Philosophie

[608] Wenn sich die Sprüche widersprechen,

Ist's eine Tugend und kein Verbrechen.

Du lernst nur wieder von Blatt zu Blat

Daß jedes Ding zwei Seiten hat.


Nachdenken doch immer Mühe macht,

Wie gut man euch auch vorgedacht.


Vor deine Dialektik stellt

Sich wie im Stereoskop die Welt

Zwiefach geteilten Scheines.

Doch hast du wahren Tiefsinns Kraft,

So schaue, was auseinanderklafft,

Lebendig wieder in eines.


Die –aner

Viel Geistesgegenwart beweist,

Wer immer schlag- und redefertig.

Doch mancher peroriert so dreist,

Dem nur der Geist von andern gegenwärtig.


Erdachtes mag zu denken geben,

Doch nur Erlebtes wird beleben.
[608]

Gedanken gibt's verschiedner Art,

Junge und alte,

Mit Flaum am Kinn oder greisem Bart,

Mit oder ohne Falte.

Hüt' dich vor solchen, Menschenkind,

Die nur verkappte Stimmungen sind.


Ein Narr macht mehre,

Doch gebt nur acht,

Wie viele Toren

Ein Weiser macht.


Geschichtsphilosophie

Das Glück der Welt nimmt zu an Breite,

Allein an Höh' und Tiefe kaum.

Mehr gute Leute träumen heute

Vergnüglich dieses Lebens Traum.

Doch wer damit den Tag anfing,

Daß er an Platos Lippen hing,

Dann konnt' in Phidias' Werkstatt gehn

Und sah ein Götterbild entstehn,

Am Abend durft' im Theater hören

Antigone mit griechischen Chören,

Um mit Aspasia und den Ihren

Hernach vertraulich zu soupieren,

Hat mehr des besten Glücks erfahren,

Als wir nach zweimal tausend Jahren.


Das Weltgeheimnis – nehmt's nicht übel –

Vergleich' ich einer großen Zwiebel.

Wer Schal' um Schale sich nah besehn,

Dem werden die Augen übergehn.


Nur schwachen Trost, wenn dich ein Unheil trifft,

Gibt philosophische Betrachtung.

Für Weltunbill das einz'ge Gegengift

Ist Weltverachtung.
[609]

Weiter, als Adam es gebracht,

Bringt's auch der Weiseste nicht im Leben:

Er hat sich alle Dinge betracht't

Und ihnen Namen gegeben.


Die Weisheit wärmt zu jeder Frist,

Deren Unterfutter die Torheit ist.


Auf Freiheit legt's so mancher an,

Tut doch, was er nicht lassen kann.

Kann er's nicht lassen sich frei zu fühlen,

Mag er mit seinen Ketten spielen.


Die Worte werden dir manches sagen,

Verstehst du nur sie auszufragen.


Nach unverbrüchlich fester Norm

Entfaltet sich lebend'ge Form.

Wer Augen hat, der sieht alsbald

Im kleinen Finger die Gestalt.


Im Haushalt der Natur

Wird nichts verschwendet,

Der Stoffe kleinste Spur

Aufs neu' verwendet.

Was aber fängt sie dann

Mit den beaux restes der Geister an?


Was ist nur all der Plunder wert,

Den ihr von außen zusammenkehrt?

Dem weiten Kreise, mit dem ihr prunkt,

Fehlt's ewig doch am Mittelpunkt.
[610]

Sie glauben, alles Heil sei nur

Zu finden in ihrem Orden.

Wer im Käfig gebrütet worden,

Dem scheint sein Drahtgeflecht Natur.


Wie Regen rieselt grau und kalt,

So waltet Unmut trüb verdrossen

Mit formlos widriger Gewalt,

Bis Herz und Lippe sich verschlossen.


Philosophie gibt Dach und Fach,

Da dringt der Regen nicht herein;

Ist aber dumpfig im Gemach,

Ist auch noch lang kein Sonnenschein.


Je ernster sie sind, je redlicher,

Je schlimmer der Kampf mit harten Schädeln.

Nichts ist der Wahrheit schädlicher,

Als der Irrtum der Edeln.


Zu viel verlangt, daß die Natur

Ihr Sein dir zum Bewußtsein bringe!

Sei froh, spürst du dein eignes Auge nur

Am bunten Widerschein der Dinge.


Das Weltkind

Am Rocken mancher Philosophie

Hab' feine Fäden gesponnen,

Doch vom Gespinst ein Hemdlein nie

Für meine Blöße gewonnen.


Ich spann zu lang, ich spann zu kurz,

Ich sann und spann vergebens.

Nun flecht' ich mir einen Blätterschurz

Im Paradies des Lebens.
[611]


Der Weise

Sie spotten dein, Philosophie,

Wie des Propheten die Knaben.

Du Kahlkopf, Kahlkopf! rufen sie,

So lang sie noch Locken haben.


Doch Schuld und Schmerz, das wilde Paar

Mit rauhen Bärentatzen,

Die werden ihnen das Lockenhaar

Und gar den Schädel zerkratzen.


Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 608-612.
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