Zueignung1

[247] (An Wilfried)


Nun gingen zwanzig Jahr dahin,

Seit du uns fehlst, mein holder Sohn,

Und immer noch in Ohr und Sinn

Klingt mir der lieben Stimme Ton,

Und immer noch in Nächten klar,

Wenn mich geweckt die alte Wunde,

Seh' ich dein ernstes Augenpaar,

Das Lächeln an dem jungen Munde.


Doch nein! das sind die Augen nicht

Des Knaben, wie in jener Zeit:

Mich grüßt ein Jünglingsangesicht,

In Lebensernst schon eingeweiht;

Als ob an jenem dunklen Ort,

Der streng dich hält in seinem Banne,

Du heimlich lebtest mit uns fort

Und reiftest still heran zum Manne.


So wärst du hier auf Erden auch

Zu unserm Stolz herangeblüht,

Umweht von jenes Adels Hauch,

Der schon dein Knabenherz durchglüht.

Nicht wie der heut'gen jungen Welt

Erschiene dir des Lebens Krone

Genuß und Macht, und treu gesellt

Wär' mir ein Freund in meinem Sohne.


Nun wir getrennt für immer sind,

Kann ich im Geiste nur dir nahn,

Doch all mein Tagwerk, teures Kind,

Ist immer auch für dich getan.

Dir bracht' ich stets das Beste dar

Von meinen Lebensernten allen,

Und wenn ein Werk vollendet war,

Fragt' ich mich: würd' es ihm gefallen?
[248]

Umsonst! Es kehrt aus jenem Reich

Kein Laut des Anteils je zurück,

Und einem blassen Schatten gleich

Ist dieser Freundschaft Geisterglück.

Doch samml' ich heut die Herbstfrucht ein,

Gereift in Sonn' und Sturmeswettern,

Dem Toten soll zu eigen sein,

Was leben wird in diesen Blättern.


Salò

25. März 1897

1

Der »Neuen Gedichte und Jugendlieder.« 1897.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 247-249.
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