§. 135.


Obermeistergrad.

[158] Sie fing mit einem Noviciat an. Der Ritter ward an einen ihm unbekannten Ort geladen. Er stieß, da er nahe zum Aufnehmungstempel kam, auf ein schönes Gesträuch, welches ihn zu Gängen führte, die sich augenreizend schlängelten. Hier rauschte das Wasser so leise, als ob es sich fürchtete etwas zu verrathen. Die Singvögel selbst schienen ihm einen sanfteren Ton angenommen zu haben, und ehe er sich's versah, fiel sein Blick auf ein englisches Grasstück, welches sich mit einer Aussicht auf ein Gewässer schloß, das ihm wie eine Wolke vorkam. Er hatte an dem Rande bemerkt: »Mein Blick fuhr auf einer Wolke gen Himmel, so reizend war es.« – Jetzt befand er sich an einer Hütte, wo ihn die Neugierde von selbst an einen Ort brachte, indem der matte Schein einer Lampe genau zur Hervorbringung einer behaglichen Dämmerung hinreichte, die ihn Särge und ein Grab sehen ließ, welches[158] zu vollenden eben jetzt ein Todtengräber sich beschäftigte. Dieser nahm Gebeine und einen Schädel aus der Erde langsam hervor, um diese Ueberbleibsel zu einem großen Gebeinhaufen zu tragen, der an der Seite angebracht war. Hier ließ sich eine sanfte Musik hören, – Lautentöne und Harmonica. – Der Todtengräber hatte sein Werk vollendet, sah es an, stützte sich auf seinen Spaten, betete leise und endete sein Gebet mit den Worten, die er laut sprach: Führ' uns nicht in Versuchung, sondern erlös' uns vom Uebel. Amen! Während seiner Arbeit sang er in eigener Melodie:


Man trägt eins nach dem andern hin,

Ich bin, wer weiß, wie lang ich bin?

Und trennt Gebein sich von Gebein,

Was werd' ich seyn?


Da der Ritter mit dergleichen Scenen bei andern Aufnahmen bekannt geworden war, so störte nichts die Rührung, die mit Erstaunen, und selbst mit Befremden, sich wenig oder gar nicht verträgt. Hätte ihn ja etwas überraschen können, so war es eine Stimme, die nichts mit einer menschlichen ähnliches hatte, die dumpf, ohne daß man wußte, von wannen sie kam, mit Papageiendeutlichkeit einfiel:

Mensch, du bist Erde, und wirst zur Erden werden. In diesem Augenblick erschienen sechs Leichenträger mit Flören, mit einem Sarge, welchen sie in das vom Todtengräber gemachte Grab versenkten, wobei sich wieder jene sanfte Musik hören ließ. Die Stille, mit der dieß vorging, rührte den Ritter mehr als alles. Und nun wieder jene Stimme:

Ueber ein Kleines wird man deine Seele von dir fordern.

Bei diesen Worten rissen ihn zwei weißgekleidete Personen aus[159] diesem Gewölbe, verbanden ihm die Augen, und nach langen Wegen, wobei er in die Höhe steigen, sich oft bücken und kriechen mußte, verließen ihn seine beiden Begleiter mit den ihm nicht neuen Worten:

Klopfet an, so wird Euch aufgethan.

Der Ritter befolgte den Wink, klopfte an, und hörte im Zimmer die gewöhnliche Frage: Wer ist da? Leise ward die Thür von inwendig aufgemacht, an welcher sich der Ritter befand. Soll ich antworten? sagte der Ritter mit Bescheidenheit. Die Thür ward schnell verschlossen und inwendig hieß es: Es ist ein Sterblicher, der sterben lernen will.

Weiß er zu leben?

Er ist in der Lehre.

Bei wem?

Bei sich und andern.

Sucht er Menschen durch sich, und sich durch andere Menschen kennen zu lernen?

Ja!

Wünscht er zu sterben?

So wenig als zu leben.

Glaubt er an sich und an Gott.

Er glaubt, der Mensch sey eines hohen Tugendgrades fähig, und ächter Wille gelte bei Gott für That; er thut Gutes und meidet das Böse, weil dieß böse und jenes gut ist, nicht weil andere böse oder gut sind, nicht weil eins besser kleidet als das andere; selbst nicht, weil Tugend sich selbst belohnt und Laster sich selbst bestraft. Die Folgen berechnet er nicht; – dieß Folgenbuch überläßt er Gott. – Nach bestem Wissen und Gewissen handeln, nennt er fromm seyn.

Wird er diesen Standpunkt nie selbst verrücken, noch ihn[160] durch andere verrücken lassen, wenn auch diese andern Herren der Welt wären?

Nie.

Wird er aus Verdruß über andere nie sich selbst, und aus Verdruß über sich selbst nie andere leiden lassen? von Selbsthaß so weit, als von Menschenfeindschaft sich entfernen, ohne selbstsüchtig zu werden und ohne den Menschen nachzulaufen?

Er gelobt es.

Wird er bis aus Ende beharren, um selig zu werden?

Er wird.

Streifet ihm die Schuppen von seinen Augen und laßt ihn hereinkommen.

Er ward in ein Zimmer gebracht, das nur ein sanftes Licht erhellte. Alles ging auf und nieder, so sanft und leise, wie die Herrnhuter singen. Der Ritter allein stand, und zwar mit umgekehrtem Gesichte.

Hast du gehört, hieß es, was einer der Unsrigen in deiner Seele geantwortet hat?

Ja, erwiederte der Ritter.

War es die Gesinnung deines Herzens?

Sie war es.

Du bist jung und reich; die Natur hat sich angegriffen, dich in eine gute Verfassung zu setzen und dir mit Güte zuvorzukommen. Hast du einen höhern Wunsch, als dieses Leben?

(Jetzt riefen alle: Bedenke, daß du sterben mußt.)

Mein Wunsch ist, so zu leben, daß ich dieses und jenes Lebens würdig sey, erwiederte der Ritter. (Ein Schmetterling flog um sein Haupt.)

Glaubst du an andere Triebfedern menschlicher Handlungen, als des Jnteresse?[161]

Ich glaube an Grundsätze.

Quält dich kein Gewissensbiß? Hat keine schreckliche Stimme in dem Innersten dir die Kränkung der Unschuld vorgerückt, und dich bloß ein Wahn von göttlicher Versöhnlichkeit beruhigt und dich überredet, das Geschehene sey ungeschehen, und Folgen wären von Ursachen getrennt?

Mein Gewissen ist rein. Ich bin Mensch. – Wenn Ihr mehr seyd, werdet Ihr Mitleiden mit meiner Schwäche haben und mich lehren, zu seyn wie Ihr. Gottes Hülfe grenzt an Menschenohnmacht.

Deine Sprache hat Wärme und Wahrheit. Wir sind nichts mehr als Menschen – wir kennen dich; bei uns bist du bestanden. Der Mensch kann her einzig unparteiische Richter seiner selbst werden, wenn er will, so wie er, sein ärgster Feind und innigster Freund zu seyn, in seiner Gewalt hat. Frage dich vor dem Allwissenden, in dem wir leben, weben und sind, der den Gedanken kennt, den du vielleicht eben jetzt wegstoßen möchtest: ob du nicht unzufrieden mit andern bist, weil die Natur sie glücklicher ausstattete, als dich? ob du mit den Wegen der Vorsehung zufrieden warst? ob du aus jedem Vorfall, der nicht von dir abhing, Vortheil zu deiner Besserung zogst? ob dir der Gedanke an Gott und an den Tod Schrecken ober Muth gab? (Wichtige Fragen! riefen alle; was wird er antworten?)

Der Ritter. Ich wiederhole mein Bekenntniß: Ich war Mensch, ich bin's noch. Prüfet mich! Noch hat der Neid mir keine schlaflose Stunde gemacht; vielleicht, ich gesteh' es, nicht aus dem reinsten Beweggrunde. Die Ehren, die der Staat austheilt, sind mir zu klein, um sie zu beneiden. Werden nicht Leute damit belohnt, die es so wenig verdienen? Nimmt man ihnen nicht alles, wenn man sie dieses Scheinvorzugs beraubt? Sind es mehr, als Titulaturverdienste? Und urtheilt selbst, ob ich nicht Ursache[162] habe, zufrieden mit der Vorsehung zu seyn! Sie that viel an mir. Nicht zu gewissen Stunden und nur wenig dachte ich an Gott, wenn Beten an Gott denken heißt; doch war meine Seele froh, wenn ich an ihn dachte. Wer bei traurigem Gemüthe an ihn denkt, läugnet ihn im Herzen und bekennt ihn mit seinen Lippen. – Das ist mein Glaube.

Wirst du keine Arbeiten erschweren oder erleichtern, wenn die Menschheit dadurch verliert?

Ich versprech' es.

Willst du das Unglück ehren und gegen das Glück gleichgültig seyn?

Ich will es.

Wirst du züchtig, gerecht und gottselig leben, um einst exemplarisch sterben zu können?

Ich werde.

Glaubst du ein ewiges Leben?

Ich glaub' es. Was wäre die ganze Würde des Menschen ohne ewiges Leben?

Hast du die Hoffnung, daß abgeschiedene Seelen sich ihrer zurückgelassenen Freunde und Bekannten erinnern können?

Ich wünsch', ich hoff' es.

Wohlan! Du kennest Drei in dieser Versammlung. Mit welchem von diesen Dreien willst du vor dem Angesichte Gottes ein gegenseitiges Testament machen, kraft dessen der, welcher zuerst stirbt, dem andern erscheine?

Mit – –

Schwöret!

Hier blieb einer von den Herumgehenden stehen, und schwur folgenden Eid:

Ich schwöre bei dem Allmächtigen und Allwissenden, bei dem Richter der Lebendigen und der Todten, daß, wenn ich von hinnen[163] scheide, ich, wo möglich, in den ersten drei, neun oder zehn Tagen, drei, neun, zehn ersten Wochen, drei, neun, zehn ersten Monaten, drei, neun, zehn ersten Jahren erscheinen will, es sey im Schlafen, oder im Wachen, dem –, so daß ich mich ihm kenntlich mache, durch Berührung, durch Worte oder Gedanken, es sey auf diese oder andere, mir jetzt schon bekannte, oder noch künftig bekannt werdende Weise: den Fall, wenn es mir dort nicht erlaubt wird, ausgenommen; sonst soll mich nichts retten von dem Fluch eines ewigen Gewissensvorwurfs, und der immerwährenden Angst eines Meineidigen: Dieß gelobe ich, so wahr mir Gott helfe, im Leben und im Sterben, und bei dem Verluste der Freuden der andern Welt.

Der Ritter setzte dieß Gelübde fort: Ich schwöre den nämlichen Eid, und mache mich hierdurch vor Gott verbindlich, daß, wenn es mir in meinem künftigen Zustande erlaubt ist, mich in dieser Welt, es sey körperlich oder geistig, zu offenbaren, ich mich dem – –, es sey im Traum oder Wachen, bekannt machen will oder werde. Ich gelobe dieß bei der Würde des Menschen, und bei den Hoffnungen, die in mir sind. Amen.

In diesem Augenblick erhob sich die regierende Stimme: Du bist im Noviciat der Obermeisterschaft. Wir haben dich auf Proben gesetzt; und da wir uns bei Beurtheilung anderer die äußerste Gelindigkeit zur Pflicht gemacht, werden wir so leicht keine Fehler finden, wo keiner ist, und kein liebloses Urtheil fällen, wo es noch Seiten gibt, die sich zum Besten kehren lassen. Jetzt, da wir von deinem guten Herzen durch sieben Vorhandlungen überzeugt sind, wirst du, ehe du es dich versiehst, in andere Lagen zum Thun gesetzt werden. Wohl dir, wenn du Palmen trägst, wenn du bestehest, um würdig zu seyn, dich durch den Tod zum Leben zu widmen, das ohne Verachtung des Todes kein Leben der Freiheit, sondern der Sklaverei ist! Heißt weise seyn seine Glück[164] seligkeit befördern, so gehöret die Ueberwindung der Schrecken des Todes und genaue Bekanntschaft mit ihm zur Weisheit. Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir weise werden! Lehr' uns unsere Tage zählen, und bereit seyn, Leben und Sterben für eine Schuld anzusehen, die wir der Natur abtragen müssen! Es gibt nur Einen Weg, im Leben Fortschritte zu machen: Erhöhung unseres Wesens, Läuterung unseres Geistes. Nie laß uns zu Schanden werden durch Todesschrecken, durch Seufzer und Klagen, die unvernünftig sind! So sanft und still wie wir in diesem Noviciat gehen, so sanft und stillthätig laß uns in der Welt seyn, und nicht die Hände in den Schooß legen, wenn noch Arbeit im Weinberge ist. Alles Fremdartige, was unsere Erzieher, und was wir selbst in uns legten, laß uns entfernen, um schlecht und recht zu seyn vor deinem Angesicht. Wer die Unschuld unterdrückt, sammelt sich schreckliche Furien auf die letzten Stunden des Lebens, Kraft zum Sterben aber, wer die Thränen von der Wange des Feindes trocknet, und den Hasser durch Segen und Wohlthun bessert. Wir wollen unsere Seelen in Händen tragen, und in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben, Leidenschaften erziehen, vernünftig leben, geduldig leiden, um einst froh zu sterben. Krankheiten zu entfernen, in so weit sie von Menschen abhangen, ist unsere Pflicht; überfallen sie uns wider Verschulden – sind sie mehr oder weniger als Naturbemühungen, uns, so lange der Leib zusammenhält, das Leben zu erhalten, um, so lange es nur geht, der Zerstörung des Menschenlebens auszuweichen. Dein Wille geschehe im Leben und im Tode. Amen.


Eine herrliche, eine sanfte Musik beschloß diese Scene. Der Ritter ward wieder mit verbundenen Augen in jenes Elysium zurückgeführt, durch welches er zum Todtengewölbe und so weiter gelangt war. Dieß Leben, sagte der zu ihm, der ihm die Augen[165] verband, führen wir es anders, als mit verbundenen Augen der Seele? Wohl uns, wenn wir einst Licht sehen und genesen!

Vor dem Schlusse dieser Noviciatsaufnahme drückte jeder der Wandelnden dem Novizen die Hand, und hieß ihn willkommen. Zur


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 2, Leipzig 1860, S. 158-166.
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