O wag es doch nur einen Tag!

[149] Frisch auf, mein Volk, mit Trommelschlag

Im Zorneswetterschein!

O wag es doch, nur einen Tag,

Nur einen, frei zu sein!

Und ob der Sieg vor Sternenlicht

Dem Feinde schon gehört –

Nur einen Tag! es rechnet nicht

Ein Herz, das sich empört.


O wart in deiner tiefen Not

Auf keinen Ehebund;

Wer liebt, der gehet in den Tod

Für eine Schäferstund:

Und wer die Ketten knirschend trug,

Dem ist das Sterben Lust

Für einen freien Atemzug

Aus unterdrückter Brust.


Laß deine Weisen fort und fort

Nur Tod und Schrecken sehn,

Dem Volk soll vor Prophetenwort

Der Ruf der Ehre gehn.

Horch auf, der letzte Würfel fällt,

Dein Abend, er ist nah,

Noch einmal stehe vor der Welt

In deiner Größe da!


O tilg nur einen Augenblick

Aus deiner Sklaverei,

Und zeig dem grollenden Geschick,

Daß sie nicht ewig sei;

Erwach aus deinem bösen Traum:

Reif ist, die du gesucht,[149]

Und schüttle nicht zu spät vom Baum,

Wenn sie gefault, die Frucht.


Wach auf! wach auf! die Morgenluft

Schlägt mahnend an dein Ohr –

Aus deiner tausendjähr'gen Gruft

Empor, mein Volk, empor!

Laß kommen, was da kommen mag:

Blitz auf, ein Wetterschein!

Und wag's, und wär's nur einen Tag,

Ein freies Volk zu sein!
[150]

Quelle:
Herweghs Werke. Berlin und Weimar 1967, S. 149-151,153.
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