155. Grausam

§. 155.


grausam,

[265] sagte der Ritter zum Engländer. – Nicht ich, der Anstand ist es. – Anstand? erwiederte der Ritter. – Allerdings, sagte der Engländer. – Die Liebe, fuhr der Ritter fort, hat den Anstand gemacht, und kann ihn wider heben oder einlenken. – Du bist Apostel, erwiederte der Engländer, du bist Eklektiker, Weiser der Weisen. Ihr esset oder trinket, Ihr herzet oder küsset, Ihr thut, was Ihr thut, thut alles zu Gottes Ehre! Sich, Sohn und Bruder! Sophie ist Weib und könnte, so sehr ich auch für sie zu stehen übernehmen will, durch die feurige Zuneigung eines so liebevollen und liebenswürdigen Jünglings sich mißleiten lassen. Der Ritter fühlte freilich, daß er noch nicht zu den so genannten Tugenden der schon gereinigten Seele, den betrachtenden und theurgischen, gekommen war, indeß hatte er auch so die Welt nicht genossen und die Welt ihn nicht, wie Vater und Bruder Engländer. Er drang zu antistoisch, zu antiplatonisch, zu antiaristotelisch, zu antipythagoräisch in ihn, und je dringender er ward, desto kälter stellte sich der Vater und der Bruder, denn solch ein großer Eklektiker er zu seyn schien, war er doch so wenig kalt wie der Ritter. Ost dünkt man sich gut, wenn man auf eine an dere Manier böse ist.[265] – Sie über drei Tage abermals eine Stunde sprechen zu können, war alles, was der Ritter erreichen konnte.

Michaeln ging es kein Haar besser und schlechter, als seinem Herrn. Er hatte die Begleiterin dem Bildnisse, das er an seinem Busen trug, so ähnlich gefunden, daß er seinen Herrn vielfältig versicherte, es könne kein Ei dem andern ähnlicher seyn. Da der Begleiter eben so wenig Zeit gehabt, sich nach dem Aufenthalt der Zofe zu erkundigen, wie sein Herr, wo Sophie anzutreffen sey, so gab es zwischen Herrn und Diener eine kurzweilige Unterredung, bei welcher einer dem andern Vorwürfe machte, ohne daß es auszumachen war, wer von beiden sie am meisten verdiente. Zwar konnte Michael nicht läugnen, daß es ihm besser angestanden haben würde, durch die Kammerzofe Sophiens Aufenthalt zu ergründen, indeß mußte man dagegen in Erwägung ziehen, daß diese Frage zu den neugierigen und vorgreifenden gehörte, die sich weder für Ritter noch Knappen geziemen. Beide, Herr und Begleiter, gaben sich, geleitet von der inbrünstigsten Liebe, alle nur ersinnliche Mühe, den Aufenthalt Sophiens und ihrer Zofe auszuforschen; da indeß alles vergeblich war, so fing der Ritter an: Was uns bewegt edlen Dingen nachzustreben, muß uns auch bewegen sie entbehren zu lernen, und was würden uns alle Ordenskenntnisse, den Apostelgrad nicht ausgenommen, helfen, wenn sie uns nicht standstafter, gefaßter, mäßiger und weiser machten? Gibt es denn nicht große Apostel-Eigenschaften, theurgische Tugenden? Und ist das Gebet der Weisheit, stets bereit zum Sterben zu seyn, etwas anderes, als die Bemühung, uns allem zu entziehen, was nicht göttlich ist?

Freilich, erwiederte der Knappe, der Mensch muß so weit als möglich zu kommen suchen, und wen hat je seine Enthaltsamkeit gereuet?

Sollte indeß die Liebe, fuhr der Ritter fort, nicht etwas[266] Theurgisches an sich haben und Handlungen hervorrufen, die göttlich sind?

Freilich, sagte der Knappe, denn gibt es ein größeres Ziel als eine vernünftige Liebe? Und kann man Enthaltsamkeit üben, wenn man nicht weiß, wo Fräulein Sophie und ihre Zofe sich aufhalten?

Aller dieser goldenen Sprüche ungeachtet, konnten beide nicht anders als mit der größten Ungeduld die zweite


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 2, Leipzig 1860, S. 265-267.
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