Die Schlucht

[414] Tret' ich, die Brust zu lüften, aus dem Haus

Aufatmend in den Wintertag hinaus,

So lockt mich, eh' ich fünfzig Schritte tat,

Vom Fahrweg links hinweg ein Schattenpfad

Zu einem Gittertor. Da tret' ich ein,

Und mich empfängt ein lichter Erlenhain,

Sich wölbend über eines Bächleins Lauf.

Links steigt der Abhang dichtbelaubt hinauf,

Rechts breitet sich ein sanfter Wiesengrund

(Der Lieblingstummelplatz für meinen Hund)

Und drüber, auf des Tales Rand erhöht,

Ein weiß Kapellchen. Ihm zur Seite steht

Ein dunkles Paar Zypressen, hingestellt

Als Wächter dieser traumhaft stillen Welt.

Rings unten auf dem dichtbegras'ten Plan

Und zu den schattigen Halden hoch hinan

Wird, wenn die ersten lauen Lüfte wehn,

Ein märchenbunter Lenzesflor erstehn,

Von Primeln schimmert's golden, Veilchen blühn,

Aus wilden Myrten äugelt Immergrün,

Doch jetzt ist Winter.

Sacht schreit' ich empor,

Bis wo sich auftut hoch und schmal ein Tor:

Zwei schlanke Stämme, wuchernd dicht umrankt

Von Epheu, der bis in die Wipfel langt.

Hier ist der Eingang, wo die Schlucht sich engt

Und ew'ge Wildnis dämmernd dich umfängt.[414]

Vom Bach, der rauschend in die Tiefe fährt,

Wird üppig grüne Pflanzenbrut genährt,

Hängt sich in wirren Ranken links und rechts

Um nackte Zweige jedes Baumgeschlechts,

Hirschzungen, Farn und Brombeer, urwalddicht,

Schwach trieft herein von oben her das Licht.

Hier kannst nach Herzenslust du einsam sein,

Denn selten nur verirrt sich hier hinein

Ein Wintergast. Und wo die Kluft sich schließt,

Siehst du den Bach, der rauschend sich ergießt

Aus braunem Felsspalt und zerstiebt im Fall

Und füllt die Schlucht mit seines Sturzes Schall.

Das Bänklein hier, vom hellen Gischt umsprüht,

Lockt nur zur Rast, wenn schwer der Sommer glüht.

Doch jetzt ist Winter; aber weich die Luft

In dieser moderkühlen Felsengruft,

Und würzig weht dich an um Weihnacht auch

Des immergrünen Unkrauts feuchter Hauch.


Hier ist's, wo manche Stund' an manchem Tag

Ich still verweilend der Betrachtung pflag,

Der Welt und ihrem Lärmen weit entrückt,

Von Geistergruß im Innersten beglückt,

Tief in den Frieden der Natur versenkt,

Die Seel' und Leib aus reinen Quellen tränkt.

Denn der Gealterte – was kann die Welt

Ihm geben, das dem Glück die Wage hält

Einsamer Einkehr in sich selbst! Der Wahn,

Antwort auf Schicksalsfragen zu empfahn,

Des Weltgeheimnisses zweideut'gen Sinn

Je zu enträtseln, – längst schwand er dahin.

Des bunten Lebens vielgestalt'ger Zug,

Der uns vorbeiflieht, schon bekannt genug

Dünkt uns sein Wechselbild; schon tausendmal

Rührt' er an unser Herz in Lust und Qual.

Nur was aus Tiefen unsrer eignen Brust

Aufsteigt, uns wie ein Traum nur halbbewußt,

Veraltet nie, ein unerschöpfter Quell

Begieriger Betrachtung, dunkelhell.

Denn ob die Fordrung niemals sich erfüllt[415]

Der Selbsterkenntnis, nie doch wird gestillt

Die Sehnsucht, aus dem weiten Weltenrund

Zu flüchten in des eignen Wesens Grund

Und zu genießen rein und ungestört,

Was unentreißbar einzig uns gehört,

Sich uns enthüllend in der Zwiesprach nur

Mit unsrer alten Mutter, der Natur.


Wie bist du hier mir nah, du heil'ge Macht,

Im dunklen Zauber dieser Waldesnacht!

Im Wasserfall, der schäumend niederschießt,

Hör' ich die alte Weisheit: Alles fließt.

Und wie aus tausend Keimen Leben dringt

Und rankend sich empor zum Äther schwingt,

Ob auch der Winter draußen starr und wild

In Eis und Schnee die Bergesgipfel hüllt,

So fängt die Brust, die schon erstorben schien,

Mit tausend neuen Trieben an zu blühn,

Und aus der immergrünen Schlucht hinaus

Kehr' ich gestärkt an Haupt und Herz nach Haus.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 414-416.
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