§. 53.


Uebertreibung?

[258] Lerne die Menschen näher kennen, und du wirst finden, daß auch die gelehrtesten und geschicktesten unter ihnen – ad certum objectum – übertreiben. Und ist diese Uebertreibung nicht unschädlicher, als Steckenpferdezucht, auf die sich fast jeder legt, um zu wettrennen? – Nebendinge zum Wesentlichen erheben, sich als Pastetenbäcker werden lassen und doch ein Hofpoet seyn: ist das nicht so ziemlich sich höher anschlagen, als man wiegt – und andere über die Hälfte und oft den Staat mit seiner werthen Person anführen? – Siehe dich um, Lieber! Ist übertreiben und mit Ernst treiben nicht fast ein und dasselbe Ding auf Erden? Diensteifer ist übertriebene Diensttreue; und wer ist mit Diensttreue befriedigt? wer geht nicht auf Diensteifer aus? Ich weiß, mit keinem Zu ist zu prahlen; allzuviel ist ungesund. Ist zu viel indeß nicht erträglicher, als zu wenig? – Sieh den Soldaten, den Staatsmann, den Gelehrten! Nimm, um etwas Nagelneues vom Jahre zu haben, die jetzige Königsfeindschaft in Frankreich. Heute, den 6. Oktober 1792, lese ich in öffentlichen Blättern, man habe in Nancy das Wort König an der Bildsäule des Stanislaus vertilgt. – Auch nach dem Tode wird dieser arme König entthront! – Man verwandelt die Könige im Kartenspiel in Freiheitspiken; man will den Namen Ludwig ändern und den Heiligen dieses Namens aus dem Kalender verweisen. König David[258] hat von Glück zu sagen, daß er, außer der Königs-, auch noch die Prophetenwürde bekleidet, sonst ging' es ihm kein Haar besser, als dem Stanislaus! Und wie wird es mit dem lieben Gott bleiben, welcher der König aller Könige und der Herr aller Herren genannt wird? Klippern gehört zum Handwerk, Sporen zum Reiter, Ordensband zum Helden und Minister. – Jeder Gegenstand hat seinen ihm angemessenen Styl: wer in einen benachbarten fällt, ist ein Pedant; wer alle durch die Bank übertreibt, ein Genie. – Das Kreuzzimmer bedurfte keines Hirams, keiner Risse und keiner langen Vorbereitung. – Der Ritter sprach, und es ward eine Sammlung aller Kreuzarten, wiewohl nur in efsigie, und dergestalt, daß das Johanniter-Malteser-Kreuz seinen Platz in der Mitte nahm. O, der Sonne an diesem Kreuzhimmel! sagte der Ritter, und hob gefaltete Hände zum Mittelpunkt aller dieser Kreuze. Es war ein herrlicher Tag, da eben dieß Zimmer, Jerusalemschem Gebrauche nach, mit einer Session und nachherigem Mahl feierlichst inaugurirt werden sollte, als eine


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 1, Leipzig 1860, S. 258-259.
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