59. Gleichgültig

§. 59.


gleichgültig.

[286] Ist der Trunk eine kurze Wuth, so ist die Schönheit, nach dem Ausspruche des weisen Sokrates, eine kurze Tyrannei – die tiefste und höchste Vernunft kann sich nicht halten; – Schönheit erobert diese Festung. Unser Held, der jetzt einundzwanzig Jahr alt[286] war, hatte sich noch nicht Zeit genommen, zu lieben. Ueberall, sagte Heraldicus junior, hätte er sich Flügel der Einbildungskraft angelegt; nur hier nicht. Nie hatte ein Stück aus der gewiß nicht kleinen Bildergallerie, die in Rosenthal so oft gastfreundlich aufgestellt war, ihn länger gerührt, als sie da zu Markte stand. Vielleicht war die Ursache in der Zudringlichkeit zu suchen, mit der diese Schönen ihn durch ihre Augen fahen wollten. Jetzt war es mit ihm geschehen. – Sie kam, sah und siegte. – Wer denn? – Wenn ich es selbst nur wüßte! Es war gewiß seine erste Liebe. Seine Herz schien ihm den Schwur abzunehmen: auch die letzte. – Ihre Bildung, ihr Wuchs, ihr Verstand, ihr Herz! – Keine genauere Beschreibung! jede wäre ein Verlust für sie. Sie würde das Mädchen vielleicht zum allerliebsten, zum schönsten Mädchen machen; – doch war sie meinem Helden eine Gottheit. Genug, es war Eva die einzige! – und – was ich meinem Helden hoch anrechne – er war so ganz Adam. Mit einer Herzlichkeit und Offenheit, wovon man seit dem verlornen Paradiese, nicht dem Miltonschen, sondern dem wirklichen, kaum ein Beispiel hatte, nahte er sich ihr, und sie erwiederte sein Ave Maria – nicht mit einem feinen Amen, das heißt: Ja, ja, es soll also geschehen, sondern mit einem bescheidenen Willkommen! – Wahre Schönheiten zieren sich nicht, so wie große Menschen nicht stolz sind. – Ihr keuscher Busen bedurfte nicht der Gardine ihres fliegenden Haares; die Unschuld schlug laut in ihm. – Hohe Schönheit, hohe Tugend, hoher Verstand – wo diese drei Eins sind, da braucht es keiner elenden Schildwache von Ziererei! Unter dem Schutze der Unschuld und der allgemeinen Sitten ist ein Mädchen am sichersten. Die Grazien verstatten keine ungezogene Zudringlichkeit. – Der Ritter fand in den herrlichsten Stellen auf dem Angesichte dieses erschienenen Engels, und besonders in der rings um den Mund, eine große Aehnlichkeit mit seinem vortrefflichen Weibe; und[287] gewiß sind alle Grazien einander ähnlich. – Die Ritterin verehrte diesen Engel dieser Aehnlichkeit halber; und der Ritter wußte nicht, wie er seine Mütze kehren und wenden sollte, bis er sie endlich, trotz der Furcht vor Kopfflüssen, völlig ablegte. – Es war eingelenkt, daß unser Held bei seiner Heldin sitzen sollte. – Man wollte zu Tische gehen, und siehe da! die Dame des Hauses, unter dessen Schutz der Engel erschienen war, ward von einer so heftigen Krankheit ergriffen, daß in einem Augenblicke die Freude ein Ende hatte. So schnell löschten die Fingerlein ihre Lichter nicht aus, wie dieser Besuch sich endigte und die Nachbarschaft von hinnen zog; – es war, als flögen sie davon. Den Ritter entzückte


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 1, Leipzig 1860, S. 286-288.
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Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z
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