§. 69.


Berechnung

[314] konnte Novicius auf ein Haar wissen, wer von beiden, ob Mann oder Weib, Braut oder Bräutigam, eher sterben würde. Freilich war dieß mehr, als auf ein Scheinkanapee genöthigt, zum Fallen gebracht und mit dem Troste versehen werden, daß Eldorado unter der Erde sey; denn wenn man Eldorado in der Loge findet, hat man es nicht bequemer und näher? Der Werbehauptmann ließ[314] es unserm Helden im Hintergrunde und in tiefer Ferne sehen. Er zeigte ihm eine Diple über die andere, womit die Grammatiker vorzüglich die schönen Stellen im Homer bezeichneten; allein er ließ ihn keine dieser bezeichneten Stellen lesen, nur die Zeichen erlaubte er ihm zu sehen. Die Hand von der Tafel! Der Orden, fing er an, deß ich lebe, deß ich sterbe, und deß ich mit Leib und Seele bin, öffnet seinen Angehörigen Schatzkammern von Geheimnissen; doch müssen sie deren empfänglich seyn, und nicht um acht sich einfinden, wenn man um sieben ihrer wartet. Den Hauptumstand bei einer verwickelten Sache treffen und den wahren Zeitpunkt ergreifen, ist ein Eigenthum besserer Köpfe, das sie durch keinen Unterricht veräußern können. Es ist ein Radikalvorzug, eine Realwürde; indeß fallen Späne, wo Holz gehauen wird, und besonders scheint unser hoher Orden sehr spänreich zu seyn. Desto besser. Auch das heiligste Feuer wirft Funken aus. Alles, mein Freund, was den denkenden Menschen am meisten interessirt, ist ihm verschleiert. Diesen Schleier kann er nicht ziehen; vielleicht aber gibt es Mittel, dem Allerheiligsten sich ohne eine dreiste Hand zu nähern. Das aut, aut, das Entweder Oder; wenn nicht ein Bund mit dem Obersten der Seraphe, so mit dem Beelzebub; wenn nicht Cäsar, so Nichts, mag sein Fürhaben – meine Losung ist: Alle gute Geister loben Gott den Herrn. Wir wissen nicht, was Gott ist, wir können ihn nicht mathematisch beweisen; allein wir glauben ihn und an ihn, und müssen es, wenn anders dieß Leben uns in den Hauptstellen verständlich seyn soll. Wir werden nicht aufhören; wir werden nicht sterben, sondern leben. Ist es nicht eine Erfindung der Furcht, das Ende des diesseitigen Lebens Tod zu nennen? Dieß Leben mit seinen Drangsalen, wo der Fels des Sisyphus uns zu erschlagen drohet, wo immer ein Gewitter über unserm Haupte steht und Blitze in Kreuz und Quer uns ängstigen; das ist Tod; – der sogenannte Tod ist Leben. –[315] Wir sollten zum Sterbenden nicht: Gute Nacht, sondern: Guten Morgen, sprechen. Die Herrlichkeit indeß, die nach dieser Zeit Leiden unser wartet, ist uns verborgen. Wir müssen alle aufhören – Menschen zu seyn; wenn aber dieß Stündlein schlägt, wer weiß es? Die Aerzte? Behüte! Wie oft überlebte der, dem sie das Leben absprachen, seinen Scharfrichter von Leibarzt; und wie oft stirbt, ehe wir es uns versehen, der, dem die Facultät Brief und Siegel zu Methusalems Alter behändigte! – Der stirbt, weil er aß; der, weil er trank; der, weil er sich an den Fuß stieß; der, weil er seinem Freunde die Hand gab; der, weil er am Kaminfeuer stand; der, weil er zu viel, der, weil er zu wenig genoß; der, weil er den Tod verachtete; der, weil er sich Mühe gab, ihm auszuweichen; der am Examen; der am zu viel, der am zu wenig wissen; der an Fischen, der an Fleisch; der an einem Kern von einer Weinbeere, der am Pfirsichstein; der in der Kirche, der auf dem Ball; der am Schlagfluß, der an Hektik; der, weil er ein Hagestolz war; der, weil er in der Ehe lebte; der am Muth, der an der Furcht, der auf dem Bette der Ehren, der auf der Ottomane der Schande; der an Alexander dem Großen, der an Alexander dem Kleinen. Nur dann genießen wir die folgende Stunde, wenn wir ihre Vorgängerin als die letzte ansahen; nur alsdann ist sie uns ein Geschenk, wenn wie keine Rechnung darauf machten. Warum auch ein weites Ziel, da Blüthen abfallen und kleine und große Früchte, weit eher als der Baum geschüttelt wird! Maurer lieben nicht Diastematiker, Wortzieher und Dehner, Trillerschläger und Coloraturenmacher, wohl aber Männer, die mit Sachen ökonomisiren. – Jedes Ding hat seine Jahrszeit! Schnell will ich dir einen Vorhang ziehen. Es gibt Umstände, wo man durchaus wissen muß, wer in der Ehe der zurückbleibende Theil seyn wird. – Hier ist der Schlüssel. Zähle, mein Freund, die Vokale in den Vornamen, so ist das Räthsel gelöset. Wie heißt dein Vater? –[316] Fabian Sebastian. – Die Mutter? – Sophie. – Dein Vater stirbt vor deiner Mutter. – Man nahm Namen von längst verstorbenen Personen, und die Probe war richtig. So entzückt war kein Schüler des St. Germain und des Cagliostro, wie unser Held. Schnell wollte er seinen Vornamen mit dem der Erschienenen zusammenstellen, und die Vokale, wie die Offiziere, den Buchstaben vortreten lassen; indeß vertraten ihm zwei kleine Umstände den Weg. Der erste: seine Vornamen waren eine förmliche Sammlung, und ohne die Beihülfe des Kirchenbuches würde er nicht bestanden seyn in der Wahrheit. Der zweite Umstand machte auf gleiche Erheblichkeit Anspruch. Er wußte nicht, ob die Undekannte einen Geschlechts-, vielweniger einen Vornamen hätte. Wenn es meine Leser und Leserinnen interessirt – die Enkelin des Fräuleins Cousine überlebt den Werbehauptmann. Der


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 1, Leipzig 1860, S. 314-317.
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