18.

[152] Nun aber ist Homer auch nicht der einzige Dichter: es gab bald nach ihm einen Tyrtäus, Anakreon, Pindarus, Aeschylus u.s.w. Sein επος, seine fortgehende Erzälung, verwandelte sich mehr und mehr in ein μελος, in ein Gesangartiges, und drauf in ein ειδος, in ein Gemälde; Gattungen, die noch aber immer Poesie blieben. Ein Sänger, (μελοποιος) und ein Lyrischer Maler (ειδοποιος) Anakreon und Pindar, stehe also gegen den Geschichtsdichter (εποποιος) Homer.

Homer dichtet erzälend: »es geschah! es ward!« bei ihm kann also alles Handlung seyn, und muß zur Handlung eilen. Hierhin strebt die Energie seiner Muse: wunderbare, rührende Begebenheiten sind seine Welt: er hat das Schöpfungswort: »es ward!« Anakreon schwebt zwischen Gesang und Erzälung: seine Erzälung wird ein Liedchen, sein Liedchen ein επος des Liebesgottes. Er kann also seine Wendung: »es war!« oder[152] »ich will!« oder »du sollst!« haben – gnug, wenn sein μελος von Lust und Freude schallet: eine frohe Empfindung ist die Energie, die Muse jedes seiner Gesänge.

Pindar hat ein großes Lyrisches Gemälde, ein Labyrinthisches Odengebäude im Sinne, das eben durch anscheinende Ausschweifungen, durch Nebenfiguren in mancherlei Licht ein Energisches Ganzes werden: wo kein Theil für sich, wo jeder auf das Ganze geordnet, erscheinen soll: ein ειδος: ein Poetisches Gemälde, bei dem überall schon der Künstler, nicht die Kunst, sichtbar ist. »Ich singe!«

Wo mag nun Vergleichung Statt finden? Das Idealganze Homers, Anakreons, Pindars, wie verschieden! wie ungleich das Werk, worauf sie arbeiten! Der eine will nichts, als dichten: er erzälet: er bezaubert; das Ganze der Begebenheit ist sein Werk: er ist ein Dichter voriger Zeiten. Der andre will nicht sprechen; aus ihm singet die Freude; der Ausdruck einer lieblichen Empfindung ist sein Ganzes. Der dritte spricht selbst, damit man ihn höre: das Ganze seiner Ode ist ein Gebäude mit Symmetrie und hoher Kunst. – Kann jeder seinen Zweck auf seine Art erreichen: mir sein Ganzes vollkommen darstellen; mich in dieser Anschauung täuschen – was will ich mehr?

Es ist eine längst angenommene, und an sich unschuldige Hypothese, das Ganze jeder Gedichtart, als eine Art von Gemälde, von Gebäude, von Kunstwerke zu betrachten, wo alle Theile zu ihrem Hauptzwecke, dem Ganzen mitwirken sollen. Bei allen ist der Hauptzweck Poetische Täuschung; bei allen aber auf verschiedne Art. Die hohe wunderbare Illusion, zu der mich die Epopee bezaubert, ist nicht die kleine süße Empfindung, mit der mich das Anakreontische Lied beseelen will; noch der Tragische Affekt, in den mich ein Trauerspiel versetzet – indessen arbeitet jedes auf seine Täuschung, nach seiner Art, mit seinen Mitteln, etwas im vollkommensten Grade anschauend vorzustellen; es sey nun dies Etwas Epische Handlung, oder Tragische Handlung, oder eine einige Anakreontische Empfindung, oder ein vollendetes Ganze Pindarischer[153] Bilder, oder – alles muß indessen innerhalb seiner Gränzen, aus seinen Mitteln und seinem Zwecke beurtheilt werden.

Keine Pindarische Ode also als eine Epopee, der das Fortschreitende fehle: kein Lied als ein Bild, dem der Umriß mangele: kein Lehrgedicht als eine Fabel, und kein Fabelgedicht, als beschreibende Poesie. Sobald wir nicht um ein Wort »Poesie, Poem« streiten wollen; so hat jede eingeführte Gedichtart ihr eignes Ideal – eine ein höheres, schwereres, größeres, als eine andre; jede aber ihr eigenes. Aus einer muß ich nicht auf die andre, oder gar auf die ganze Dichtkunst Gesetze bringen.

Wenn also »Homer nichts als fortschreitende Handlungen malet, und für jeden Körper, für jedes einzelnes Ding nur einen Zug hätte, so fern es an der Handlung Theil nimmt:«1 so mag damit seinem Epischen Ideal eine Gnüge geschehen. Vielleicht aber, daß ein Oßian, ein Milton, ein Klopstock schon ein anderes Ideal hätten, wo sie nicht mit jedem Zuge fortschreiten, wo sich ihre Muse einen andern Gang wählte? Vielleicht also, daß dies Fortschreitende blos Homers Epische Manier, nicht einmal die Manier seiner Dichtart überhaupt sey? – Der Kunstrichter soll hier ein furchtsames Vielleicht sagen; das Genie entscheidet mit der starken Stimme des Beispiels.

Noch minder darf ich, wenn mich die Praxis Homers auf die Bemerkung führet: »Homer schildert nichts als fortschreitende Handlungen,« sogleich den Hauptsatz drauf schlagen: »die Poesie schildert nichts, als fortschreitende Handlungen – folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.« Wenn ichs bei Homer bemerke, daß »er alle einzelne Dinge nur durch ihren Antheil an diesen Handlungen, gemeiniglich nur mit einem Zuge, male,«2 so darf nicht gleich der Stempel drauf: »folglich schildert[154] auch die Poesie nur Körper andeutungsweise durch Handlungen; folglich kann auch die Poesie in ihren fortschreitenden Nachahmungen nur eine einige Eigenschaft der Körper nutzen,« und was daraus mehr folgen soll, an Regeln von der Einheit der Malerischen Beiwörter, von der Sparsamkeit in den Schilderungen körperlicher Gegenstände – – u.s.w. Daß diese Grundsätze nicht aus einer Haupteigenschaft der Poesie fließen, z.E. aus dem Successiven ihrer Töne, woraus sie Hr. L. hergeleitet, ist bewiesen. Daß sie auch, und wenn sie alle in Homers Praxis so Statt fänden, wie Hr. L. glaubt, doch auch nicht aus dem Successiven der Poesie überhaupt, sondern aus seinem nähern Epischen Zwecke fließen, ist auch gezeigt. Warum soll nun dieser Epische Ton Homers der ganzen Dichtkunst, Ton, und Grundsatz und Gesetz so gar ohne Einschließung geben, als er sich bei Hrn. L. meldet?

Ich zittre vor dem Blutbade, das die Sätze: »Handlungen sind die eigentlichen Gegenstände der Poesie: Poesie schildert Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen: jede Sache nur mit einem Zuge u.s.w.«3 unter alten und neuen Poeten anrichten müssen. Hr. L. hätte nicht bekennen dörfen, daß ihn die Praxis Homers darauf gebracht; man sieht es einem jeden beinahe an, und kaum – kaum bleibt der einige Homer alsdenn Dichter. Von Tyrtäus bis Gleim, und von Gleim wieder nach Anakreon zurück: von Oßian zu Milton, und von Klopstock zu Virgil, wird aufgeräumt – erschreckliche Lücke. Der Dogmatischen, der malenden, der Idyllendichter nicht zu gedenken.[155]

Hr. L. hat sich gegen einige derselben erklärt, und aus seinen Grundsätzen sich noch gegen mehrere erklären müssen. »Die ausführlichen Gemälde körperlicher Gegenstände sind ohne den oben erwähnten Kunstgriff Homers, das Coexsistirende derselben in ein wirkliches Successives zu verwandeln« (es ist oben erwähnt, daß Homer von solchem Kunstgriffe nichts weiß, und ein Kunstgrif, was könnte der zu einem so großen Zwecke als Kunstgrif wohl thun?) – »sind jederzeit von den feinsten Richtern für ein frostiges Spielwerk erkannt worden, zu welchem wenig, oder gar kein Genie gehört.«4 Von diesen feinsten Richtern werden angeführt: Horaz, Pope, Kleist, Marmontel; mich dünkt aber, daß sie für Hrn. L. nicht so ins Unbestimmte hin beweisen. Horaz am angeführten Orte,5 schilt nicht die für Poetische Stümper, die einen Hayn, Altar, Bach, Strom u.s.w. malen, sondern am unrechten Orte malen:


Inceptis gravibus plerumque & magna professis

Purpureus, late qui splendeat, unus & alter

Assuitur pannus, cum lucus & ara Dianæ etc.

Aut flumen Rhenum, aut pluvius describitur arcus.

Sed nunc non erat his locus. – –


Pope erklärte ein blos malendes Gedicht für ein Gastgebot auf lauter Brühen; damit aber hat er ja nicht »jedes ausführliche Gemälde körperlicher Gegenstände,« das nur ohne den Homerischen Kunstgrif erschiene, für ein frostiges Spielwerk ohne Genie erklärt. Der Hr. v. Kleist, dünkt mich, wollte in seinen Früling eine Art von Fabel legen (ein Plan ist so fern schon drinn, daß sein Gedicht nicht eine Menge von Bildern, die er aus dem unendlichen Raume der verjüngten Schöpfung blos auf gerathe wohl, bald hie, bald da, gerissen, sondern, nach der Angabe einer kritischen Schrift, ein Spatziergang ist, der die Gegenstände in der natürlichen Ordnung schildert, in der sie sich seinen Augen dargeboten) er wollte, sage ich, eine Fabel hinein legen; ja nicht aber jede ausführliche[156] Schilderung körperlicher Gegenstände, als ein frostiges Spielwerk, hinaus werfen. Und Marmontel endlich will zwar aus der Idylle mehr Moral, und weniger Physische Bilder haben; ob aber dadurch die Idylle eine mit Bildern nur sparsam durchflochtene Folge von Empfindungen, und wenn dies, eben dadurch auch »eine fortschreitende Folge von Handlungen werde, wo Körper nur mit einem Zuge geschildert werden sollen,« weiß ich nicht, und nach Hrn. L. ist sie im andern Falle nicht Poesie.

Handlung, Leidenschaft, Empfindung! – auch ich liebe sie in Gedichten über alles: auch ich hasse nichts so sehr, als todte stillstehende Schilderungssucht, insonderheit, wenn sie Seiten, Blätter, Gedichte einnimmt; aber nicht mit dem tödtlichen Hasse, um jedes einzelne ausführliche Gemälde, wenn es auch coexsistent geschildert würde, zu verbannen, nicht mit dem tödtlichen Hasse, um jeden Körper nur mit einem Beiworte an der Handlung Theil nehmen zu lassen, und denn auch nicht aus dem nämlichen Grunde, weil die Poesie in successiven Tönen schildert, oder weil Homer dies und jenes macht, und nicht macht – – um deßwillen nicht.

Wenn ich Eins von Homer lerne, so ists, daß Poesie energisch wirke: nie in der Absicht, um bei dem letzten Zuge ein Werk, Bild, Gemälde (obwohl successive) zu liefern, sondern, daß schon während der Energie die ganze Kraft empfunden, und werden müsse. Ich lerne von Homer, daß die Wirkung der Poesie nie aufs Ohr, durch Töne, nicht aufs Gedächtniß, wie lange ich einen Zug aus der Succession behalte, sondern auf meine Phantasie wirke; von hieraus also, sonst nirgendsher, berechnet werden müsse. So stelle ich sie gegen die Malerei, und beklage, daß Hr. L. diesen Mittelpunkt des Wesens der Poesie »Wirkung auf unsre Seele, Energie,« nicht zum Augenmerke genommen.

1

Laok. p. 155. [465]

2

Alle Körper, die in Homers Gedichte mitwirken sollen, werden mit so viel Zügen geschildert, als mitwirken sollen. Auf einen schränket sich Homer selten ein; wenn es auch nur ein Stein, Geräth, Bogen, u.s.w. wäre – er nimmt sich immer Zeit, so viel Eigenschaften seines Körpers anzuführen, als hier Episch energisiren sollen. Schildert er eine Sache nur mit einem Zuge: so ist dieser meistens allgemein, und für diesen Ort unbedeutend: es sind die gewöhnlichen Beinamen, die er zu jeder Sache hat, die ihm oft wiederkommt.

3

Laok. p. 154. 55. [464]

4

p. 173. 74. [474–5]

5

De arte poetica v. 14.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. 1769, in: Herders Sämmtliche Werke. Band 3, Berlin 1878, S. 152-157.
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