146. Sinai?

§. 146.


Sinai?

[220] Hier ward, wie es hieß, moralische Zauberei getrieben. Die Endabsicht des Menschen ist durch die höchste Bildung seiner Kraft zu einem Ganzen in Absicht seiner selbst und der Gesellschaft zu gelangen. Wie ist diese zu erreichen? Wie bringt der Mensch seine höhere Vervollkommnung zu Stande? Wie entsteht die Erschlaffung seines Wesens? Durch Liebe und Achtung wird der Mensch geadelt, durch Interesse entehrt, und nur, wenn er ins Allgemeine mit Verzicht auf alles, selbst auf Dank arbeitet; wenn er in sich die Menschheit, das göttliche Bild sieht und nichts zum Mittel erniedrigt, was die Ehre hat Zweck zu seyn; wenn er bei den Universalrecepten gegen die moralischen Uebel nicht vergißt die Natur des Individuums zu berechnen, das er beurtheilt: nur dann,[220] dünkt mich, kann der Mensch sich einen moralischen Zauberer dünken, wenn anders Zauberei und Moral nicht zu heterogen sind.

Im Sinaiorden nicht also.

Die Gesetztafeln auf Sinai hatten den Menschen anders veranschlagt. Man gab secreta monita, nach welchen der Mensch sich selbst nichts und andern alles zutrauen sollte: dem Arzt den armen Leib, dem Priester die arme Seele. Man überzeugte sich, daß Sklaverei von jeher glücklicher als Freiheit gemacht hätte. – Volkstäuschung, Maschinensklaverei waren die Hauptwörter, um durch ein zwar barbarisches, doch universelles Mittel dem kleinern Theile durch Aufopferung des größern Ruhe und Gemächlichkeit zuzusichern. Man suchte den Menschen von den Gütern des Geistes abzuleiten, die weder Motten noch Rost fressen, nach denen weder Diebe graben noch sie stehlen, die in Glück und Unglück uns nicht verlassen und die zuletzt zur Herrschaft der Sitten bringen, anstatt der Gesetze. Ach mit den lieben Gesetzen! Sind sie mehr als übertünchte Gräber? Weltklugheit galt auf Sinai, nicht Weisheit. Höchstens lernte man schlaue Kenntniß und richtige Beurtheilung alles dessen, was uns nützlich und schädlich werden kann. Wenn zwei Kenntnisse zusammenkommen, hieß es, steht die eine, welche dir frommt, wie bei den Substantiven im Genitiv. Immerhin sey die gesetzgebende, richterliche und ausführende Macht in der Despotie vereinigt! Weiß der Despot, wie es der Fall gewöhnlich ist, keins von dieser Dreieinigkeit zu gebrauchen, desto besser; alsdann regieren Lieblinge. Es führe ein Geschlecht, welches es wolle, das Ruder, die Klugheit wird schon ergründen, was Trumpf, das heißt wer König ist. – Es muß Menschen geben, die, wenn sie nicht besser sind, so doch für besser gehalten werden. – Man lasse ihnen ja diese Ehre, wenn sie gleich nicht mehr thaten als mit dem Kopfe nicken, während der Zeit du dir ihn zerbrachst. Ist es nicht besser Fürst zu seyn als es zu heißen? Weder ein römischer Senatorschuh noch[221] ein Kreuzpantoffel des heiligen Vaters schützen vor dem Podagra. – Sokrates ward durch bie Heliäa, durch ein Volksgericht, das aus 400 Personen bestand, zum Tode verurtheilt. – Die Menschen sind entweder Tadler oder Schwätzer. Wer liest? wer merkt auf das, was er liest? Wer verwandelt das, was er liest, in Grundsätze? Wer sucht es zu üben und in Handlung zu zeigen? Im Freistaat ist jeder Monopolist; jeder sucht den Scepter an sich zu reißen. Man figurirt oder jakobinisirt. – Krieg aller wider alle ist das natürlichste und beste. Sieh dich um! Eins frißt das andere in Gottes Welt, und Eheleute, die sich am öftesten entzweien, haben die meisten Kinder. – So bleibt es immerdar. – Was kann Ein Staat, der sich veniam aetatis erringt, in dem einer des andern Freiheit achtet? Ist nicht alles noch im weiten Felde – ja Felde –, wenn sein Geschwister unmündig bleibt? – Dergleichen Vorreden führten zum Dekalogus auf Sinai. Uebrigens ward es hier, wie gewöhnlich, auf Unterricht, nicht auf Erziehung angelegt, obgleich dieß nichts anders als Essen und Trinken ist. Der Bruder Präparateur hatte so wenig Anziehendes, daß der Ritter mit ungewohnter Laune bemerkt: mache einen Kleck, und du hast seine Silhouette. – Im Orden auf


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 2, Leipzig 1860, S. 220-222.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z
Hippel, Theodor Gottlieb von: Th. G. v. Hippels sämmtliche Werke / Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z. Theil 1
Hippel, Theodor Gottlieb von: Th. G. v. Hippels sämmtliche Werke / Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z. Theil 2