§. 63.


Orden der Verschwiegenheit

[292] in Rosenthal aufgenommen. So sehr auch dieser Orden in seinen Augen durch den Umstand verlor, daß die Erschienene nicht selbst die Großmeisterin machte, so genügte ihm doch die Idee: es kam[292] von ihr! Ein Orden! Ob es der Mühe lohnen wird, daß wir der Aufnahme unseres Helden (Mutter und Vater waren schon ohne förmliche Aufnahme in der Stille eingeweiht worden) als Gäste beiwohnen? – Der Junker ward zuerst in ein herrlich erleuchtetes Zimmer geführt, und drei Viertelstunden allein gelassen. Jetzt trat die Nachbarin in einem weißen Kleide mit fliegenden Haaren, Ordensband und Stern – und einer großen Serviette, die vorgesteckt war wie eine Schürze, mit der Frage herein: Wer ist da? – Ich, erwiederte der Held zu seinem Unglück. – In diesem vorschnellen Ich, versetzte die weiße Dame, liegt mehr, als Sie denken: Ihre Unwürde zum Orden liegt darin. Wer rückt mit seinem Ich so zeitig heraus? Wer macht sich eher bekannt, als er die kennen gelernt hat, die ihn umgeben? ich will nicht sagen: fahen wollen; und doch ist dieß der Welt Lauf. – Wer seinem Ich ausweicht, ohne es höher anzuschlagen, als im Marktpreise, befleißigt sich der Weisheit, und verdient den Namen eines Weisen, ist es in der That, wenn andere bloß so heißen. Entging Sokrates dem Giftbecher? und hat der Neid nicht Giftbecher verschiedener Art, womit er die Weisen, ach! und auch ihre Plane, hinrichtet, wenn sie mit ihrem Zweck und den Mitteln, diesen zu erreichen, undehutsam umgehen? – Die Schüler unseres Schutzheiligen mußten drei Jahre schweigen lernen, ehe sie sprachen. Wohlan! nehmen Sie sich diese Zeit und diesen Raum zur Buße, um Ihr Ich zu kreuzigen sammt den Lüsten und Begierden!

Unser Held war von dieser Rede äußerst durchdrungen. Es schien ihm ein Extemporalstück zu seyn, indem er sehr leicht dem Ich hätte ausweichen können; – und eben weil es ein Extemporalstück war, rührte es ihn desto mehr. Da er indeß nicht Lust hatte, noch drei Jahre zu warten, so bat er die abgeordnete Pythagoräerin, ihm sein Ich, das selbst vermessener schiene, als es[293] wäre, zu verzeihen. – Sie versprach, ihm Aussöhnung bei ihrem Schutzheiligen auszuwirken – wenn er ihr gelobte – (hier glaubt man wohl, es werde ihre Tochter gelten; vielleicht glaubte es unser Held selbst. – Mit nichten; so eigennützig ist der Orden der Verschwiegenheit nicht) – wenn er ihr gelobte, seinem Ich zu widerstehen bis in den Tod. – Wenn's nicht mehr ist! dachte der Candidat, und versprach es von Herzen. – Jetzt sollte ihr Gemahl sich zum Recipiendus verfügen, ihm wegen seines unzeitigen Ichs die Absolution überbringen, und über die Verschwiegenheit eine stattliche Rede halten. Er fing pathetisch an: »Die Verschwiegenheit« – Allein die Helle des Zimmers, die Feierlichkeit des Candidaten, ein paar Gläser über Gebühr, und vielleicht auch die Ungewohnheit, Reden zu halten, benahmen ihm jedes Wort; und nachdem er dreimal die Worte: die Verschwiegenheit, stotternd wiederholt hatte, ging er so verschwiegen davon, daß der Candidat sich überredete, ein dergleichen Verstummen gehöre zur Ceremonie der Handlung. – Der stecken oder kurz gebliebene Redner hätte seine Rolle nicht besser machen können, wenn er Pythagoras oder Roscius – find die Herren weit auseinander? – in hoher Person gewesen wäre! – Der Nachbar ward von den Ordensschwestern wohlverdient ausgelacht, erhielt indeß, da man keinen bessern Acteur hatte, den Auftrag, dem Candidaten die Augen zu verbinden – und ihn in ein finsteres Zimmer zu führen, wo die Nachbarin seiner wartete. Als nach einer kleinen Weile der Candidat in die Frage ausbrechen wollte: bin ich hier allein? zog ihn sein Genius von dem Rande des Verderbens, und er verbesserte seine Ich-Frage. Ist jemand hier? fing er, und zwar in eben der Minute an, da die Nachbarin mit ihrer Wiederholung: wer ist da? zum Vorschein kam, und ihm ins Wort fiel. – Wer fragt mich? war seine Antwort. – Eine Abgeordnete, erwiederte sie, die es lieber gesehen hätte, wenn Sie ihre Frage[294] abgewartet hätten. Neugierde und Schwatzhaftigkeit sind, wo nicht wirklich verwandt, so doch verschwägert oder in nachbarlicher Verbindung. – Sie hieß ihm die Augen aufbinden, und es war ihm nicht anders, als sey er zu den Fingerlein unter die Erde gerathen; so gut er auch jedes Zimmer im Rosenthalschen Schlosse kannte, wo er geboren, nothgetauft und erzogen worden war. Er hielt sich still, um sich nicht neuen Weisungen auszusetzen, worauf es die schlaue Nachbarin anlegen mochte. Da er schwieg, so mußte sie anfangen. – Was denken Sie? – da, von seinem Ich zu sprechen, oft verzeihlicher seyn kann, als an dieses allerliebste Ich unablässig zu denken. Was denken Sie? – An den Vorzug der Sprache und an die Schande der Menschheit, auf Mittel denken zu müssen, sich Zaum und Gebiß anzulegen. – Dieser Seitensprung brachte die Nachbarin aus ihrer Rolle; ihre Gemeinsprüche paßten nicht, und sie fand sich, trotz dem Herrn Gemahl, in Verlegenheit. – Da Sie so schön denken, so verbinden Sie sich wieder die Augen. – Der Stock steht im Winkel, also wird es regnen. – Unser Held fand in dieser inconsequenten Rede doch einen Sinn, und übersetzte sich die letzten Worte: so stören Sie sich durch kein Sinnenspiel auf der olympischen Gedankenbahn, die zum Kleinod führt. – Wie Feierlichkeit ansteckt! Alles deutet sie feierlich. – Mit verbundenen Augen ward der Candidat in das Heiligthum, und zwar rücklings, eingeführt. – Nun mußte er dreimal einen Cirkel machen. Dieß brachte ihn aus aller Connexion mit dem Zimmer, in welchem er war, und er mußte glauben, in einem bezauberten Schlosse zu seyn.

Nach dieser Kopfverdrehung blieb er ganz allein stehen; und nach einer Viertelstunde fing sich folgende Unterredung an.

Verschwiegene Großmeisterin, wir sind nicht allein! (Die Großmeisterin machte die Ritterin.)[295]

»Wer ist, antwortete sie, der Ungeweihete, der es wagt, in unserem Areopag zu erscheinen?«

Ein Jüngling, der sich der Verschwiegenheit heiligen will.

»Ein Jüngling, sagt Ihr? – Wohlan! Laßt ihn Mann werden, und dann führt ihn wieder zu uns! – Laßt ihn die Welt kennen lernen, aus Erfahrung klug werden, und dann erst melde er sich zu seiner Aufnahme!«

Wohlgesprochen, verschwiegene Großmeisterin! Wohlgesprochen in der Regel; allein war je eine ohne Ausnahme? Wird je eine ohne Ausnahme seyn?

»Hat die Tugend Ausnahmen? liebt sie Begünstigungen?«

Die Tugend nicht. Wo ist aber eine diesseits des Grabes, die rein wäre, die nicht hätte einen Flecken oder Runzel oder deß etwas? – Unsere Sache ist, unsere Tugenden zu waschen, zu heiligen und zu reinigen – damit sie nicht unter dem Scheine der Tugend gar Untugend, und schöne wohlgebildete Sünde werden.

»Glaubt Ihr, durch diese Klagen Eurem Antrage näher zu kommen?«

Ich glaub' es, verschwiegene Großmeisterin; denn, obgleich die Tugend eine Regel ohne Ausnahme ist, so gibt es doch Gemüther, welche der schlüpfrigen Bahnen der Selbsterfahrung nicht bedürfen, um zur Weltkenntniß zu gelangen; Licht- und Lebensköpfe, die zu Heerführern, zu Meistern berufen sind, welche die Natur berechtigte, der Landstraße auszuweichen; – Menschen, die sich Richtsteige brechen und Wege erfinden; – Seelen, die, indem sie lernen, schon lehren, wenn andere, welche durch Wege und Umwege eines lange genossenen Unterrichts zum Lehrstuhle gekommen, andern doch wenig oder nichts beizubringen im Stande sind.

»Ihr haltet eine Lobrede, und ich verlange ungekünstelte Wahrheit.«[296]

Gibt es nicht Lob, das auch vor dem strengsten Richterstuhle des Gewissens, selbst im Sterben, das Siegel der Wahrheit trägt und verdient?

»Was will Euer Lehrling bei uns, wo er lernen muß, wenn er schon jene so seltene Lehrgabe besitzt, die nur wenigen gegeben wird?«

Nicht kaufen will er, sondern tauschen. Sein Plan ist, uns zu benutzen, indem er uns nützlich wird. Er will mit der Linken geben, ohne daß die Rechte es weiß, und mit der Rechten nehmen, ohne daß die Linke es als Bezahlung ansieht; – er will rescontriren.

»Wird er halten, was Ihr versprecht?«

Ich stehe für ihn.

»Wir ehren Eure Bürgschaft. Was habt Ihr aber für Gegensicherheit genommen?«

Seinen guten Ruf, sein edles Herz, seine Geburt, seine Eltern, sein ganzes Aeußere. Haben Menschen andere Bürgschaften? Steht nicht oft der auswendige Mensch für den innern, der sinnliche für den intellectuellen? Wahrlich! der Geist hält seltener Wort, als der Leib, wenn von wechselseitiger Bürgschaft die Rede ist. Zwar trügt die Physiognomie zuweilen; hält sie aber nicht noch öfter Wort? Seht! er hat eine der glücklichsten, die man sehen kann.

»Hat er Zutrauen zu uns, und wird er mit uns sympathisiren? Werden wir auf einander wirken und gegenwirken können?«

Sicher! sonst litt' er die Decke nicht, die ihn verhüllet.

»Und was glaubt er zu finden?«

Nicht Menschen, die es ergriffen hätten, doch die ihm nachjagen, ob sie es auch ergreifen würden.

»Was hat ihm diese gute Meinung beigebracht? – Menschen sind wie Bäume; aus ihren Früchten muß man sie erkennen.[297] Kann man auch Feigen lesen von den Dornen, und Trauben von den Disteln?«

Sollt' er seinen Eltern und denen nicht trauen, deren Herzen sich noch näher sind als ihre Besitzungen? – Nur die Zeit bringt Rosen. – Zwar ist das Leben kurz; doch langsam reifen die Früchte des Guten. Unreife, zu frühzeitige Früchte brachten in der moralischen Welt von jeher den unwiederbringlichsten Schaden. Eva wollte Erkenntniß des Guten und Bösen so leicht erlangen, als einen Apfel essen, und verlor das Paradies, das wegen dieser Vorschnelligkeit nicht anders als durch den langsamen Weg der Tugend zurück zu bringen ist.

»Ist dem also, was verlohnt es, daß der Mensch den rauhen Weg zum Guten antritt?«

Ist es nicht besser, den Garten anzulegen, den Baum zu pflanzen, als unter dem Schatten eines wohlthätigen Baumes sich hinzustrecken und geradezu in Eden eingeführt zu werden? Hätten Adam und Eva das Paradies allmählig gepflanzt, sie wären nicht gefallen. – Damit die Menschen die Erde zum Paradiese machen möchten, wurden Adam und Eva nackt, bloß und arm in sie hineingestoßen. – In eben den Zustand, in welchem wir auf die Welt kommen, sahen Adam und Eva sich versetzt und zu diesem Kinderspiele verurtheilt! – Thiere arbeiten ohne Rücksicht auf ihre Gattung; wir für das Menschenall. – So wie jene mit Adam und Eva aus dem Paradiese, oder mit der Familie Noahs aus dem Kasten gingen, so sind sie auch noch leib- und seelhaftig; allein der Mensch – was ist aus ihm nicht geworden! – was wird aus ihm nicht noch werden! – Der Mensch wirkt auf die Menschheit, und die Menschheit wirkt zurück auf den einzelnen Menschen. Von sich selbst denke der Mensch so klein, von der menschlichen Natur so groß als möglich! – Das Gute, das wir thun, lebt von nun an bis in Ewigkeit. – Halleluja![298]

»Der Tod soll hinfort darüber nicht herrschen, Halleluja.«

Halleluja.

»Was der Mensch vermag, kann er nur durch die Anstrengung seiner Kräfte erfahren; was die Menschheit vermag, wer hat dieß Ziel gemessen? Arcane und heimliche Mittel sind verdächtig; Verschwiegenheit ist für jeden Mann, für jedes Weib nöthig, welche die Ehre haben wollen, Mann und Weib zu seyn.«

Wahrlich, eine große Ehre!

»Viele Menschen sind durch Reden unglücklich geworden; durch Schweigen wird es niemand. – Will man jemand um Verzeihung bitten, ihn bewundern – ehren, lieben, verachten, ihm vergeben, – wie weit stehen Worte dem Schweigen nach! – Die größte Beredsamkeit besteht in der Kunst, zu schweigen. Schweigen ist ein moralisches Universale, alles zu erlangen, was man sich vorsetzt. – Ich will schweigen, um alles zu sagen.« – – – Eine Stille.

Verschwiegene Großmeisterin, dieser Jüngling fühlt die Erhabenheit unseres Ordens in Eurer Rede und in Eurem Schweigen; er will Würdigung der menschlichen Natur und Würdigung seiner selbst lernen; er will durch Schweigen an sich selbst arbeiten, seine Anlagen verstärken und befestigen und seine Fehler mindestens nicht durch Reden vervielfältigen. Sagt Ja zu seiner Aufnahme.

»Brüder und Schwestern, Schwestern und Brüder! gebt mir den ersten Buchstaben.«

Sie sagen I, und sie A. Jetzt eine Stille.

Hierauf fragt die Großmeisterin: Brüder und Schwestern, Schwestern und Brüder! Ist es euer Wille?

Alle sagen ein volles Ja.

Sie schließt mit Amen, und der Candidat wird ihr drei Schritte näher geführt. Sie redet ihn an:[299]

»Der Areopagus, in welchem die wichtigsten Sachen gerichtlich entschieden wurden, war kein pompreicher Tempel, sondern eine Strohhütte; – Weisheit und Verschwiegenheit zeichnen ihn aus. Bei Nacht hielt man Gericht, und keiner Partei, keinem Anwalt war es erlaubt, durch Eingänge und Blendwerk, durch Tropen und Figuren, durch Licht und Schatten seinen Vortrag zu verschönern, und durch Wendung und Witz den Richter zu bestechen. – Durch Worte gibt man sich oft so aus, daß man bettelarm ist; durch Schweigen verfährt man so ökonomisch, daß man nicht nur für sich selbst spart, sondern auch noch einen Ehren- und einen Armenpfennig behält; diesen, zu geben dem Dürftigen, jenen, um mit Anstand Feste zu feiern, wenn es Festumstände verlangen. Wer viel spricht, kann nicht allein nicht immer gut sprechen: nein! Unwahrheiten und Dichterlicenzen haben eine solche Gemeinschaft mit den Worten, daß sie nicht von einander lassen. Wollt Ihr behutsam und bedächtig in Euren Reden seyn?«

Der Candidat antwortet: Ich will es.

»Kaiser Augustus hatte einen Freund, Fulvius, dem er sein Leid klagte. Ich armer, verlassener Vater! fing er an; mein Posthumus ist verwiesen; ohne Stütze, ohne Erben jammere ich; und weißt du, was ich zu meinem Troste thun will? (Worte sind leidige Tröster; Handlungen nur können trösten und aufrichten.) Den Posthumus nach Rom berufen und ihm die Regierung anvertrauen. – Fulvius entdeckte den Entschluß des Kaisers seiner Gattin; diese offenbarte ihn der Kaiserin Livia, ihr, die dem Stiefsohn Augusts das Regiment abwenden wollte! – Armer Kaiser! und noch ärmerer Fulvius, dem August seine Freundschaft aufkündigte, und dem nichts weiter übrig blieb, als sich verzweiflungsvoll das Leben zu nehmen! Seine Gattin kam ihm zuvor, und beide starben an diesem verrathenen Geheimniß den wohlverdienten Tod wegen beleidigter Freundschaft. – Mein Sohn, wollt[300] Ihr jedes anvertraute Geheimniß heilig bewahren, und es nie verrathen noch verkaufen, weder durch Worte noch durch Zeichen?«

Ich versprech' es.

»Werdet Ihr Euch aber auch durch nichts, weder durch Verheißung noch Drohung, durch Liebe oder Leib, durch Freundschaft oder Feindschaft in Euren Entschlüssen wankend machen lassen?«

Durch nichts.

»Zu gewisser Zeit versammelte sich der Rath in Rom einige Tage nach einander auf eine ungewöhnliche Art. Die Gattin eines Senators beschwor ihren Gemahl, ihr den Schlüssel zu diesen Berathschlagungen zu behändigen, den sie heilig zu bewahren gelobte. Um sie zu befriedigen, gab der Senator vor: eine übernatürliche Lerche sey nach der Anzeige des hochehrwürdigen Consistoriums über die Stadt geflogen, und nun stehe man in Sorgen, ob dieser Flug Segen oder Fluch bedeute. So schnell konnte die Lerche nicht fliegen als diese Nachricht. Sie kam zeitiger zu Rathhause, als ihr Erfinder; und wie wohl war ihm, seiner Gattin nichts von den rathhäuslichen Deliberationen entdeckt zu haben! – Werdet Ihr den Durst Eurer Geliebten nach Eurem Geheimnisse – nicht durch eine Unwahrheit löschen, keine Lerche über die Stadt fliegen lassen, sondern Muth genug haben, Nein zu sagen, wo Ihr Gewissens halber nicht Ja sagen könnt?«

Ich werde.

»Wohlan es sey! Leeret diesen Becher mit Wein gefüllt und erinnert Euch, daß Wein und Weiber oft den Weisen verleiteten!«


(Er trinkt den Becher aus.)


»Jetzt leeret den Becher mit Wasser, der Euch an den Fluß Lethe erinnere! Ein guter Egel schlage Euch mit Vergessenheit, wenn Ihr an den Rand der Verrätherei kommen solltet, wovor Euch Pflicht und Neigung, Kopf und Herz bewahren wollen!«

»Jetzt öffne man ihm die Augen!«[301]

Der Candidat sieht Brüder und Schwestern, Schwestern und Brüder (damit kein Geschlecht dem andern vorgreife, wurden Brüder und Schwestern nie anders ausgesprochen) gekleidet wie die vorbereitende Schwester und seine Mutter als Großmeisterin. – Jetzt ward er in das Lichtzimmer gebracht und ihm das Ordenskleid angelegt. Bei seiner Zurückführung in den Areopag sagt ihm die Großmeisterin: »Ihr seyd nun wie unser Einer. Wir fordern keinen Eid, keinen Handschlag. Warum? Diese Vermuthung, daß Ihr Euer Wort minder halten werdet, als Schwur und Handschlag – hätten wir die, wahrlich Ihr wäret so weit nicht gekommen!« – Die Großmeisterin nimmt ihn bei der Hand und führt ihn auf ein anscheinendes Kanapee, weiß beschlagen, wo indeß nur von beiden Seiten Sessel sind. – Die Mitte ist leer. »Setzt Euch!« sagt sie; und indem er sich setzen will, fällt er auf die Erde –! –

Unser Held war, als er fiel, in eben dem Grade verlegen, wie es Schwestern und Brüder und Brüder und Schwestern waren, mit dem Unterschiede, der Neuaufgenommene aus Aerger, die Aufnehmer und Aufnehmerinnen, die Aufnehmerinnen und Aufnehmer – um nicht laut zu lachen. – Der Ritter allein blieb ernsthaft. »Hab' ich es dir nicht oft gesagt, Eldorado sey unter der Erde? – Nur unter der Erde ist Eldorado!« sagte er seinem zur Erde gesunkenen Sohne.

Nachdem sich die Großmeisterin gesammelt hatte, redete sie ihn an:

»Stehet auf! Diese Ceremonie ist ehrwürdig, so kleinlich sie auch aussieht. Sind die Ceremonien überhaupt anders? Selten sind sie der Sache auf den Leib gemacht, – und man muß ihnen nachhelfen, wenn sie ehrwürdig seyn sollen. Die gegenwärtige deutet an, daß die meisten Geheimnisse nichts weiter als ein verdeckter leerer Raum sind: – Vorhänge, hinter denen nichts ist.[302] Leider! der Vorhang ist alles. Wer sie recht zu fassen gedenkt, fällt, sowie Leute, die nach den Sternen sehen und den Boden vernachlässigen, auf dem sie wandeln.«

Sie enthält die Warnung, sich nicht den Geheimnissen anzuvertrauen, wenn gleich andere sich beredet haben, Euch hoch und theuer, ja theuer zu versichern: man werde hier Schlüssel zu Himmel und Erde und dem gehofften Kanaan der Natur finden. – Wir beide hatten Stühle und Ihr fielt zu Boden. Die meisten Menschen glauben, daß das, was sie für ihr größtes Glück hatten, nicht von ihnen, sondern von andern herkomme. Nicht also! von andern kommt nicht nur unser größtes, sondern all unser Unglück

Sie lehrt, daß man auch ohne blankes Eis fallen kann. Viele brachen in ihrem Zimmer physisch und moralisch Arm und Bein.

Sie lehrt, daß man so leicht fallen als aufstehen kann, und daß, wer da steht, wohl zusehe, daß er nicht falle. – Alles ist ein Grab, sagt ein geistreicher Dichter, und die Brautkammer ist nur ein höheres Stockwerk über dem Grabe; der prächtigste Speisesaal ist seine Vorkammer. – Unsere gestrengen Gesetze machen den Menschen oft schlecht, um ihn strafen zu können, und befinden sich im geheimen Dienste des Despotismus, obgleich die Gesetzhanbhaber behaupten, sie wären die trostreichen Mittler zwischen Volk und Oberhaupt. – Sie befehlen, was sich von selbst versteht, wollen Naturgesetze durch Strafen verstärken, positive Gesetze der Natur unterschieben; sie befehlen – was Putzmacherinnen und Modehändler weit besser bewirken könnten, wenn man sich die Mühe nähme, diese Menschen unvermerkt in Staatsdienst zu nehmen. – »Die Generalpächter halten den Staat,« sagte Fleury. »Freilich,« erwiderte jemand; »aber gerade so, wie der Strick den Gehängten.« – Seht! wer bloß ein gesetzlicher Mensch ist, kann wahrlich nicht[303] weniger seyn. – Nicht nach den Gesetzen des Staates, sondern nach Euren Grundsätzen müßt Ihr leben, wenn Ihr den Namen Mensch verdienen wollt. – Wahrlich! man kann nur die Tugenden seiner Ueberzeugung besitzen. Die äußerste Grenze von den Eigenschaften der Seele ist die Vernunft, – und die Hauptsumma aller Lehren: seyd vernünftig! – Hütet Euch zu fallen, und wenn Ihr fallt, stehet schnell auf! Durch eine Constantinstaufe sollten alle Verbrechen, Mord und Blut abgewischt seyn? Daß sich Gott erbarme! Von unserm ganzen Leben, nicht von dem letzten Augenblicke desselben sind wir verhaftet. – Er aber, der in Euch angefangen hat das gute Werk, wolle es durch seinen heiligen Geist in Euch bestätigen und vollführen! Amen.

Endlich soll Euch diese Ceremonie lehren, daß der Mensch nicht zur Ruhe berufen ist – und daß bei weitem nicht jede Ruhebank, wenn sie gleich köstlich und fein einladet – Ruhe gewährt.

Das Zeichen, wodurch wir uns von andern unterscheiden, ist, den Zeigefinger auf den Mund legen. Zeichen und Bedeutung bedürfen keiner Erklärung.

Außer diesem Grade gibt es im Orden noch zwei, von denen die Erschienene uns nichts als das leere Nachsehen zurückgelassen hat. Sie versichert dieser beiden Grade selbst noch nicht gewürdigt zu seyn. Der Himmel bringe sie zu diesem Ziele, wenn es ihr nützlich und selig ist!

Der nächstfolgende ist der Grad der gelösten Zunge, und der dritte der Grad der Handlung.

Die Freimaurer-Adoptionsloge ist übrigens von dem gegenwärtigen Orden völlig unterschieden.

Auch wird Tafelareopag gehalten, bei dem nichts Denkwürdiges vorkommt, als daß man bei der ersten und letzten Schüssel[304] kein Wort spricht. Dieß Symbol bedeutet den Anfang und den Schluß des menschlichen Lebens.

Daß diese Aufnahme viele Fragen über die


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 1, Leipzig 1860, S. 292-305.
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