126] Einige Bilder, die Hr. L. aus Homer anführt,1 sind nicht übersetzt, nur indirekte, und nach einzelnen Zügen vorgestellt – sie enthalten aber noch in dieser Vorstellung so viel Leben, daß ich an der Uebersetzung Homers, durch einen Originalgeist, in unsere Sprache nicht verzweifle. Ich lese Gott Lob! meinen Homer in seiner Sprache: noch immer aber würde ich ihn mit Entzücken in der meinigen haben lesen wollen, wenn ein Meinhard davon auch nur einen Versuch geliefert hätte. Dieser würdige Mann besaß so viel Gabe des Ausdrucks, die Poesie einer fremden Sprache in die unsere zu prosaisiren, oder wenn man lieber will, die Prose unsrer Sprache so geschickt zum einfältigen Adel der Poesie eines fremden Ausdrucks zu erheben, daß ihn die Muse unsres Vaterlandes bestimmt zu haben schien, der Mund fremder Nationen unter uns zu werden. Dies ist, wie ich glaube, der Hauptzug seiner Verdienste; und wie hätte er diese durch eine Uebersetzung Homers nicht gesteigert! Grieche muß ich überdem schon werden, wenn ich Homer lese, ich lese ihn, wo ich wolle: warum denn nicht in meiner Muttersprache? Insgeheim muß ich ihn doch in dieser schon jetzo lesen: insgeheim übersetzt ihn sich die Seele des Lesers, wo sie kann, selbst wenn sie ihn Griechisch hört: und ich sinnlicher Leser! ich kann mir ohne diese geheime Gedankenübersetzung sogar kein wahrhaftig nutzbares und lebendiges Lesen Homers denken. Nur denn erst lese ich, als hörte ich ihn, wenn ich mir ihn übersetze: er singet mir Griechisch vor, und eben so schnell, so[126] Harmonisch, so edel suchen ihm meine Deutschen Gedanken nachzufliegen: alsdenn und alsdenn nur vermag ich mir und andern von Homer lebendige bestimmte Rechenschaft zu geben, und ihn mit ganzer Seele zu fühlen. In jedem andern Falle, glaube ich, lieset man ihn als Commentator, als Scholiast, als Schulgelehrter, oder Sprachlehrling, und dies Lesen ist unbestimmt oder todt. Ein anderes ist, sagt Winkelmann, Homer verstehen, ein anderes, sich denselben erklären können; und dies geschieht in meiner Seele nicht anders, als durch eine geheime Uebersetzung, durch eine schnelle Umwandlung in meine Denkart und Sprache.

Ueberdem ist diese, in Betracht die Uebersetzerin Homers zu werden, weit über die Französische und Englische hinaus; sie allein kann vielleicht einen Mittelweg zwischen Umschreibung und Schulversion, wie die meisten Lateinischen sind, finden: und dieser Mittelweg heiße mit einem Altdeutschen Worte, dessen starker Gebrauch uns durch so manche schlechte Ausübung verächtlich und lächerlich geworden: Verdeutschung. Freilich werde ich meinen Homer, auch wenn Meinhard ihn übersetzt hätte, in seiner Urschrift immer fort studiren; nur würde ich mich auch nicht schämen, die Uebersetzung neben an liegen zu haben, bei jedem starken Bilde, das ich in meiner Muttersprache ganz fühlen will, in sie hinein zu blicken, mit ihr zu wetteifern, – so lese ich Homer.

Bedürfniß ists also nicht, wenn ich mir einen Meinhardschen Homer wünsche: es ist Patriotismus, Gefühl für seine wahre Lesemethode, Gefühl für meine Muttersprache gegen so manche süßlateinische Uebersetzung von Hektor und Andromache z.E. u.s.w.2 betrachtet: Gefühl endlich gegen die unwichtigen Gründe,3 womit man ein Genie, das zu interpretiren da ist, vom Homer abschrecken, und hinwegsegnen will. Wie? wenn Pope auch so gedacht hätte: wo wäre der Englische Homer geblieben? und wird[127] wohl ein vernünftiger Engländer, der Homer Griechisch lesen kann, ihn nicht lesen wollen – weil ihn Pope Englisch geliefert? – –

Wenn dies gute Wort über Homer hier nicht völlig an seiner Stelle steht: so hätte es doch irgendwo anders eine Stelle verdient, und ich fahre fort. »Es ist unmöglich, sagt Hr. L.,4 die musikalische Malerei, welche die Worte des Dichters mit hören lassen, in eine andre Sprache überzutragen,« und an einem andern Orte,5 wo er die fortschreitende Manier Homers vortreflich entwickelt, entgeht ihm auch nicht der Vortheil, den ihm seine Sprache gewährte, »die ihm nicht allein alle mögliche Freiheit in Häufung und Zusammensetzung der Beiwörter läßt, sondern auch für diese gehäuften Beiwörter eine so glückliche Ordnung hat, daß der nachtheiligen Suspension ihrer Beziehung dadurch abgeholfen wird. An einer oder mehrern dieser Bequemlichkeiten fehlt es den neuern Sprachen durchgängig. Auch unsre Sprache hat sie nicht, oder welches einerlei ist, sie kann sie nur selten ohne Zweideutigkeit nutzen.« Mir haben diese Bemerkungen einen alten Gedanken wieder in die Seele gebracht, den ich bei Homer immer empfunden, und zu dem diese einige Züge mit enthalten.

Homer sang, ehe Schriftstellerische Prose da war: er weiß also von keinen geschlossenen Perioden. Nicht, als ob in ihm kein einiges Punkt wäre; die hat er, mein Leser: und hat er nicht gnug, so klecke ihm noch mehrere zu. Ich rede von keinen Unterscheidungszeichen, in welche unsre Sprachlehrer das Wesentliche des Perioden setzen, sondern von der Zusammenordnung vieler einzelnen Züge, zu einem ganzen Gemälde, das daher anfängt, wo uns die Sache in die Augen fiel, Zug vor Zug uns weiter führt, aber diese Züge verschränket, so umkehret, daß der Sinn des Ganzen aufgehalten, daß er nicht eher vollendet ist, bis wir zu[128] Ende sind. Und dies Kunststück des Prosaischen Perioden, behaupte ich, hat Homer nicht. Bei ihm fällt gleichsam Zug nach Zug aus einander; er schreitet mit jedem Beiworte weiter: von keiner Verschränkung, von einer künstlichen Suspension des Sinnes weiß er nichts. »Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem Prädikate, und läßt die andern nachfolgen; er sagt runde Räder, eherne, achtspeichichte.«6 So wissen wir mit eins, wovon er »redet, und werden der natürlichen Ordnung des Denkens gemäß, erst mit dem Dinge, und dann mit seinen Zufälligkeiten bekannt. Diesen Vortheil hat unsre Sprache nicht.« Keine neuere Sprache hat ihn, die zur Prose ursprünglich gebildet worden.

Und wenn in diesem Fortschreitenden eben Homers Manier bestehet: und seine Sprache (er pflanzte sie auf seine Dichter fort) und nur seine Sprache dies Fortschreitende zur Manier, zum Gesetze ihrer Zusammenordnung macht: wie in einer Übersetzung; so wird Homer in einer Uebersetzung nach dieser neuen Construktionsmanier, die einmal ein Gesetz unsrer Sprachen geworden, seine Manier, das Wesen seiner Poesie, das mit jedem Zuge Fortschreitende verlieren: er wird prosaisirt werden. Prosaisirt, nicht in den Farben, in den Figuren seiner Bilder: sondern in der Art ihrer Stellung, in Composition und Manier, und da denke ich, hat er mehr verlohren, als durch jedes Andere! Ein solcher Verlust geht die Art des Ausdrucks in seinem ganzen Werke durch, er ist der größte, denn er hindert den Gang seiner Muse.

Ich nehme sein Bild vom herabsteigenden Apollo, und sage: So weit das Leben über das Gemälde geht, so weit ist hier der Dichter über den Prosaisten einer neuern Sprache: Apollo steigt von den Höhen des Olympus: ergrimmt: Bogen und Köcher auf[129] der Schulter. Ich sehe ihn nicht allein herabsteigen, ich höre ihn. Mit jedem Schritte erklingen die Pfeile um die Schulter des Zornigen. Er geht einher, gleich der Nacht. Nun sitzt er gegen den Schiffen über, und schnellet – fürchterlich erklingt der silberne Bogen – den ersten Pfeil auf die Maulthiere und Hunde. Sodann faßt er mit dem giftigern Pfeile die Menschen selbst; und überall lodern unaufhörlich Holzstöße mit Leichnamen. »Es ist unmöglich,« sagt Hr. L., dessen Worte ich mich meistens bedient, »die musikalische Malerei, welche die Worte des Dichters mit hören lassen, in eine andere Sprache mit überzutragen.« Und eben so unmöglich, fahre ich fort, ists dem Fortschreitenden des Bildes, das mit jedem Zuge weiter tritt, in einer neuern Sprache Fuß vor Fuß nachzufolgen. Mit jedem neuen Worte ist ein Gemälde.

Nun laßt uns Homer in einer neuern Sprache hören: es sey in Pope selbst, der gewiß das Maaß seiner Sprache so verstand, als kein Dichter vielleicht vor und nach ihm. Umwerfen muß er die Worte, er muß umschreiben.7 Ein Wort bei Homer wird ihm ein abgetrenntes Comma, ein fortlaufender Zug steht in ihm einzeln da, wie eine Erklärung. Hier nimmt er einen Umstand voraus, dort erklärt er ihn: warum er sey? kurz, die fortschreitende Manier Homers ist weg. Homers Bild ist eine ausgemalte Schilderei, ein Historisches Gemälde, stillstehend, nur mit Poetischen Farben. Die Poesie Homers, auch in Pope's Sprache, ist Poetische, schöngereimte Prose.

Um die Schwierigkeit einer Homerischen Uebersetzung zu zeigen: führe ich noch eine Eigenheit in Homer an, die ich seiner Sprachmanier abgemerket, und von unsern Sprachen noch weiter abgehet. Sie ist ein gewisses Wiederkommen auf einen Hauptzug, der schon da war, und jetzt das Band seyn soll, um das Bild weiter zu führen, und die aus einander fallenden Züge zu einem Ganzen zu verknüpfen. Exempel mögen auch erklären.[130] Der zornige Apollo steigt vom Olympus: ergrimmt: Köcher und Bogen auf der Schulter – ist das Bild aus? Nein! es rollt fort, aber um die schon gelieferten Züge uns im Auge zu erhalten, scheint es die folgenden blos aus den vorigen zu entwickeln. Köcher und Bogen auf der Schulter? Ja! die Pfeile erklangen auf der Schulter. Ergrimmt stieg Apollo nieder? Ja! sie erklangen auf der Schulter des Zornigen! Er stieg niederer gieng? sie klangen also mit jedem Tritte des Ganges. Nun ist Homer da, wo er ausgieng: er schritt fort, indem er zurücktrat: er hat jeden vergangnen Zug erneuert: noch haben wir das Ganze vor Augen. Auf eben die Art rollet er sein Bild weiter. Der letzte Zug erinnerte uns an die Tritte des Schreitenden, und wird weiter geführt: der Schreitende gieng der Nacht gleich. Weßwegen Apollo Nacht um sich geworfen? hat der Dichter nicht Zeit zu sagen, er läßt es errathen, es war ein fremder Zug in seinem Gemälde hier, an die zu denken, die er jetzt, mit Nacht umdeckt, vorbei strich: er störet sich nicht im Bilde des gehenden Gottes. Nun ist der Gehende die Schiffe vorbei, weit vorbei, er sitzt, er schnellet einen Pfeil – trift er, so ist das Bild zu Ende; aber noch muß es nicht zu Ende seyn. Das Bild des klingenden Bogens wäre alsdenn verloren: es wird erst wieder erweckt – fürchterlich also erklingt der silberne Bogen; nun faßt der Pfeil, der erste, der andre, Thiere, Hunde, Menschen, Scheiterhaufen flammen: so flogen die Pfeile des Gottes neun Tage durch das Heer – – Jetzt ist das Gemälde zu Ende: der Gott, Bogen, Pfeil, die Wirkung derselben, alles ist vor Augen: kein Zug verlohren; keine Farbe mit einem vorbeifliegenden Worte weggestorben: er wecke jede zu rechter Zeit wiederholend wieder auf: das Bild rollet zirkelnd weiter.

So machen es nicht unsre Poetischen Schilderer: sie malen mit jedem Worte, und mit jedem Worte ist auch die Farbe weg: der Zug verschwunden, am Ende haben wir nur eben das Letzte: nichts mehr. So aber nicht der Erste der Dichter: er webt wiederholende[131] Züge ein, die zum zweitenmal das Bild tiefer einprägen, eindrücken, und einen Stachel in der Seele zurück lassen, wie Eupolis, der Komödienschreiber, von dem größten Redner Griechenlandes, dem Perikles, sagte. Die Manier der Komposition seiner Bilder gleicht der Sprechart des Ulysses, dessen Worte wie die Schneeflocken flogen, das ist, wie Plinius sagt, crebre, assidue, large. Er läßt keinen Stein unbewegt, um zum Ziele zu treffen, und seine Pfeile sind, wie die des Philoktets wiederkommend.

Menelaus wird den Räuber seiner Ehre und seiner Gattin vor dem Heere ansichtig, und »freuet sich wie ein Löwe, der auf einen großen Raub fällt.« Nun wäre das Bild zu Ende, aber für Homer ists noch nicht tief gnug in der Seele. Was ist das: der auf einen großen Körper fällt? Homer fährt wiederholend fort: wenn er einen hörnichten Hirsch, oder eine wilde Ziege gefunden. Nun wäre uns wieder das Bild seiner Freude zu weit vom Auge entfernet: es rollt also weiter: hungrig war er: gierig verschlingt ers! Und um den letzten Stachel in der Seele zu lassen, von seinem gierigen Schlingen, von seiner erhaschenden Freude; so erweckt Homer hinter ihm eine laute kommende Jagd: schnelle Hunde, blühende junge Jäger verfolgen ihn. Nun ist das Bild ganz; ich sehe den gierigen Löwen, den Raub, sein Erhaschen, und, was der Raub sey, seine Freude, und seine die Gefahr vergessende Gierigkeit. So freute sich Menelaus u.s.w.8 Sein Gemälde ist ein Kreisbild, wo ein Zug in den andern fällt, wo das Vorige zurück kehrt, um das Folgende zu entwickeln.

Ich müßte alle Bilder, alle Gleichnisse Homers abschreiben, wenn ich alle Beispiele geben wollte; denn sie sind alle nach einer Manier. Nicht immer strömen neue Züge herzu: die Vorigen kommen wieder, malen weiter: der Tanz der Figuren kehrt in sich zurück, und bricht plötzlich ab. Handlung und Empfindung, Zustand und Bewegung wechseln: und gemeiniglich nimmt sich das[132] Wort, das die Handlung wieder erneuern, das ein Band voriger Züge seyn soll, auch dadurch aus, daß es einen Vers anfängt, und also die Rede auf sich stützet. Jedes Bild Homers ist eine Musikalische Malerei: der gegebene Ton zittert noch eine Weile in unserm Ohre: will er ersterben; so tönt dieselbe Saite, der vorige Ton kommt verstärkt wieder; alle vereinigen sich zum Vollstimmigen des Bildes. So überwindet Homer das Hinderniß seiner Kunst, daß ihre Wirkung gleichsam jeden Augenblick verschwindet; so macht er jeden Zug seines Bildes daurend.

Ich habe ein Paar Proben, von der feinen Kunst Homers in seiner Bildercomposition, von Seiten der Sprache gegeben, um zu zeigen, daß ich zu einer Uebersetzung vielleicht Schwierigkeiten finde, von denen manche nichts wissen, die recht viel von Homers Uebersetzung sprechen können; indessen bringen mich auch diese Schwierigkeiten noch nicht zur Verzweiflung. Auch hier wird das Genie Rath finden: es wird zerstücken, und wiederholen – sterben lassen, und wieder vors Auge bringen, und dem Homer wenigstens nacheifern. – Ich wollte, daß Hr. L. sich über dies Wiederkommende in Homers Bildern erklären möchte. Homer schildert nicht; wo er aber muß, da braucht er das angezeigte Kunststück, um mittelst jeden Augenblick schwindender, aber wiederkommender Töne das Ganze eines Eindrucks zu liefern. – – Aus der Tonkunst könnte diese Energie seiner Manier am besten erläutert werden.

1

Laok. p. 143. 150. [458. 462].

2

Klotz. epist. Homeric. var. loc.

3

Riedels Leben Meinhards p. 60. 61.

4

Laok. 143. [458]

5

Laok. p. 181. [479].

6

Laok. 182. [479. 80]

7

The Iliad. translat. by Pope: Book. 1. v. 61–72.

8

Iliad. Γ. 21.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. 1769, in: Herders Sämmtliche Werke. Band 3, Berlin 1878, S. 126-133.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Kritische Wälder
Herders sämmtliche Werke: Band 4. Kritische Wälder, oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Wäldchen 4. Kleine Schriften (Rezensionen) u. a.

Buchempfehlung

Brachvogel, Albert Emil

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.

68 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon