§. 131.


Vorhandlung.

[138] Geschichtserzählung.


Sie behaupten, ich wäre weniger heiter als sonst; Sie irren nicht. Der Zufall hat mich vor einigen Tagen mit einem menschlichen Wesen bekannt gemacht, für das ich alles empfinde, was menschliche Seelen zu fühlen fähig sind. Auf meinem gewöhnlichen Spaziergang in die Gegend, die Sie kennen, und die weniger besucht wird als ihre Lage verdient, ließ ich auch meine Seele frische Luft schöpfen, und sie von des Tages Last und Hitze sich erholen. Wahrlich, herrlichen Gegenden geht es nicht besser als herrlichen Menschen: man verkennt sie. Schon sah ich mein sogenanntes Lustschloß, und war an die schöne Stelle gekommen, wo ein Bach sich schlängelt, und mit einem mit kleinem Gebüsch bewachsenen Hügel einen reizenden Busen macht, als ich durch das Gebüsch sich etwas bewegen hörte. – Ich hörte nicht bloß, ich sah ein Wesen, das mir Aehnlichkeit mit einer menschlichen Figur zu haben schien. Noch weiß ich nicht, was mich so schnell und unwiderstehlich zu dem Orte hinzog, der, so einsam er auch ist, sich doch nicht vernachlässigt. – Ich war weit genug vorgedrungen, um meinen Gegenstand ganz eigentlich zu erkennen. – Es war eine männliche Figur, die sich unter das Gebüsch der Länge nach hingestreckt hatte. Es schien nicht, daß dieser Ort von ihm erwählt war, um die Kühle des Schattens zu genießen; er war den Strahlen der Sonne völlig ausgesetzt. Schon mehrmal habe ich bemerkt, daß Menschen mit Menschen unzufrieden, wenn sie zu einem gewissen Grade der Menschenfeindschaft und des Weltüberdrusses gekommen sind, sich nicht unter Bäume verbergen und[139] Schatten suchen, sondern das Licht der Sonne so wenig scheuen, daß sie ihm beinahe entgegentrotzen. Fast scheint es, als wollten sie beweisen, sie wären werth, von der Sonne beschienen zu werden. Der Gedanke, ich bin unschuldig, ich leide nicht was meine Thaten werth sind, macht Menschen zwar zu Flüchtlingen vor andern Menschen, doch verstecken sie sich nicht vor dem Angesichte der Gottheit unter die Bäume im Garten. – Die Warnungstafel des Lasters ist Schande und Furcht. Auch schien es nicht, als litte unser Sonnensucher durch ihre Strahlen; die Schwärze seiner Haut bewies deutlich, er lebe mit Luft und Sonne in vertrautem Umgang. Unser Sonnenfreund schien in schweren Gedanken vertieft, mit sich selbst, jedoch nur leise, zu sprechen, wobei er aber von Zeit zu Zeit heftige Bewegungen machte, die an Verzuckungen grenzten. Da stand ich unentschlossen, ob ich mich dem Unglücklichen (das schien er zu seyn) nähern, oder mich entfernen sollte. Plötzlich fiel sein Auge auf mich, worüber er auffuhr, sich in die Höhe richtete und sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte. Er wollte, da er einen Menschen sah, tiefer in das Gebüsch gehen, doch sehr bald besann er sich und schritt gerade auf mich zu. Es gibt Gemüthsumstände, in denen man schlechterdings unfähig ist sich zu fürchten, so wie es auch einige gibt, in denen man nicht Muth zu fassen vermag. Es wandelte mich nicht die mindeste Furcht an, obgleich bei genauerer Ueberlegung Furchtanwandlung hier sehr natürlich gewesen wäre. Ich befand mich an einem einsamen, abgelegenen Orte, mit einem Verzweiflung verrathenden Menschen, der nach dem Augenscheine seine sechs Fuß maß, und wenn er gleich einem Gerippe ähnlicher als einem Menschen sah, doch einen starken Körperbau und viel Nervennachdruck verrieth. Nicht nur sein Gesicht, sein ganzer Körper zeigte, sein Innerstes sey in einer heftigen Bewegung. Als er sich etwa bis auf drei Schritte mir genähert hatte, stand er still und sah mich starr und nachdenkend an, als[140] wollte er sich auf meine Gesichtszüge besinnen. Er schien sagen zu wollen: ich bin der Mensch nicht, der ein Unglück größer zu machen versteht als es ist. Er schüttelte den Kopf und alles was er sprach, war das mir unerklärliche Wort: Nein. – Der tiefe Seufzer, den er ausstieß, sagte mehr. Ich brach das Stillschweigen mit der Bitte um Vergebung, wenn ich ihn gestört hätte. Er verbarg mir nicht, daß er Willens sey nach der Residenz zu gehen. Sie werden mehr von mir hören, setzte er hinzu, – Worte, die mir auffielen, doch gefielen sie mir nicht. – Die größten Männer sind groß, ohne daß die Welt ein Wort davon weiß, und Unglückliche, des Mitleidens oft am werthesten, lassen am wenigsten von sich hören, doch finden sich Ausnahmen bei jeder Regel. Es gibt geheime Wunden, gibt es aber nicht auch Schmerzen, bei denen selbst der edelste Mann erbittern kann? Ob er dabei mit Recht verliert, will ich nicht untersuchen. Fast mechanisch, wenigstens ohne um seine Erlaubniß zu bitten und sie zu erhalten, kehrte ich auf der Stelle um, und geleitete diesen mir interessant gewordenen Mann. Er schien nicht geneigt, mir etwas von seiner Lage anvertrauen zu wollen, und ich war zu bescheiden, um ihm Geständnisse nahe zu legen, als das Geläute der Stadtglocken ihn wie aus einem tiefen Schlaf erweckte und schnell eine Fluth von Thränen von seinen Wangen herabfloß. Die menschliche Seele ist oft allem, selbst dem körperlichen Schmerz, überlegen, oft indeß wird sie durch eine Kleinigkeit aus der Fassung gebracht. – Die Zunge der Verschwiegensten löst sich und der Beredteste verstummt. Sich dringend nach der Lebensgeschichte des Unglücklichen erkundigen: – heißt es nicht oft, seine Fehler aussuchen und ihn statt zu gewinnen, erbittern? Doch härter noch scheint es zu seyn, ihn ohne Fragen zu lassen, und dergleichen Fragen zu finden ist schwerer als man glauben sollte. – Der Unglückliche trug ein schlichtes braunes, ziemlich abgetragenes Kleid von neuem Schnitt mit schwarzen[141] Knöpfen. Der Schall der Glocken, der ihn so äußerst bewegte, und sein Anzug gab mir Veranlassung ihn zu fragen: ob ein geliebter Gegenstand ihm durch den Tod entrissen wäre? Seine ganze Antwort war ein tiefer Seufzer; er faltete die Hände und sank in Nachdenken. – Sein Zustand war erschrecklich. – Ich machte mir Vorwürfe, ihm durch meine Frage, die so ungesucht kam, und die mir zu jenem Mittelwege von Fragen zu gehören schien, doch schon zu schwer gefallen zu seyn. Sie schien ihn in der That an sein nicht kleinstes Unglück zu erinnern. Dergleichen Erinnerungen schwächen nur selten das Uebel, sie gewöhnen so wenig unser Herz daran, daß sie vielmehr seine Leiden verstärken. Schnell brach ich ab, um einen andern Weg einzuschlagen. Ich fragte, an wen er in der Residenz empfohlen sey, und ob ich dort ihm nützlich werden könnte? »Ich bin von niemanden empfohlen,« war seine Antwort, »mich kennt dort niemand.« Und hier ergriff er hastig meine Hand, drückte sie fest und brach in die rührenden Worte aus: »Ich bin unglücklich. – Ich hatte einen Namen, ich habe keinen mehr; ich war Gatte, mein Weib ist dahin; ich war Vater und bin kinderlos; ich besaß Vermögen und bin ein Bettler.« – Sein Ton ging durch Herz und Seele und war noch stärker als seine Worte. Wäre ich berufen zur Kanzel ober zu irgend einem Rednerstuhle, vielleicht würde ich unserm Leidenden viel Tröstliches gesagt haben, als da ist: Freund, der Lauf der Welt ist leiden; der Lauf der Tugend und Weisheit, dem Leiden nicht zu unterliegen. Nicht die Stärke, sondern die Schwäche wünscht sich den Tod. Der Edle will selbst im größten Leiden leben, um des Lebens und Todes würdig zu seyn. Wer bei widrigen Schicksalen verzagt, sich den Tod wünscht, ist eben so klein, als der groß ist, der im größten Glück an den Tod denkt und zu sterben wünscht. – Suche Trost in deinem Kummer; wer ihn anderswo sucht, findet der ihn? Nur der ist seelenstark, der alles in sich sucht und[142] Will die kühlende Luft der Hoffnung einer künftigen Welt ihn anwehen, wohl ihm, wenn er selbst in ihr auf keine Linderung in schwülen Augenblicken rechnet, und wenn er sich dem auf Discretion überläßt, der ihn geschaffen hat! Ein Unglücklicher, der gern hofft und nach Träumen von Glückseligkeit hascht – macht der sich nicht unglücklicher als er ist? Dieser Welt würdig und der andern nicht unwürdig zu seyn, ist alles, worauf es beim Menschen ankommt. – Wer hat aller Tage Abend und wer aller Tage Morgen erlebt? Und nichts ist schwer, was nicht mit der Zeit leicht wird. – Von allen solchen schönen Dingen sagte ich dem Unglücklichen gerade kein Wort. Wahrlich! so wenig in Stunden der Leidenschaft durch Vorstellungen zu gewinnen ist, eben so wenig gelten Trostgründe im Unglück. Unsere Herren Philosophen und Geistlichen werden es verzeihen, wenn ich von ihrer gewöhnlichen Trosttheorie in Widerwärtigkeiten abweiche. Es gibt Kräfte in uns, jede Untugend zu unterdrücken, jede Leidenschaft zu schwächen, wo nicht zu beherrschen, und jedes Unglück zu ertragen; nur diese Kräfte in Anwendung zu bringen, das ist der Fall. Ich wußte dem Verzweifelten nichts mehr zu erwiedern, als: Freund! es gibt der Unglücklichen viel; und wer ist ganz glücklich? – Will ich denn glücklich seyn? sagte er heftig: Glücklich würde mein Unglück mich machen, ich würde es umarmen, fügte es nicht ein unnatürlicher Bruder mir zu. Herr! dieser Gedanke tödtet. Erlaubt er mir wohl den Vorzug leidender Menschen – mit Ruhe zu leiden? Eine Wonne, deren Werth ich kenne! – Ein Bruder ist es der mir das Menschendaseyn zur unerträglichen Last macht. – Um ihn auf andere Gegenstände zu lenken, ohne auf nähere Umstände seiner Geschichte zu dringen, bot ich ihm an, ihm fürs erste ein Unterkommen zu besorgen, und es schien, als thäte er mir eine Gefälligkeit, meine Dienste anzunehmen. Was ich bei dieser seiner Güte empfand, fühlt vielleicht nicht jeder; ich fand mich beehrt[143] und glücklich. Ich führte ihn in einen Gasthof, ließ ihm ein Zimmer anweisen und verabredete mit dem Wirth, es ihm an nichts fehlen zu lassen. Oel und Wein in seine Wunden zu gießen, behielt ich mir selbst vor. Wo bin ich denn? hat er den Wirth gefragt, als er allein mit ihm war. Die Antwort: im Gasthofe zur Taube, ist ihm so aufgefallen, daß der Wirth nicht aufhören konnte, mir die außerordentliche Bewegung zu schildern, die dieser Name auf ihn machte. Ich habe ihn seit der Zeit täglich besucht. Hier ist seine Geschichte.

Sein Vater verließ mit seiner Ehegattin und zweien Söhnen, wovon der Gast in der Taube der ältere war, sein Vaterland, um als Kammerrath in – – fürstliche Dienste zu treten. Sein Vermögen war bei seinem Anzuge gering. Er kaufte in der Nähe der Residenz Landgüter, durch die vorherigen Besitzer äußerst vernachlässigt, die er durch Fleiß und Oekonomie in wenigen Jahren zu einer Aufnahme brachte, daß er sie mit außerordentlichem Vortheil veräußern konnte. Der größte Theil des Geldes ward im Handel angelegt, und glückliche Speculationen machten ihn so reich, daß er bei seinem Absterben jedem seiner Söhne nicht nur ein Rittergut, sondern auch beträchtliches baares Vermögen hinterließ. – Seine Gattin starb vor ihm. – Die Baarschaften waren sämmtlich in einer Fabrik angelegt, welcher seit vielen Jahren ein Mann vorstand, dessen Redlichkeit seiner Einsicht die Wage hielt. Wollte man einen exemplarischen Mann nennen, ihm widerfuhr diese Ehre. Er starb und es fand sich alles in der größten Unordnung. Ein förmlicher Concurs brach aus und die angeliehenen Kapitalien gingen sämmtlich verloren. Die Rittergüter blieben den beiden Brüdern übrig; eins derselben wäre hinreichend gewesen, zwei Familien standesmäßig zu unterhalten. Der jüngere Bruder befand sich in – – Kriegsdiensten und stand zu – – in Garnison, wo er ungesucht Gelegenheit fand, seine Neigung zum Aufwande[144] aller Art zu befriedigen. Auch liebte er das Spiel leidenschaftlich, und es währte nicht lange, so sah er sich gedrungen, das mit Schulden überhäufte väterliche Gut zu veräußern und seiner Dürftigkeit halber zugleich die Verbindung mit einem reichen Mädchen aufzugeben, womit man ihn bis jetzt auf eine fast schnöde Weise hingehalten hatte. Nichts verdirbt den Menschen mehr als Unmuth, wenn das Bewußtseyn sich vordrängt, ihn sich selbst zugezogen zu haben. Bei diesem jüngeren Bruder war, seines auffallenden Ueberhanges zu Lastern und Thorheiten wegen, nicht viel zu verderben. Eine Ehrensache, bei welcher er sich, wie das Gerücht ging, nicht zu seinem Vortheil nahm, nöthigte ihn, die – – Dienste zu verlassen und das Zudringen der Gläubiger, daß er sich heimlich entfernen mußte. Er nahm seine Zuflucht zu seinem älteren Bruder, den ich seine Geschichte weiter erzählen lassen will.

Ich nahm ihn mit offenen Armen auf, suchte seine Creditsache beizulegen und theilte brüderlich mein Einkommen mit ihm; doch konnte und wollte ich seiner Verschwendung nicht durch mehr Zuschub Nahrung geben. Auch mußte ich ihm zuweilen seines Stolzes wegen etwas versagen, um ihn, da er durch seinen ehemaligen Stand verwöhnt war, nicht bloß fordern zu lassen, sondern ihn auch bitten zu lehren. Nur den Bruder sah er in mir, und die Meinigen, welche wußten, wie nah er mir am Herzen lag, kamen ihm mit Liebe zuvor. Ich war seit drei Jahren verheirathet, war Vater eines braven Jungen und mit dem zweiten Kinde ging meine Gattin schwanger. Dieß waren Vorstellungen, die ich seinen unbilligen Anträgen entgegensetzte. Da ich mich endlich genöthigt sah, zu verlangen, daß er die Residenz verlassen und bei mir wohnen möchte, ward er aufgebracht und schmiedete mit Hülfe eines Bösewichts, der unter dem Schilde der Justiz mordet, einen höllischen Plan, der meine Gattin ihrer Vernunft beraubte, sie zur Mörderin ihrer Kinder und mich zu einem Wesen machte – zu einem Wesen[145] – (er wollte mehr sagen) das Sie vor sich sehen. – Es schlich ein dunkles Gerücht, ich sey nicht ein Sohn meines verstorbenen Vaters. Ob ich gleich von Kindesbeinen an seinen Namen führte, obgleich mein Vater in seinem letzten Willen mich förmlich für seinen Sohn erkannt und mich mit meinem jüngeren Bruder zum Erben seines Nachlasses in gleichen Theilen ernannt hatte, war doch mein Bruder unverschämt genug, diesem allen zu widersprechen. Uneingedenk, daß er durch seine Angabe die Asche seiner Mutter entheilige, eröffnete er bei dem Landesgericht einen Rechtsstreit, stellte zwei feile Zeugen auf, bei welchen meine Mutter ihre Niederkunft gehalten haben sollte, und so ward ich zur Herausgabe der Erbschaft verurtheilt. – Die Beweise, die man bei der Justiz verlangt, sind fast von allen andern Beweisen unterschieden, und jene Kälte, die man in den Gerichtshöfen affectirt – ist sie mehr als ein übertünchtes Grab? verbirgt sie nicht oft rasende Leidenschaften? Der Ort, wo ich getauft bin, ist im siebenjährigen Kriege eingeäschert; die Taufregister waren verloren gegangen. Ob nun gleich wider das erste Urtheil, nach welchem ich das Gut räumen sollte, mir um so hoffnungsreicher die weiteren Rechtsmittel offen standen, als ich die Zeugen der offenbarsten Parteilichkeit überweisen konnte, drang mein unnatürlicher Bruder doch mit unnachläßlicher Härte darauf, daß ich das Gut räumen mußte. Dieß betrübte meine Gattin unbeschreiblich. Sie hatte sich an viele Plätze im Garten, im Walde, im Felde und überall so gewöhnt, daß sie sich von diesen ihren Lieblingen nicht ohne die äußerste Rührung trennen konnte. Ach! mein Herr, sie verstand die Kunst, die wenige Weiber verstehen: den Ort für den besten zu halten, wo sie war; die meisten glauben sich da besser zu befinden, wo sie nicht sind. Sie sank in Schwermuth und ihre öfteren Geistesabwesenheiten ließen mich ihrer nahen Entbindung halber nichts Gutes erwarten. Mein Unglück überstieg meine Vorstellung. In einer benachbarten Waldwächterhütte[146] ward meine Gattin zwar von einem Sohne entbunden, indeß ihrer Vernunft völlig beraubt. Eine bejahrte Person wollte sich durchaus von unserm Schicksale nicht trennen; sie blieb die einzige Teilnehmerin unserer Leiden. Die einzige (alle meine Freunde verließen mich)! Sie allein blieb, was sie gewesen war. Abwechselnd mit ihr bewachte ich meine unglückliche Gattin, die von Zeit zu Zeit Anfälle der größten Wuth äußerte. Etwa drei Wochen nach ihrer Niederkunft hatte ich einen Termin beim Landesgericht. – Ich war, bei Strafe der Präclusion aller meiner Einwendungen und mit der Clausel persönlich vorgeladen, daß, wenn ich nicht erschiene, mir ein immerwährendes Stillschweigen auferlegt seyn sollte. Die Herren kommen nicht aus Drohungen und Bestrafungen heraus. – Daß doch die unwahrscheinlichsten Träume immer die anlockendsten sind! Ich dachte, das Felsenherz meines Bruders durch persönliche Gegenwart zu erweichen, und glaubte, um so unbedenklicher gehen zu können, da meine Gattin seit einigen Tagen ruhiger schien. – Mein Bruder war auch in Person vorgeladen. – Unsere alte Freundin überfiel eine Ohnmacht; wahrscheinlich war dieser Vorfall die erste Ursache der Wuth, in welche meine unglückliche Gattin ausbrach, die, weil sie ohne Aufsicht war, aus dem Bette sprang, unsere beiden Kinder ergriff und sich mit ihnen ins Wasser stürzte. Beide Kinder fanden ihren Tod; die Mutter ward gerettet und befindet sich in einer Irrenanstalt. Mein Termin war eben so unglücklich; beschimpft von einem undankbaren Bruder, kündigte uns ein Deputatus, der indeß nicht der Urtheilsverfasser gewesen zu seyn schien, an, wann ich meine Beschwerden unfehlbar einbringen und wann ich die Vorschußkosten bezahlen müßte, im Fall meine Appellationseinwendung nicht für unkräftig erklärt werden sollte. Wieder eine Drohung, dacht' ich, da der Deputatus mich mit einem Versuche der Güte überraschte. – Ein Strahl der Hoffnung, der mir wohl that. – Allerdings, sagte er zu mir,[147] haben Sie viel für sich; doch, gibt es ein Recht, das auch nur bei der geringsten Richtung nicht, wo nicht unrecht werden, so doch den Schein des Unrechts gewinnen könnte? Und was ist in der Welt, wo nicht das Für und Wider fast gleiche Stimmen hätte, denen, wenn es köstlich ist, ein Ungefähr den Ausschlag gibt? Wie wäre es, wenn sie ein Drittel ihrer vorigen Besitzungen annähmen, und die übrigen Punkte niederschlügen? Mein unnatürlicher Bruder verwarf selbst diesen ihm so vortheilhaften Vorschlag. – Weit lieber will ich, sagte er, alles verlieren, als einem Menschen auch nur das Mindeste zubilligen, der sich herausnahm, sich einen Namen zuzueignen, der ihm als Bastard nicht gebührt und der so lange durch die unverantwortliche Schläfrigkeit meines Vaters entheiligt ist. Der Deputatus nahm sich nicht Zeit, die unbrüderliche Erklärung zu widerlegen, sondern begnügte sich, zu erklären, daß er aus Menschenliebe so thätig für einen Vergleich gewirkt hätte, als es nur menschenmöglich gewesen. Wahrlich ein eingeschränkter Begriff von der Menschenmöglichkeit! Jetzt überließ uns der gestrenge Herr, wie er sich ausdrückte, unserm Schicksal. Mehr aufgebracht über diese gerühmte Thätigkeit des Deputatus, als über die unnatürliche Härte meines Bruders, ging ich heim. Noch war ich nicht an unserer Hütte, als ich mein Unglück erfuhr. Elender konnte ich nicht werden, und noch bin ich mir selbst ein Räthsel, wenn ich mich frage: wie ist es möglich, alles dieß Unglück zu überstehen? Wahrlich, ich bin erschöpft. – Ein neuer Waldaufseher setzte mich aus meiner Wohnung, in der meine alte Freundin starb; und so ist keine lebendige Seele mehr auf Gottes Erdboden, die sich meiner annimmt. Unstät und hülflos irre ich umher, und doch, ich läugne es nicht, wünsche ich, meinen ehrlichen Namen herzustellen und meinen Bruder, wenn es möglich ist, zu beschämen, ehe ich aus diesem Lande des Elendes zu jenen seligen Gegenden scheide, wo alle Drangsale aufhören, wo mein Vater und Mutter, ohne[148] Rechtsstreit, meine Sache führen und wo ich alles wiederfinden werde, was ich hier verlor.

Der Unglückliche erinnert sich, von seiner Mutter vor vielen Jahren gehört zu haben, daß in der Residenz zwei ihrer Freundinnen verheirathet wären, mit denen sie den vertrautesten Umgang gehabt, und denen sie jedes Geheimniß ihres Herzens anvertrauet hätte.


Verlangen des Ordens.


Diese beiden Freundinnen sind aufzusuchen.

Dem Unglücklichen ist ein anständiger Unterhalt zu verschaffen, und der nöthige Kostenbetrag zur Ausführung des Rechtsstreites mit seinem Bruder aufzubringen; endlich ist auf die Kur und Wartung der Gattin zu denken, und mindestens kein Versuch zu ihrer Rettung zu unterlassen.

Oben oder unten ist Eldorado, rief unser Novicius, der, bis in sein Innerstes bewegt, diese großmüthige Handlung übernahm. Möchte doch, sagte er, die Taube unserm Verzweifelnden einen Oelzweig des Friedens bringen! Eine Taube! Wahrlich – besser als Löwe, Sperber und das andere Thier. – Ein zu empfindsames Herz ist in der That ein Geschenk der Natur, das den Menschen äußerst beschwerlich fallen muß, – in einer Welt, wo es solche Brüder, solche Richter, solche Drangsale gibt. – In Eldorado wird es verlohnen, ein empfindsames Herz zu haben, dachte Novicius; in der That, diesseits kommt es zu früh. Die


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 2, Leipzig 1860, S. 138-149.
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