Gott und Welt

[612] Kein Wagenlämpchen ist der Witz,

Bei dem du magst gemächlich reisen,

Doch gnügt in dunkler Nacht ein Blitz,

Dir plötzlich Bahn und Ziel zu weisen.


Ein Bilderbuch ist diese Welt,

Das manchem herzlich wohlgefällt,

Der blätternd Bild um Bild genießt,

Vom Text nicht eine Zeile liest.


Die goldne Mittelmäßigkeit

Muß wohl Unmittelbares hassen.

Drum hat sie sich zu aller Zeit

Natur, Geist, Gottes Herrlichkeit

Anthropomorphisch lang und breit

Zum Schulgebrauch übersetzen lassen.


War's auch human, im Wurmgeschlecht

Den Gottesfunken anzufachen?

Mußt' er den gottbewußten Knecht

Nicht vollends erst zum armen Teufel machen?


Rätsel, die zu lösen endlich,

Werden sie »natürlich« schelten.

Nur was ewig unverständlich,

Wird als Offenbarung gelten.
[612]

Im Buch der Bücher offenbar

Steht Gottes Wort. Doch sagt, ihr Frommen,

Ist Gott durch so viel tausend Jahr

Sonst nie zu Wort gekommen?


Wie gegen die Kirche wir auch uns wehren,

Der Andacht können wir nicht entbehren.


Gern auf den Knieen verehrt' ich ihn,

Ließ' er im feurigen Busch sich spüren.

Doch mag ich nicht so obenhin

Seinen Namen unnützlich führen.


Es ist ein Trost in mancher Not,

Zu denken, das lumpige Leben

Sei ein Kontrakt mit dem lieben Gott,

Einseitig aufzuheben.


Gönnt doch den Wahn dem armen Schlucker,

Der nur des Lebens Bitterkeit genießt!

Unsterblichkeit ist ja der Zucker,

Der ihm den herben Trank der Zeit versüßt.


Vergüten reichen Alters Garben

Mißwachs der Jugendzeit und langes Darben,

Und sollt's Ersatz im Himmel geben

Für ein verpfuschtes Erdenleben?


Unsterblichkeit

Manch geliebtes Auge bricht,

Doch ertragt ihr's fortzuleben.

Und der Weltgeist sollte nicht,

Wenn auch euch erlischt das Licht,

Kummerlos sich drein ergeben?


Bist du schon gut, weil du gläubig bist?

Der Teufel ist sicher kein Atheist.
[613]


Anthropomorphismus

Du glaubst, mit Gott vertraulich

Unter vier Augen zu sein,

Und blickst doch nur erbaulich

Ins Spiegelglas hinein.


»Verdammlich ist's, nach Glück zu streben;

Das Ziel des Menschen ist die Pflicht.« –

Allein beglückt es euch denn nicht,

Euch euren Pflichten hinzugeben?


Schächerphantasie

Die schöne Erde geben sie aus

Für ein großes Zucht- und Arbeitshaus

Und glauben, der Herr und Schöpfer sei

Der oberste Chef der Weltpolizei.


Die Gemütlichen

Ihr stellt in euren Systemen nur

Ein artig Familienbild zur Schau,

Als wäre Mütterchen Natur

Des lieben Herrgotts liebe Frau.

Die Kinder, die nicht wohlgeboren,

Zupft der Papa derb an den Ohren,

Und bessern sich die armen Lümmel,

Belohnt er sie in seinem Himmel.


Sehr weislich pflegt die Menge beim Gebet

Gott in Hausvatertracht zu stecken.

Erschien' er ihr in voller Majestät,

Wie Semele erläge sie dem Schrecken.


Sie treiben es nach Höflingsart:

Ein Zweifel schon ist Majestätsverbrechen,

Und der ist reif zur Höllenfahrt,

Der offen wagt zu widersprechen.
[614]

Harun Al Raschid horchte gern

Vermummt auf das Gespräch der Schenken.

Sollt's nicht ergötzen Gott den Herrn,

Zu lauschen, was wir von ihm denken?


Unsinnige Pedanterei,

Will stets der Geist die Sinne meistern!

Am echten Geiste werden frei

Gesunde Sinne sich begeistern.


Die ihr an keiner Sabbatruh'

Euch feiernd wollt beteiligen,

Euch fällt der Pflichten schönste zu:

Den Werktag auch zu heiligen.


Optimisten und Pessimisten

Müßt ihr in Superlativen sprechen,

Das Weltgeheimnis zu ergründen,

Anstatt mit ihren Tugenden und Schwächen

Die Welt nur eben »schlecht und recht« zu finden?


Pessimismus

»Warum es diesen Kerl nur juckt,

Die Welt zu lästern wie besessen?

Sie trägt doch manch genießbar Produkt;

Wie kann er das vergessen?« –

Du weißt: wer in die Schüssel spuckt,

Möcht' alles allein auffressen.


Was in der Welt

Dir nicht gefällt,

Mußt dir gelassen

Gefallen lassen.
[615]

Wohl, sein eigner Herr zu sein,

Ist des Menschen höchste Würde,

Doch die Furcht treibt insgemein

Herdenmenschen in die Hürde.


Lieber brennt ihr feig und schwach

Selber euch ins Fell ein Zeichen,

Dürft ihr nur dem Leitbock nach

Grasen unter euresgleichen.


Am ewig Gestrigen klebt der Philister,

Wenn der Phantast des ewig Künft'gen harrt.

Der wahre Mensch – ein Kind des Geistes ist er,

Der war und wird in ew'ger Gegenwart.


Es sehnt sich jedes Kind der Erden,

Von Geistern übermannt zu werden,

Und will kein Engel zum Ringkampf kommen,

Wird auch mit Teufeln vorlieb genommen.


Mystik

Je mehr du in die Tiefe dringst,

Je mehr wirst du der Welt entschwinden,

Und wenn du in den Mittelpunkt versinkst,

Kann Gott allein dich wiederfinden.


Stets hab' ich mit der Schrift gedacht,

Daß nur der Glaube selig macht,

Wenn ich zu streng das Wort auch finde:

»Was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde.«

Mit diesem Bekenntnis laßt mich wohnen

Abseits von allen Konfessionen.


Wen die Götter lieben,

Segnen sie mit Leiden,

Mit der stillen Seele,

Die den Schmerz versteht.
[616]

Viel ist dann geblieben,

Was im Lärm der Freuden

Wie der Philomele

Dunkles Lied am Tag verloren geht.


Wird den Winden auch zum Raube,

Was ein Staubessohn geschrieben,

Sei es gleich dem Blütenstaube,

Der befruchtet im Zerstieben.

Senilia

1.

Mit deinem Herzen gab's vorzeiten

Oft eine muntre Konversation,

Auch wohl ein hitzig Zanken und Streiten;

Das ist verstummt seit lange schon.

Wie Eheleute, die hochbetagt

Sich alles hundertmal schon gesagt,

Sitzt ihr verträglich im engen Haus

Und schweigt euch gegen einander aus.


2.

Altwerden ist keine leichte Kunst.

Frauen und Dichter müssen sie lernen,

Wenn kühl die Jungen sich entfernen,

Die einst gebuhlt um ihre Gunst.

Dann gilt's erst, liebenswert zu bleiben,

Auch wenn du selbst nicht mehr beliebt

Und keiner sich mehr die Mühe gibt,

Dir einen Liebesbrief zu schreiben.


3.

»Du hast so Vieles schon getan,

Dünkt dir nicht endlich die Ruhe labend?« –

Freu'n kann mich nur der Feierabend,

Fängt morgen wieder die Arbeit an.
[617]

4.

Das ist das Schicksal in hohen Jahren:

Wir können an neuen Lebensfreuden

Kaum Überraschendes noch erfahren,

Doch um so mehr an neuen Leiden.


5.

Hast du nicht früh schon dich gewöhnt,

Dein eigen Herz nur zu erfreuen,

Wenn, was du singst, melodisch tönt,

Des Lebens Mißklang dir versöhnt,

So wirst du's später schwer bereuen.

Applaus, der Anfangs dich gelockt,

Wird schwächer, bis er endlich stockt,

Da neuer Spieler neue Kunst

Dir schmälert allgemach die Gunst

Und dir entzieht dein Publikum.

Du aber gräme dich nicht darum,

Wenn nur der Klang der eignen Saiten

Dein Herz noch schwichtigt, wie vorzeiten.


6.

»Wozu man lebt?« erführst du gerne.

Nun eben, daß man leben lerne.

Und hat man's dann gelernt zur Not,

Das Reifezeugnis schreibt der Tod.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 612-618.
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