Das Hundegrab auf Oxia

[535] Ein Mahnruf


Ein kahles Eiland in der Meereswüste

Von Menschen unbewohnt, da nicht ein Quell

Hervorbricht aus dem starren Felsengrund,

Der Nahrung böte einem Grashalm nur,

Indes die Sonne südlich hohe Glut

Herniedersendet. So Jahrtausendlang

Stand allgemieden, trostlos, wie verfemt

Die Klippe da.

Doch heute, wer im Boot

Der Insel naht – auf einmal staunend sieht

Sein Aug' ein wimmelnd Leben dort am Strand,

Wo einst des Todes Schweigen nur geherrscht.

Und Grauen wird das Staunen, wenn er sieht:

Was dort sich regt, ist schauriger als Tod,

Der Wohltat wär' den Unglückseligen,

Verdammt zu langsamen Verschmachtens Qual,

Ein Schicksal, das dem schlimmsten Mörder nicht

Verhängt das härtste Strafgesetz.

Wer sind

Die Jammervollen? Was verbrachen sie?

Unschuld'ge sind's, hier grausam eingepfercht

Von Menschen, die unmenschlich sind, denn gut

Und edel sei der Mensch, indessen sie

Vergaßen aller Güte, da es hier

Nur Tiere gilt, und für die Folterung

Von armen Hunden keine Rechenschaft

Zu geben ist am Tage des Gerichts!


Wohl! Überhandnahm, nicht zu dulden mehr,

Die Hundeplage, die des Sultans Stadt

Gemacht zu räudiger Streuner Tummelplatz,

Wohl durften endlich ihres Herrenrechts

Die Menschen sich bedienen, notgedrängt.

Doch dann auch, wenn es Selbsterhaltung gilt,

Geziemt Erbarmen. Der Gerechte, heißt's

Im heil'gen Buch, erbarmt sich seines Viehs.

Und wenn auch der Prophet kein solch Gebot[536]

Der Milde seinen Gläubigen eingeschärft,

Hat er sein Pferd und seine Katze doch

Zärtlich geliebt, und in der Notwehr wohl

Hätt' er den scharfen Stahl auch auf ein Tier

Gezückt, doch es dem Tode nie geweiht

Durch marterndes Verdursten, obdachlos

Dem Brand der Sonnenpfeile ausgesetzt,

Bis es die Wut befällt und brechend sich

Der Blick der schwachen Kreatur, die gern

Den Freund im Menschen sieht, verzweiflungsvoll

Zu seinem Henker hebt.

Wohl ist die Welt

Noch heut der Greuel voll, die Menschen auch

An Menschen üben. Doch ein letzter Trost

Bleibt den Verzweifelnden, wenn übergroß

Die Qual ward, mit freiwilligem Entschluß

Sie enden, was versagt ist dem Geschöpf,

Das ach, vernunftlos, doch nicht seelenlos

Sich knechtisch beugen muß dem blinden Recht

Des Stärkern.

Also in der Zeitung stand

Die Mär vom Hundegrab in Oxia.

Wohl niemand, will ich glauben, hätt' er auch

Für diesen treuen Spiel- und Leidgefährten

Des Menschen sonst kein Herz, konnt' ungerührt

Die Kunde lesen des Entsetzlichen,

Das hier nicht blöde Roheit einzelner,

Nein, kalte Staatsweisheit verordnet hat,

Zur Schmach dem ganzen Volk, das drein sich fügt.

Doch, die es schaudernd lasen, fühlten sie

Sich tiefer aufgeregt, als wenn sie sonst

Von einem Unglück hörten: Daß im Berg

Verschüttet wurden arme Häuer, daß

Ein Schiff mit aller Mannschaft untersank,

Die Pest vieltausend Menschen hingerafft,

Was einzig blinder Elemente Schuld?

Und keinem fiel es ein, daß täglich hier

Ein unerhörter Frevel wird verübt,

Den stumm mit anzusehn, das Herzblut ihm

Empören sollte? Wirken segensreich[537]

In unsrer Stadt und in den Ländern rings

Vereine zu gequälter Tiere Schutz,

Und geht von keinem, keinem ein Protest

Bis hin zum goldnen Horn, da solchen Gräul

Zu dulden, dem Jahrhundert Schande macht?


Noch will ich hoffen. Doch was kommen soll,

Geschehe bald, bevor die Todesqual

Des letzten Opfers diese Christenwelt

Verklagt, die das Gebot der Liebe kennt,

Und doch so lässig übt die heil'ge Pflicht

Der Menschlichkeit!


München, 9. Juli 1910


Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 535-538.
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