Zweite Scene.


[338] Vorige. Ghita tritt langsam von links ein, in dem Anzug von gestern die Hände schlaff herabhängend, die Augen still vor sich hin gekehrt.


GHITA bleibt nah an der Schwelle stehen, sieht die Gräfin ruhig an, sagt mit müder, tonloser Stimme. Guten Morgen, Mutter!

GRÄFIN eilt auf sie zu, schließt sie in die Arme, küßt sie auf die Stirn, was sie regungslos geschehen läßt. O mein Kind, daß ich dich wieder habe! Ich hatte so großes Verlangen nach dir, ich hätte nicht von dir gehen sollen. – Aber du bist blaß. Ist dir nicht wohl?

GHITA. Ganz wohl, liebe Mutter.

GRÄFIN. Komm, setz dich her, wir wollen plaudern. Martina soll dir das Frühstück bringen.[338]

GHITA läßt sich willenlos zu einem Sessel führen. Nein, Mutter, mich hungert nicht. Ich habe nur Durst tiefen, unlöschbaren Durst – nach Stille und Frieden.

GRÄFIN winkt Martina mit den Augen, daß sie sich entfernen soll, setzt sich zu Ghita, nimmt ihre Hand. Stille und Frieden, mein Liebling? Hast du die hier nicht vollauf gehabt?

GHITA. Ja, Mutter, aber es kam ein Erdbeben diese Nacht, hast du es nicht auch gespürt? Freilich, du warst nicht hier.

GRÄFIN. Ein Erdbeben?

GHITA nickt langsam und feierlich, es überschauert sie. Ja wohl, und Etwas in mir ist in Stücke gegangen, Etwas, das ich für fest gehalten in alle Ewigkeit. Nun schwankt mir noch immer der Boden, wohin ich trete.

GRÄFIN ihr das Haar streichelnd. Du hast nicht geschlafen, Ghitina.

GHITA. Auch nicht gewacht. Nicht wahr, Mutter, wenn man wacht, versteht man doch seine eigenen Gedanken? Meine sprachen eine fremde Sprache. Es ist, als hätte ich einen Spiegel in mir getragen, der wäre plötzlich zerbrochen, nun ist mir das Bild aller Dinge zerstückt – ich kann die Scherben nicht wieder zusammenkitten.


Lehnt sich zurück, schließt die Augen.


GRÄFIN nach einer Pause, in der sie sie kummervoll betrachtet hat. Gianotto ist gestern wiedergekommen, ganz unerwartet.

GHITA. Unerwartet? Nein, Mutter, ich will's ehrlich sagen: ich habe ihn wohl erwartet. Und doch nicht ihn: einen Gianotto, der nie wiederkommt. Aber warum reden wir davon? Wir[339] kennen nicht einmal uns selbst, was wissen wir von Andern? Du bist meine Mutter, nicht wahr? Wunderlich, daß der zerbrochene Spiegel dein Bild noch wie sonst zurückstrahlt!

GRÄFIN sie an sich ziehend, küßt sie. Kind, mein geliebtes einziges Kind, – nein, sprich nur mit deiner Mutter, vertrau ihr Alles! Was ängstet dich? Eine Schwermuth liegt über dir, die nicht zu deinen Jahren paßt.

GHITA. Und warum nicht, Mutter? Sagt man nicht: wer jung viel lacht, wird alt viel weinen? Nun siehst du, wer schon in der Jugend sich ausweint – ich zum Beispiel – ich habe gar keine Thränen mehr, da könnte ich eine lustige alte Frau werden; ich möcht's aber nicht. Es muß schauderhaft sein, dran zu denken, daß man Dinge hat überleben können, die –

GRÄFIN. Was für Dinge, mein Herzenskind?

GHITA. Nichts, Nichts! Es geht auch vorüber. Es ist schon vorbei.


Steht auf.


GRÄFIN erhebt sich gleichfalls. Dein Vater wird sehr betrübt sein, dich in dieser Melancholie zu sehen. Er wünscht, daß du mit mir nach Neapel kommst. Man hat überall am Hofe nach unserer Tochter gefragt. Die fürstlichen Herrschaften sind überaus gnädig.

GHITA. Geh du allein, Mutter. Grüße den Vater und danke Allen, die gut von mir denken. Es ist eine große Gnade, sie wird nicht Allen zu Theil, selbst denen nicht, die sie verdienen. Ist der Vater doch wohl? Reitet er viel sein braunes Pferd?

GRÄFIN den Arm um sie schlingend. Ich weiß, liebste Tochter, warum du dich vor Neapel fürchtest. Du denkst, du sollest dort mit dem Herzog verlobt werden. Aber obwohl dein Vater es gewünscht hat – fürchte[340] nicht, daß irgend Etwas wider deine Neigung geschehen werde. Es sind jüngere und schönere Bewerber dort, und wenn auch von denen dir keiner gefällt – bei der Liebe, die dich unterm Herzen trug: du sollst frei sein, dir dein Glück zu wählen nach deinem Herzen.

GHITA. O Mutter, du bist gut. Ich wußt' es wohl. Ich danke dir tausendmal. Ja, Mutter, frei will ich sein! Wenn sie alle mich verkennen und verlästern, ich weiß es, Mutter, du wirst mich verstehen, mir nachfühlen, warum ich die Freiheit allem andern Glück vorgezogen. Kann man denn noch auf Glück hoffen, wenn die Erde bebt, wenn man keine Stunde sicher ist, daß sie sich aufthun und Alles verschlingen möchte, woran wir uns festgeklammert lange, schöne, betrogene Jahre hindurch?

GRÄFIN. Was meinst du nur, Kind, mit diesen wunderlichen Worten? Hast du böse Träume gehabt?

GHITA. Nein, Mutter, aber der Mond schien gar zu hell in meine Kammer, da war mir's, als sähe ich die Welt zum ersten Mal, wie sie ist, und daß Abgründe in ihr liegen, die Nichts ausfüllt, die so unermeßlich breit sind, daß Menschen, die hüben und drüben stehn, schreien können, so laut sie wollen, und sich nicht verstehen. O Mutter, wenn man das erkannt hat, dann ekelt uns vor dem, was uns das Süßeste war, dann schaudern wir, wenn unsre eigne Hand zufällig unsre Stirn berührt, als griffe ein Feind nach unserm Kranz, dann zweifeln wir selbst an der Barmherzigkeit Dessen, der unsre geheimsten Gedanken kennt – o Mutter – Mutter – es ist entsetzlich!


Sinkt an ihr nieder, das Gesicht gegen ihren Schooß gedrückt.


GRÄFIN. Kind – du zerbrichst mir das Herz in der Brust! Ich beschwöre dich – Hebt sie auf.

GHITA sich fassend. Vergieb, es ist vorbei, es war das letzte Zucken einer tödtlichen Krankheit – von der ich nun genesen bin. Küsse mich,[341] liebe Mutter, und sage, daß du mir vergiebst, Alles was ich dir jemals – nein, ich war kein böses Kind, aber dennoch, wir verstanden uns nicht immer, und das machte dir Kummer. Nun wirst du mich immer besser verstehen, das ist mein Trost, und dafür dank' ich dir. Hascht ihre Hand, küßt sie lebhaft. – Und jetzt – will ich ein wenig ins Freie gehn. – Sei ohne Sorgen, mir wird dann wohler – und folge mir nicht – bitte, bitte! Nie werde ich dir vergessen, daß du mir's gegönnt hast, ein Glück mir wählen zu dürfen nach meinem Herzen!


Geht langsam durch die Thür links ab.


Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke. Band 11, Berlin 1872–1910, S. 338-342.
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