§. 116.


der Seelenhirte

[96] in weltlicher Kleidung. Da Michael weder in Familienangelegenheiten noch sonst Unwahrheiten weder litt noch beging, so war alles Schlag auf Schlag.

Ist mein Brief gefunden?

Ja!

Wo ist er?

In den Händen meines Herrn.

Michael erzählte den ganzen Hergang der Sache so genau, daß er natürlich erschrecken mußte, als der Geist- und Weltliche gebieterisch verlangte, daß Kisten und Kasten seines Herrn ausgerissen und die Michaeln behändigte Instruktion, welche erhalten zu haben der Knappe ebenso wenig Hehl hatte, dargelegt werden follte, und weßhalb? Um den Aeioubrief zu suchen, an dem, wie der Seelenhirte betheuerte, sein Glück, seine Ruhe und sein Leben hing. – Der Treiber verstellte seine Geberden und tobte einem Eifersüchtigen gleich, dem man sein Weib entführt hat. – Warum martern Sie mich? redete ihn Michael mit einer Entschlossenheit an, die nur Unschuld und gutes Gewissen zu geben vermag, und die sich von dem halben Dutzend anderer Arten von Entschlossenheit so edel unterscheidet. Warum martern Sie mich? Lieben Sie die Wahrheit, wie ich wünsche und hoffe, so werden Sie auch denen nicht unhold seyn, die Ränke hassen. Ohne Zweifel wissen Sie, wo mein Herr ist, dem mein Herz zugehört und dessen letzte Unterredung mir so heilig bleibt, daß ich weit lieber alle Qualen des strengsten Todes überstehen, als eins dieser mir ewig theuern Worte aufgeben[96] wollte. Sie waren der letzte, den er von Fremden sah und sprach; – Sie waren mit ihm eingeschlossen und nahmen ihm ohne Zweifel den Eid ab, dessen Heiligkeit ihn zu dem Schritte verband, den er that, – Gott weiß wohin. Sie waren es, der mir durch ihn die Verheißung ertheilen ließ, daß auch ich gewürdigt werden sollte, einen Schritt zu thun, Gott weiß wohin. – Ist es zum Tode? Ich bin bereit im Leben und im Sterben meinen Herrn zu geleiten. Um Ihrer Weltlichkeit, um Ihrer Geistlichkeit, um Ihrer Seelen Seligkeit, um alles, was Ihnen heilig ist, um des mir durch meinen Herrn gegebenen Worts, um alles willen, was Sie lieben und ehren, verschonen Sie mich!

Der Geist- und Weltliche antwortete auf diese Jeremiade kein Wort, ging hin und forderte Michaeln vor den Richterstuhl des Orts, bei dem er eine schreckliche Klage anbrachte; Michael hat zugeständlich einen Brief, an dem mir mehr liegt als am Leben, gefunden, ihn angeblich seinem Herrn behändigt – bekennt selbst nicht zu wissen, wohin sein Herr gegangen, ob und wann er zurückkommen werde; bedient sich der bedenklichen Worte: sein Herr habe ihm seinen letzten Willen zurückgelassen. Ist die Folge ungründlich: sein Herr hat sich selbst das Leben zu nehmen Ursache gefunden, welches in diesen Gegenden seit einiger Zeit sich mehr als je zuträgt? Vielleicht vorempfand er eine geheime Krankheit, deren er sich zu schämen Ursache hatte, und die vielleicht aus Erkenntlichkeit in kurzem seinen Lebensfaden abreißt. Aus diesen Prämissen kann ich, fuhr der Kläger fort, rechtlich verlangen:

Daß Michael die ihm von seinem Herrn behändigte geheime Instruktion ohne Anstand zur Entsiegelung einreiche. Findet sich in dieser verschlossenen Schrift der verlorne Brief nicht, so müssen die gesammten zurückgelassenen Sachen seines Herrn gerichtlich geöffnet werden. Ist auch hier der Brief nicht, was natürlicher, als daß man Michaeln eidlich verpflichte, den ganzen Lebenslauf seines[97] Herrn und besonders, was er von seiner jetzigen Entfernung weiß, haarklein gerichtlich anzuzeigen, um auf Spuren seines gegenwärtigen Aufenthalts zu kommen. Auf diese letzte Klagebitte glaub' ich, sagte der Welt- und Geistliche, auf jeden Fall bestehen zu können, weil Michael an den Geheimnissen seines Herrn theilgenommen zu haben eingesteht, weil beide jahrelang Geheimnißjäger sind und ein paar Frauenzimmer entweder aufsuchen oder von ihnen aufgesucht werden. – Sein Herr, der einen bedenklichen Auftritt im Löwen gehabt, worüber ich den Wirth zu vernehmen bitte, hielt sich im Sperber auf, als ich ihn kennen lernte. Doch mocht' und wollt' ich so wenig an seinen Gedanken und Ungedanken theilnehmen, daß ich ihn ernstlich ermahnte, Gräber zu verabscheuen, welche Bösewichter so zu übertünchen verständen, als wären es Nasenhügel. Es kann seyn, beschloß der Welt- und Geistliche, daß Herr und Diener die Verführten sind, waren indeß die Verführer nicht in der Regel alle – Verführte? Der Schluß: ich verbitte alle Kosten.

Michael, der dem Scheine der Klage nichts entge gen setzen konnte, ob er gleich den Bösewicht vor Augen zu sehen sich überzeugte, der in derselben ein Grab des Verderbens mit Rasen zu übertünchen verstände, war so tief gebeugt, daß er nichts weiter erwiedern konnte, als: Ach, mein armer Herr! Kläger bat, da Michael einigemal diese Worte mit Händeringen wiederholte, diesen Umstand besonders zu verzeichnen, indem er staatsgefährliche Geheimnisse zwischen Herrn und Diener nach der höchsten Wahrscheinlichkeit vermuthen ließe, denen er nachzuspüren von Amtswegen verpflichtet sey. Und dieß, setzte er wohlbedächtig hinzu, ist der Hauptschlüssel zu meiner veränderten Kleidung, – zum verlornen Briefe, und zu vielem, was meine eigene Person betrifft, – die keinen etwas angeht; – Gründe genug zu meiner Bitte, den Beklagten sogleich in Arrestationsstand zu setzen. Da Michael[98] sich selbst so tief vergessen hatte, daß er von den Worten: Ach mein armer Herr! so wenig als Jesus vor Jerusalems Mauern vom Wehe ablassen konnte; so sprang Kläger ab, und behauptete: Michael habe entweder seinen Verstand wirklich verloren, ober er schlage das Bubenstück ein, diese Rolle zu spielen. In beiden Fällen trug er auf Untersuchung und persönliche Haft an. Was zu thun? dachte Michael, und machte sich wegen seiner Schwatzhaftigkeit, dieser niedrigsten aller Leidenschaften, mittelst deren mal ohne Gewinnst von dreißig Silberlingen verräth, die bittersten Vorwürfe. – Freilich, Michael! hättest du an die letzten Reden deines Herrn und an den Vogel Gamaliels gedacht, die Grube wäre bei weitem so tief nicht geworden, als du sie dir selbst gegraben hast. So wie wir oft denen begegnen, an die wir unwillkürlich dachten: so wie zufällig Gedanken in uns entstehen, ehe wir absichtlich über eine Sache meditiren; so bereitet der Mensch sich Leiden vor, – um dabei weise zu werben. Ueberzeugt, es könne nur die Unschuld in Lagen von einer solchen schrecklichen Art fallen, glaubte Michael zu seiner Ehre, auch die allerschrecklichste sey nicht schrecklich genug, den Menschen seiner Bestimmung unwerth zu machen und ihn zu entwürdigen. – Ich bin, so war ungefähr seine Exception, weder unsinnig, noch ist mir das Schelmstück eingefallen, mich so zu stellen; doch gibt es Fälle, in denen der Verstand sich auf eine Art zeigt, daß man in die Versuchung gerathen könnte zu wünschen, man hätte keinen; oder Fälle, wo jemand, der den Verstand nicht verliert, keinen zu verlieren hat. Die leichte natürliche Art, womit der Kläger die unzubescheltendsten Umstände eines Vorgangs benutzt, zeigt seine Anlage, Interesse in die gemeinste Sache zu bringen und durch Feinheit und anschauliche Harmonie den gewöhnlichsten Dingen zu einer Wirkung zu verhelfen, welche Theilnahme, ohne ihrer werth zu seyn, nicht erbittet, sondern fordert – nicht erfleht, sondern erzwingt. Entkünstelt[99] und entkleidet man die Klage; ist wohl das, was der Kläger will, dem, warum er es will, angemessen? Er verliert einen Brief von ungefähr, oder mit Fleiß. – Wenn ich den Ort, wo ich ihn fand, in Erwägung ziehe, ist es fast zweifellos, er wollte ihn verlieren. Frei bekenn' ich, den Inhalt des Briefes nicht verstanden zu haben. Auch habe ich Ursache zu befürchten, mein Herr sey nicht glücklicher gewesen als ich. Stand der Name des Klägers auf diesem Briefe? War ich gebunden, unter Aeiou den Geist- und Weltlichen zu suchen und zu finden, Hieroglyphen zu enträthseln? Wunderdinge zu entwundern? Gab mir nicht diese auf List und Trug auslaufende Manier vielmehr das Recht, mit diesem Zettel zu machen, was ich wollte? Aus den fünf Vokalen läßt sich auf einen geheimen Staatsfiskal nicht schließen, obwohl ich den Vokalen hierdurch nicht zu nahe getreten haben will, mit denen ich es gewisser Ursache halber nicht verderben mag. Hätt' ich den Brief zerrissen, wär' es ein Mord gewesen? Doch scheint es, mein Herr und ich werden auf Mord angeklagt. Ich glaube nicht, Kläger könne läugnen zu wissen, wo mein Herr sich befindet. Ich aber, das weiß Gott am besten, weiß es so wenig in dem geheimsten Innern meiner Seele, daß ich meine Angabe, es nicht zu wissen, tausendmal beschwören kann. Nur wenn der Tod meines armen Herrn bekannt geworden, und selbst dann nicht, könnte man diese Gewaltthätigkeit an seinen Sachen sich erlauben, wenn man nicht heilige Rechte des Eigenthums aufheben will. Mein Herr ist ein Mann von Ehre und Nachdruck, seine Mutter eine der ersten Damen in – – –. Ohne an ihre herrlichen Güter und an das irdische und himmlische Jerusalem zu denken, das sie in Rissen besitzt, hat sie große Freunde und Beschützer. Mein Herr ist ihr einziger Erbe. Er sollte entlaufen; er, der nichts auf seinem Gewissen hat, und dessen Umstände so vortheilhaft stud, daß er noch mehr als neunmal neun Receptionen[100] zu bezahlen vermag, wenn er sein Geld in der Art anlegen will, worüber, wenn er's wollte, niemand als Gott und sein Gewissen ihn zur Verantwortung ziehen kann? Daß Geheimnisse auch hier zu Lande nicht confiscirt sind, beweiset selbst der Inhalt des Briefs, welcher diese Klage veranlaßt. Wahrlich er war das Geheimste, was mir je vorgekommen ist: ob ich gleich entfernt bin abzuläugnen, daß auch ich ein Kunstverständiger in Geheimnissen zu seyn die Ehre habe. – Die Frauenzimmer, die mein Herr und ich verehren, sind die edelsten und tugendhaftesten auf Gottes Erdboden. Wollte Gott, sie suchten uns auf! Nicht bloß den Löwenwirth, man vernehme die ganze Welt, und mein Herr wird als der bravste Kavalier vor Gott und Menschen erscheinen. Im engsten Zutrauen erzählte ich dem Kläger, daß mein Herr Dolch und Pistolen mitgenommen hätte. Gott wolle nicht, daß er sie so nöthig hat, als ich meine ganze Besinnung bei Dolch und Pistolen dieser Klage! Wäre der Vokalbrief ein Wechsel, der dem hochseligen Herrn, als er zum Ritter geschlagen ward, so viel Kreuz verursachte, und bei dem es auf Tage und Stunden ankommen soll (ob ich gleich das Wechselrecht weder bei Gamaliel, noch bei meinem wechselfreien Herrn gelernt habe), mein Herr würde durch ein öffentliches Ausgebot ihn angezeigt, oder, wie der hochlöbliche Herr Ritter bemerkt, ihn in seinem Amtshause deponirt haben. Bei einer gemeinen Schrift kann es auf Tage und Wochen nicht ankommen. Auch hab' ich in meiner Unschuld dem Kläger zugestanden, eine Instruktion zu besitzen, die ich selbst noch nicht erbrechen kann: und wie käme irgend ein Mensch in der Welt dazu, sie zeitiger erbrechen zu wollen? Oeffnet man Testamente, ehe der Testator tobt ist?

Der Kläger verlangte den Zeitpunkt zu wissen, wann der Beklagte die Instruktion zu erbrechen wäre verpflichtet worden. Der Beklagte, fügte der Weltgeistliche hinzu, sey ein Neuling in[101] Weltgeschäften, – und so diene ihm wegen des Wechselumstandes zur dienstfreundlichen Nachricht, daß es politische Briefe geben könne, von denen Wohl und Wehe ganzer Provinzen und Staaten abhange, und wozu man sich gewöhnlich der Chiffer zu bedienen pflege. Die Namen Jerusalem und Gamaliel und andere wildfremde beigemischte Umstände verriethen, bemerkte Kläger, ein Komplott; doch war er so gütig, der Meinung zu seyn, daß Beklagter ihm nur als ein halb unterrichteter Theilnehmer und dienender Bruder vorkäme. Ach, mein armer Herr! seufzte Michael, wiewohl nur innerlich, um der Candidatur zum Irrenhause auszuweichen. – Der Richter, sagte man, gehe mit dem Wunsche zur Sache, die Menschen unschuldig zu finden. Warum auch nicht? Die Menschen sind gefallen, alle haben vom verbotenen Baum gegessen, einer freilich mehr, als der andere, doch waren alle bei diesem Nachtisch, die Rechtshandhaber wahrlich nicht ausgeschlossen. Und unser hochlöblicher Richter? War gewohnt, gewisse Sachen peinlich anzufangen und gewisse Parteien als arme Sünder anzusehen, die er bei überwiegenden Gründen immer noch im Falle der Noth in Gerechte verwandeln konnte. Freilich besser, hundert Unschuldige leiden, als einen Schuldigen entwischen lassen. Steckt nicht ein räudiges Schaf die ganze Heerde an? Mag die Unschuld, wie sie sich rühmt, in sich Ruhe der Seele suchen und finden. Ein Volk, das nicht im Druck lebt, geräth in Uebermuth. Ein schlechter Reiter wählt sich ein schlechtes Pferd, ein Held ein muthiges Roß, ob man gleich auch dem schlechten Pferde mit Sporen forthelfen kann. Welch ein Pferd wird unser Richter besteigen? Wie fiel sein Rechtsspruch? Warum nicht gar! Erst ein Vergleichsversuch. Und der? –

Der Richter schlug vor, daß die Instruktion sogleich in gerichtlichen Gewahrsam geliefert und nach neunmal neun Stunden (die der Beklagte wegen der Stunden höchst bedenklich fand), die[102] abgelaufenen Stunden abgerechnet, so wie die andern Sachen des Ritters, eröffnet werden möchte, womit Kläger nach vieler Weigerung sich endlich befriedigte. Beklagter wollte von diesem Vergleich nichts einräumen, weil, die Wahrheit zu sagen, er weder dem Kläger noch dem Richter traute; und so verfügte denn der Richter:

Daß nach neunmal neun Minuten Schrift und Sachen zum gerichtlichen Gewahrsam zu liefern, im Weigerungsfall Beklagter zur persönlichen Hast und zu körperlicher Züchtigung gezogen, und von neunmal neun zu neunmal neun Minuten der Grad derselben verstärkt werden sollte, bis völlig geschehe, was Recht sey. Denn

Beklagter hat zugestanden, den Brief gefunden und seinem Herrn behändigt zu haben. Da er den Inhalt, seiner eigenen Behauptung gemäß, nicht verstand, so übersteigt die Beurtheilung desselben sein Kopfvermögen. Diese an sich schon entscheidenden Gründe werden durch noch andere rechtskräftiger. Sein Herr hat sich im eigentlichen Sinn entfernt, sein genauester Begleiter weiß nicht wohin. Er reiste ohne Paß und Beglaubigungsschein; er hinterließ, um Steckbriefen zuvorzukommen, eine Schrift, die nicht früher als nach neunmal neun Stunden eröffnet werden sollte. Er nahm verdächtiges Gewehr mit (ein Dolch und zwei Pistolen könnten schon allein statt aller Entscheidungsgründe dienen), er kleidete die gemeinsten Dinge in Geheimnißanschein (neunmal neun Stunden, wie leicht waren sie auf Tage gebracht!). Die verstreuten Worte und Umstände, durch welche Beklagter nicht nur den Dolch- und Pistolenverdacht gegen seinen Herrn außer Zweifel setzt, sondern auch auf sich den schwärzesten Schatten desselben zurückwirft, übersteigen alle Gründe, und verlangen, daß auf augenblickliche Haft und steigende körperliche Züchtigung erkannt werde. Kläger hat sich durch Notorietät als einen unbescholtenen Mann ausgezeichnet. Beklagter stellt eine Person vor, bei der man nicht[103] weiß, woran man ist; für einen Bedienten zu vornehm, für einen Mann von Bedeutung zu inconsequent. Seine Art und Weise, sein Aeußeres und Inneres, seine Denk- und Ausdrucksmanier verkündigen einen Menschen, der selbst nicht weiß, woran er mit sich ist. Schon wegen seiner Unerklärlichkeit, und da er mit keinen Pässen und sonstigen Certifikaten versehen ist, würde er als verdächtig beobachtet und in Arrestationsstand gesetzt zu werden verdienen. Die Kosten muß Beklagter übernehmen, weil er nicht nur zu diesem Rechtsstreite die alleinige Veranlassung gegeben (den er auf den Fingern hätte entscheiden können, wenn er sein Selbstrichter zu werden Lust und Liebe gehabt), sondern, was mehr und wenigstens eben so viel sagen will, weil er den ihm angebotenen Vergleichsvorschlag mit verdachtsvoller Entschlossenheit abgewiesen hat.

Michael sank weniger über den Hergang dieser Sache, als wegen der so natürlich aussehenden und doch so künstlich angelegten Art des Klägers und des Richters, in Unempfindlichkeit und eine Art von Schwermuth, die nichts von jener Dämmerungsannehmlichkeit hat, welche durch Nebenideen von Zukunft und besserer Welt entsteht, sondern aus Traurigkeit über das gegenwärtige Leben und vorzüglich über die Schadenfreude und die Heuchelei so vieler unwürdigen Menschen entspringt. Guter Michael, diese Querstreiche sind dir heilsamer, als es die Erfüllungen deiner Eigendünkel seyn würden. Freudenzüge verwöhnen, – Kreuzzüge erziehen. – Wie, wenn du in der Vorbereitung wärest?

Nachdem Michael sich mehr aufgerafft als gefaßt hatte, freute er sich, des Ritters wegen unschuldig leiden zu können, und würde eben so gern, wie Pythias für Dämon, den Tod übernommen haben. Am liebsten war ihm, daß seine Instruktion außer aller Gefahr sey, die er sogleich, nachdem er mit dem Welt- und Geist lichen darüber in Streit gerieth, vergraben hatte. Was er bedauerte,[104] war, daß ihn sein Gefängniß verhindern würde, sie vorschriftsmäßig zu eröffnen, und daß dieß vielleicht nur zu einer Zeit würde geschehen können, wenn alle Hülfe und Rettung für seinen armen Herrn zu spät käme.

Richter! sonst war euer Grundsatz, die Menschen zu ermüden, und wahrlich! ihn langsam um sich selbst und seine Hoffnung bringen, heißt säuberlich mit dem Knaben verfahren und ihn vor Verzweiflung sichern, die in einer Stunde oft mehr Unheil anrichtet, als die Politik in zehn Jahren zu heilen vermag. Richter! sonst waren euch die Gesetze behülflich, aus Rechtssachen Karten zu machen, mit denen die Justiz spielte; sonst diente euch der Subtilitätenkram, die Köpfe der Laien zum Schwindel zu bringen, um sich auf Gnade und Ungnade zu ergeben. – Wie? auch das Faktum ist in eurer Hand, um, wenn ihr das Handwerk versteht, aus Teufeln Engel des Lichts, und aus Engeln Teufel zu machen; aus Spinoza's Pietisten und aus Labres Cherub-Aspiranten? – Es gibt ein asiatisches Verfahren mit rationibus dubitandi und decidendi. Wie? gibt es auch einen Hocuspocus, um den Menschen sich selbst zu entwenden, um sein Thun und Lassen so unkenntlich darzustellen, daß er nicht weiß, wie er mit sich dran ist? Hat es mit eurem weltgepriesenen Vorzuge, daß ihr beim historischen Glauben das höchste, das letzte Tribunal seyd, und daß ihr bei Thatsachen das Privilegium de non appellando besitzt, keine andere Bewandtniß? – Armer Michael!

Schon waren einige Grade der persönlichen Züchtigung mit ihm vorgenommen, und er sah dem neunmal neunten Augenblick standhaft entgegen, da Beschimpfung und Schläge seiner warteten. Das Hauptgeschäft unserer Aerzte, die Krankheit zu nähren, um den Tod zu entfernen, ward an ihm erfüllt; die meisten Menschen sterben täglich, um nicht einmal zu sterben. – Armer Michael, so weit ist es mit dir gekommen! Das


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 2, Leipzig 1860, S. 96-105.
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