[Zacharias Werner]

[429] »Nicht,« erwiderte Cyprian, »nicht so fern von euch befand ich mich, als du wohl denken magst, und gewiß ist es, daß eben euer Gespräch mir das Tor öffnete zur Abfahrt. – Eben da ihr so viel von dem Lustspiel sprächet, und Vinzenz den richtigen Erfahrungssatz aufstellte, daß uns die Lust abhanden gekommen, die mit sich selbst spielt, so fiel mir ein, daß sich dagegen in neuerer und neuster Zeit doch in der Tragödie manches wackre Talent erhoben. Mit diesem Gedanken faßte mich aber die Erinnerung an einen Dichter, der mit wahrhafter hochstrebender Genialität begann, aber plötzlich, wie von einem verderblichen Strudel ergriffen, unterging, so daß sein Name kaum mehr genannt wird.« »Da«, sprach Ottmar, »stößest du gerade an gegen Lothars Prinzip, welcher zu behaupten pflegt, daß das wahrhafte Genie niemals untergehe.«

»Und,« fuhr Cyprian fort, »und Lothar hat recht, wenn er meint, daß der wildeste Sturm des Lebens nicht vermag, die Flamme zu verlöschen, die wahrhaft aus dem Innersten emporgelodert, daß die bittersten Widerwärtigkeiten, die bedrängtesten Verhältnisse vergebens ankämpfen gegen die innere Göttermacht des Geistes, daß der Bogen sich nur spannt, um desto kräftiger loszuschnellen. Wie aber, wenn in dem ersten tiefsten Keim der Embryo des giftigen Wurms lag, der, entwickelt, mitgeboren mit der schönen Blüte, an ihrem Leben nagt, so daß sie ihren Tod in sich selber trägt, und es keines Sturms bedarf, sie zu vernichten?«

»So fehlte«, rief Lothar, »es deinem Genius an dem[429] ersten Bedingnis, das dem Tragödiendichter, der frei und kräftig ins Leben treten will, unerläßlich ist. Ich meine nämlich, daß solch eines Dichters Gemüt unbedingt vollkommen gesund, frei von jedem Kränkeln sein müsse, wie es wohl psychische Schwächlichkeit oder, um mit dir zu reden, auch wohl irgendein mitgebornes Gift erzeugen mag. Wer konnte und kann sich solcher Gesundheit des Gemüts wohl mehr rühmen, als unser Altvater Goethe? – Mit solcher ungeschwächten Kraft, mit solcher innern Reinheit wurden Helden erzeugt wie Götz von Berlichingen – Egmont! – Und will man unserm Schiller vielleicht jene Heroenkraft nicht in dem Grade einräumen, so ist es wieder der reine Sonnenglanz des innigsten Gemüts, der seine Helden umstrahlt, in dem wir uns, wohltätig erwärmt, ebenso kräftig und stark fühlen, als es der Schöpfer im Innersten sein mußte. Doch vergessen muß man ja nicht den Räuber Moor, den Ludwig Tieck mit vollem Recht das titanenartige Geschöpf einer jungen und kühnen Imagination nennt. – Wir kommen indessen ganz von deinem Tragödiendichter ab, Cyprianus, und ich wollte, du rücktest nun ohne weiteres damit heraus, wen du meinst, unerachtet ich es zu ahnen glaube.«

»Beinahe«, sprach Cyprian, »wäre ich, wie ich es heute schon einmal getan, aufs neue hineingefahren in euer Gespräch mit absonderlichen Worten, die ihr nicht zu deuten wußtet, da ihr die Bilder meines wachen Traums nicht geschaut. – Aber ich rufe nun dennoch: Nein! seit Shakespeares Zeiten ging solch ein Wesen nicht über die Bühne, wie dieser übermenschliche, fürchterlich grauenhafte Greis! – Und damit ihr nicht einen Augenblick länger in Zweifel bleibt, so füge ich gleich hinzu, daß kein Dichter der neueren Zeit sich einer solchen hochtragischen gewaltigen Schöpfung erfreuen kann als der Dichter der ›Söhne des Tales‹.«

Die Freunde sahen sich verwundert an. Sie ließen in der Geschwindigkeit die vorzüglichsten Charaktere aus[430] Zacharias Werners Dichtungen die Musterung passieren und waren dann darin einig, daß doch überall dem wahrhaft Großen, dem wahrhaft Starken, Tragischen irgend etwas Seltsames, Abenteuerliches, ja oft Gemeines beigemischt, was davon zeuge, daß der Dichter zu keiner ganz reinen Anschauung seines Helden gekommen, und daß ihm wohl eben jene vollkommene Gesundheit des inneren Gemüts gemangelt, die Lothar bei jedem Tragödiendichter als unerläßlich voraussetze.

Nur Theodor hatte in sich hineingelächelt, als sei er anderer Meinung, und begann nun: »Halt, halt! Ihr würdigen Serapionsbrüder – keine Übereilung! – Ich weiß es ja, ich allein von euch kann es wissen, daß Cyprian von einer Dichtung spricht, die der Dichter nicht vollendete, die mithin der Welt unbekannt geblieben, wiewohl Freunde, die in des Dichters Nähe lebten, und denen er entworfene Hauptszenen mitteilte, Grund genug hatten, überzeugt zu sein, daß diese Dichtung sich zu dem Größesten und Stärkesten erheben werde, nicht allein was der Dichter geliefert, sondern was überhaupt in neuerer Zeit geschrieben worden.«

»Allerdings,« nahm Cyprian das Wort, »allerdings spreche ich von dem zweiten Teil des ›Kreuzes an der Ostsee‹, in dem eben jenes furchtbar gigantische, grauenhafte Wesen auftrat, nämlich der alte König der Preußen, Waidewuthis. Es möchte mir unmöglich sein, euch ein deutliches Bild von diesem Charakter zu geben, den der Dichter, des gewaltigsten Zaubers mächtig, aus der schauervollen Tiefe des unterirdischen Reichs heraufbeschworen zu haben schien. Mag es euch genügen, wenn ich euch in dem innern Mechanismus die Spiralfeder erblicken lasse, die der Dichter hineingelegt, um sein Werk in rege Tätigkeit zu setzen. – Geschichtlicher Tradition gemäß ging die erste Kultur der alten Preußen von ihrem König Waidewuthis aus. Er führte die Rechte des Eigentums ein, die Felder wurden umgrenzt, Ackerbau getrieben,[431] und auch einen religiösen Kultus gab er dem Volk, indem er selbst drei Götzenbilder schnitzte, denen unter einer uralten Eiche, an die sie befestigt, Opfer dargebracht wurden. Aber eine grause Macht erfaßt den, der sich selbst allgewaltig, sich selbst Gott des Volkes glaubt, das er beherrscht. – Und jene einfältige starre Götzenbilder, die er mit eignen Händen schnitzte, damit des Volkes Kraft und Wille sich beuge der sinnlichen Gestaltung höherer Mächte, erwachen plötzlich zum Leben. Und was diese toten Gebilde zum Leben entflammt, es ist das Feuer, das der satanische Prometheus aus der Hölle selbst stahl. Abtrünnige Leibeigne ihres Herren, ihres Schöpfers, strecken die Götzen nun die bedrohlichen Waffen, womit er sie ausgerüstet, ihm selbst entgegen, und so beginnt der ungeheure Kampf des Übermenschlichen im menschlichen Prinzip. – Ich weiß nicht, ob ich euch ganz deutlich geworden bin, ob es mir ganz gelang, die kolossale Idee des Dichters euch darzustellen. Doch als Serapionsbrüder mute ich es euch zu, daß ihr ganz so wie ich selbst in den fürchterlichen Abgrund geblickt, den der Dichter erschlossen, und ebendas Entsetzen, das Grausen empfunden habt, das mich überfällt, sowie ich nur an diesen Waidewuthis denke.«

»In der Tat,« nahm Theodor das Wort, »unser Cyprianus ist ganz bleich geworden, und das beweist allerdings, wie die ganze große Skizze des wunderbaren Gemäldes, die der Dichter ihm entfaltet, von der er uns aber nur eine einzige Hauptgruppe blicken lassen, sein tiefstes Gemüt aufgeregt hat. Was aber den Waidewuthis betrifft, so würd' es, denk' ich, genügt haben zu sagen, daß der Dichter mit staunenswerter Kraft und Originalität den Dämon so groß, gewaltig, gigantisch erfaßt hatte, daß er des Kampfes vollkommen würdig erschien und der Sieg, die Glorie des Christentums um desto herrlicher, glänzender strahlen mußte. Wahr ist es, in manchen Zügen ist mir der alte König so erschienen, als sei er, um mit Dante[432] zu reden, der ›imperador del doloroso regno‹ selbst, der auf Erden wandle. Die Katastrophe seines Unterganges, jenen Sieg des Christentums, mithin den wahrhaftigen Schlußakkord, nach dem alles hinstrebt im ganzen Werke, das mir wenigstens nach der Anlage des zweiten Teils einer andern Welt anzugehören schien, habe ich mir in der dramatischen Gestaltung niemals recht denken können. Wiewohl in ganz andern Anklängen, fühlt' ich erst, die Möglichkeit eines Schlusses, der in grausenhafter Erhabenheit alles hinter sich läßt, was man vielleicht ahnen wollte, als ich Calderons ›großen Magus‹ gelesen. – Übrigens hat der Dichter über die Art, wie er sein Werk schließen wolle, sich nicht ausgelassen. Wenigstens ist mir dar über nichts zu Ohren gekommen.«

»Mich«, sprach Vinzenz, »will es überhaupt bedünken, als wenn es dem Dichter mit seinem Werk so gegangen sei, wie dem alten König Waidewuthis mit seinen Götzenbildern. Es ist ihm über den Kopf gewachsen, und daß er der eignen Kraft nicht mächtig werden konnte, beweist eben die Verkränkelung des inneren Gemüts, die nicht zuläßt, daß etwas Reines, Tüchtiges zutage gefördert werde. Überhaupt kann ich, sollte Cyprian auch wirklich recht haben, daß der Alte die glücklichsten Anlagen zu einem vortrefflichen gewaltigen Satan gehabt, mir doch nicht gut vorstellen, wie er wiederum mit dem Menschlichen so verknüpft werden konnte, um wahrhaftes dramatisches Leben verspüren zu lassen, ohne das keine Anregung des Zuschauers oder Lesers denkbar ist. Der Satan mußte zugleich ein großer, gewaltiger königlicher Heros sein.« –

»Und«, erwiderte Cyprian, »das war er auch in der Tat. Um dir dies zu beweisen, müßt' ich ganze Szenen, wie sie der Dichter uns mitteilte, noch auswendig wissen. Lebhaft erinnere ich mich noch eines Moments, der mir vortrefflich schien. König Waidewuthis weiß, daß keiner seiner Söhne die Krone erben wird, er erzieht daher einen Knaben – ich glaube, er erscheint erst zwölf Jahre alt – zum[433] künftigen Thronfolger. In der Nacht liegen beide, Waidewuthis und der Knabe, am Feuer, und Waidewuthis bemüht sich, des Knaben Gemüt für die Idee der Göttermacht eines Volksherrschers zu entzünden. – Diese Rede des Waidewuthis schien mir ganz meisterhaft, ganz vollendet. – Der Knabe, einen jungen zahmen Wolf, den er auferzogen, seinen treuen Spielkameraden, im Arm, horcht der Rede des Alten aufmerksam zu, und als dieser zuletzt frägt, ob er um solcher Macht willen wohl seinen Wolf opfern könne, da sieht der Knabe ihn starr an, ergreift dann den Wolf und wirft ihn ohne weiteres in die Flammen.«

»Ich weiß,« rief Theodor, als Vinzenz gar seltsam lächelte und Lothar, wie von innerer Ungeduld getrieben, losbrechen wollte, »ich weiß, was ihr sagen wollt, ich höre das harte absprechende Urteil, womit ihr den Dichter von euch wegweiset, und ich will euch gestehen, daß ich noch vor wenigen Tagen in dies Urteil eingestimmt hätte, weniger aus Überzeugung, als aus Verdruß, daß der Dichter auf Bahnen geriet, die ihn mir auf immer entrücken mußten, so daß ein Wiederfinden kaum denkbar und auch beinahe nicht wünschenswert scheint. Mit Recht muß der Welt des Dichters Beginnen, als sein Ruhm sich erhoben, verworren, einem wahrhaftigen Geist fremd, unwürdig erscheinen, mit Recht mag sich der Verdacht regen, daß ein wetterwendisches Gemüt, der Lüge, sündhafter Heuchelei ergeben, geneigt sei, die Schleier, die die Selbsttäuschung gewoben, andern überzuwerfen, daß aber die Tat diese Schleier mit roher Gewalt zerreiße, so daß man im Innern den bösen Geist krasser Selbstsucht an der gleißnerisch glänzenden Glorie arbeiten sehe zur eignen Beatifikation – Doch! – Nun! – Entwaffnet, ganz entwaffnet hat mich des Dichters Vorrede zu dem geistlichen Schauspiel: ›Die Mutter der Makkabäer‹, die, wohl nur den wenigen Freunden, die sich dem Dichter in seiner schönsten Blütezeit fester angeschlossen hatten, ganz verständlich, das[434] rührendste Selbstbekenntnis verschuldeter Schwäche, die wehmütigste Klage über unwiederbringlich verlornes Gut enthält. Willkürlos mag dies dem Dichter entschlüpft sein, und er selbst mochte die tiefere Bedeutung nicht ahnen, die den Freunden, die er verließ, in seinen Worten aufgehen mußte. Diese merkwürdige Vorrede lesend, war es mir, als säh' ich durch ein trübes farbloses Wolkenmeer glänzende Strahlen dämmern eines hohen edlen, über alle aberwitzige Faseleien unmündiger Verkehrtheit erhabenen Geistes, der sich selbst, wenn auch nicht mehr zu erkennen, doch noch zu ahnen vermag. Der Dichter erschien mir, wie der vom fixen Wahn Verstörte, der im hellen Augenblick sich des Wahns bewußt wird, aber, den trostlosen Gram dieses Bewußtseins beschwichtigend, sich selbst mit erkünstelten Sophismen zu beweisen trachtet, in jenem Wahn rühre und rege sich sein eigentliches höhers Wesen, und dieses Bewußtsein sei nur der kränkelnde Zweifel des im Irdischen befangenen Menschen. – Eben vom zweiten Teil des ›Kreuzes an der Ostsee‹ spricht der Dichter in jener Vorrede und gesteht – schneide kein solch tolles Gesicht, Lothar – bleibe ruhig auf dem Stuhle sitzen, Ottmar – trommle nicht den russischen Grenadiermarsch auf der Stuhllehne, Vinzenz! – Ich dächte, der Dichter der ›Söhne des Tales‹ verdiene wohl, daß von ihm unter uns recht ordentlich gesprochen würde, und ich muß euch nur sagen, daß mir das Herz nun eben recht voll ist, und daß ich noch den brausenden Gischt wacker überlaufen lassen muß.« –

»Ha!« rief Vinzenz sehr laut und pathetisch, indem er aufsprang, »ha, wie der Gischt – emporzischt! – Das kommt vor im ›Kreuz an der Ostsee‹, und die heidnischen Priester singen es ab in sehr greulicher, abscheulicher Weise. Und du magst nun schelten, schmähen, toben, mich verfluchen und verwünschen, o mein teurer Serapionsbruder Theodor! – ich muß! – ich muß dir in deinen tiefsinnigen Vortrag ein kleines Anekdoton hineinschmeißen,[435] das wenigstens einen minutenlangen Sonnenschein auf alle diese Leichenbittergesichter werfen wird. – Unser Dichter hatte einige Freunde geladen, um ihnen das ›Kreuz an der Ostsee‹ im Manuskript vorzulesen, wovon sie bereits einige Bruchstücke kannten, die ihre Erwartung auf das höchste gespannt hatten. Wie gewöhnlich in der Mitte des Kreises an einem kleinen Tischchen, auf dem zwei helle Kerzen, in hohe Leuchter gesteckt, brannten, saß der Dichter, hatte das Manuskript aus dem Busen gezogen, die ungeheure Tabaksdose, das blaugewürfelte, geschickt an ostpreußisches Gewebe, wie es zu Unterröcken und andern nützlichen Dingen üblich, erinnernde Schnupftuch vor sich hingestellt und hingelegt. – Tiefe Stille ringsumher! – Kein Atemzug! – Der Dichter schneidet eins seiner absonderlichsten, jeder Schilderung spottenden Gesichter und beginnt! – Ihr erinnert euch doch, daß in der ersten Szene beim Aufgehen des Vorhangs die Preußen am Ufer der Ostsee zum Bernsteinfang versammelt sind und die Gottheit, die diesen Fang beschützt, anrufen? – Also – und beginnt:

›Bankputtis! – Bankputtis! – Bankputtis!‹ –

– Kleine Pause! – Da erhebt sich aus der Ecke die sanfte Stimme eines Zuhörers: ›Mein teuerster geliebtester Freund! – Mein allervortrefflichster Dichter! hast du dein ganzes liebes Poem in dieser verfluchten Sprache abgefaßt, so versteht keiner von uns den Teufel was davon und bitte, du wollest nur lieber gleich mit der Übersetzung anfangen!‹« –

Die Freunde lachten, nur Cyprian und Theodor blieben ernst und still, noch ehe dieser aber das Wort wiedergewinnen konnte, sprach Ottmar: »Nein, es ist unmöglich, daß ich nicht hiebei an das wunderliche, ja beinahe possierliche Zusammentreffen zweier, wenigstens rücksichts ihres Kunstgefühls, ihrer Kunstansichten ganz heterogener Naturen denken sollte. Unumstößlich gewiß mag es sein, daß der Dichter die Idee zum ›Kreuz an der Ostsee‹[436] früher, lange Zeit hindurch in sich herumtrug, soviel ich erfahren, gab aber den nächsten Anlaß zum wirklichen Aufschreiben des Stücks eine Aufforderung Ifflands an den Dichter, ein Trauerspiel für die Berliner Bühne anzufertigen. Die ›Söhne des Tales‹ machten gerade damals großes Aufsehen, und man mochte dem Theatermann wegen des neu zum Tageslicht aufgekeimten Talents hart zugesetzt, oder er selbst mochte gar zu verspüren gemeint haben, der junge Mensch könne auf die gewöhnlichen beliebten Handgriffe einexerziert werden und eine tüchtige Theaterfaust bekommen. – Genug, er hatte Vertrauen gefaßt, und nun denke man ihn sich mit dem erhaltenen Manuskript des ›Kreuzes an der Ostsee‹ in der Hand! – Iffland, dem die Trauerspiele Schillers, die sich damals trotz alles Widerstrebens hauptsächlich durch den großen Fleck Bahn gebrochen hatten, eigentlich in tiefster Seele ein Greuel waren, Iffland, der, durfte er es auch nicht wagen, mit seiner innersten Meinung offen hervorzutreten, ohne befürchten zu müssen, von jener scharfen Geißel, die er schon gefühlt, noch härter getroffen zu werden, doch irgendwo drucken ließ, Trauerspiele mit großen geschichtlichen Akten und einer großen Personenzahl wären das Verderbnis der Theater – des zu bedeutenden schwer zu erschwingenden Kostenaufwandes wegen, setzte er zwar hinzu, aber er dachte doch: ›dixi et salvavi‹ – Iffland, der gar zu gern seinen Geheimenräten, seinen Sekretarien u.s.w. den nach seiner Art zugeschnittenen tragischen Kothurn angezogen hätte – Iffland liest das ›Kreuz an der Ostsee‹ in dem Sinn, daß es ein für die Berliner Bühne ausdrücklich geschriebenes Trauerspiel sei, das er in Szenen setzen, und in dem er selbst nichts weniger spielen soll, als den Geist des von den heidnischen Preußen erschlagenen Bischofs Adalbert, der als Zitherspielmann sehr häufig über die Bühne zieht, mit vielen, zum Teil erbaulichen, zum Teil mystischen Reden gar nicht karg ist, und über dessen Haupt, so oft der Name Christus[437] ausgesprochen wird, eine helle Flamme auflodert und wieder verschwindet! – Das ›Kreuz an der Ostsee‹, ein Stück, dessen Romantik sich nur zu oft ins Abenteuerliche, in geschmacklose Bizarrerie verirrt, dessen szenische Einrichtung wirklich, wie es bei den gigantischen Schöpfungen Shakespeares oft nur den Schein hat, allen unbesiegbaren Bedingnissen der Bühnendarstellungen spottet. – Geradezu verwerfen, unartig absprechen, alles für tolles verwirrtes Zeug erklären, wie man es sonst wohl den diis minorum gentium geboten, das durfte man nicht. – Ehren – loben – ja, bis an den Himmel erheben und dann mit tiefster Betrübnis erklären, daß die schwachen Theaterbretter den Riesenbau nicht zu tragen vermöchten, darauf kam es an. – Der Brief, den Iffland dem Dichter schrieb, und dessen Struktur nach jener bekannten Widerspruchsform der Italiener: – ›ben parlato, ma‹ – eingerichtet, soll ein klassisches Meisterwerk der Theaterdiplomatik gewesen sein. Nicht aus dem Inneren des Stücks heraus hatte der Direktor die Unmöglichkeit der Bühnendarstellung demonstriert, sondern höflicherweise nur den Maschinisten angeklagt, dessen Zauberei solch enge Schranken gesetzt wären, daß er nicht einmal Christusflämmchen in der Luft aufleuchten lassen könne u.s.w. Doch kein Wort mehr! – Theodor soll nun die Irrwege seines Freundes entschuldigen, wie er mag und kann!«

»Entschuldigen?« erwiderte Theodor, »meinen Freund entschuldigen? das würde sehr ungeschickt, vielleicht gar albern und abgeschmackt herauskommen. Laßt mich statt dessen ein psychisches Problem aufstellen, das euch darauf hinbringen soll, wie besondere Umstände auf die Bildung des psychischen Organismus wirken können oder recht eigentlich, um auf Cyprians Gleichnis zurückzukommen, wie mit dem Keim der schönsten Blüte der Wurm mitgeboren werden kann, der sie zum Tode vergiftet. – Man sagt, daß der Hysterismus der Mütter sich zwar nicht auf die Söhne vererbe, in ihnen aber eine vorzüglich lebendige,[438] ja ganz exzentrische Phantasie erzeuge, und es ist einer unter uns, glaube ich, an dem sich die Richtigkeit dieses Satzes bewährt hat. Wie mag es nun mit der Wirkung des hellen Wahnsinns der Mutter auf die Söhne sein, die ihn auch, wenigstens der Regel nach, nicht erben? – Ich meine nicht jenen kindischen albernen Wahnsinn der Weiber, der bisweilen als Folge des gänzlich geschwächten Nervensystems eintritt, ich habe vielmehr jenen abnormen Seelenzustand im Sinn, in dem das psychische Prinzip, durch das Glühfeuer überreizter Phantasie zum Sublimat verflüchtigt, ein Gift worden, das die Lebensgeister angreift, so daß sie zum Tode erkranken und der Mensch in dem Delirium dieser Krankheit den Traum eines andern Seins für das wache Leben selbst nimmt. Ein Weib, sonst hochbegabt mit Geist und Phantasie, mag in diesem Zustande oft mehr eine göttliche Seherin als eine Wahnsinnige scheinen und in dem Kitzel des Krampfs psychisch geiler Verzückung Dinge aussprechen, die gar viele geneigt sein werden, für die unmittelbaren Eingebungen höherer Mächte zu halten. Denkt euch, daß der fixe Wahn einer auf diese Weise geisteskranken Mutter darin bestünde, daß sie sich für die Jungfrau Maria, den Knaben, den sie gebar, aber für Christus, den Sohn Gottes, hält. Und dies verkündet sie täglich, stündlich dem Knaben, den man nicht von ihr trennt, sowie sein Fassungsvermögen mehr und mehr erwacht. Der Knabe ist überreich ausgestattet mit Geist und Gemüt, vorzüglich aber mit einer glühenden Phantasie. Verwandte, Lehrer, für die er Achtung und Vertrauen hegt, alle sagen ihm, daß seine arme Mutter wahnsinnig sei, und er sieht selbst den Aberwitz jener Einbildung der Mutter ein, die ihm nicht einmal neu sein kann, da sie sich in den mehrsten Irrenhäusern wiederholt. Aber die Worte der Mutter dringen tief in sein Herz, er glaubt Verkündigungen aus einer andern Welt zu hören und fühlt lebhaft, wie im Inneren sich der Glaube entzündet, der den richtenden Verstand zu Boden tritt.[439] Vorzüglich erfaßt ihn das mit unwiderstehlicher Gewalt, was die mütterliche Seherin über das irdische Treiben der Welt, über die Verachtung, den Hohn, den die Gottgeweihten dulden müßten, sagt, und er findet alles bestätigt im Leben und dünkt sich im jugendlich unreifen Unmut schon ein göttlicher Dulder, wenn die Bursche ihn, den etwas seltsam und abenteuerlich gekleideten Fuchs, im Kollegio auslachen oder gar auspfeifen – Was weiter! – muß nicht in der Brust eines solchen Jünglings der Gedanke aufkeimen, daß jener sogenannte Wahnsinn der Mutter, die ihm hoch erhaben dünkt über die Erkenntnis, über das Urteil der gemeinen irdischen Welt, nichts anders sei als der in metaphorischen Worten prophetisch verkündete Aufschluß seines höhern, im Innern verschlossenen Seins und seiner Bestimmung? – Ein Auserwählter der höhern Macht – Heiliger – Prophet. – Gibt es für einen in glühender Einbildungskraft entbrannten Jüngling einen stärkeren Anlaß zu mystischer Schwärmerei? – laßt mich ferner annehmen, daß dieser Jüngling, physisch und psychisch reizbar bis zum verderblichsten Grade, hingerissen wird von dem unwiderstehlichsten, rasendsten Trieb zur Sünde, zu aller bösen Lust der Welt! – Mit abgewandtem Gesicht will ich hier vorübereilen bei dem schauerlichen Abgrunde der menschlichen Natur, aus dem der Keim jenes sündhaften Triebes emporwachsen und in die Brust des unglücklichen Jünglings hineinranken mochte, ohne daß er andere Schuld trug, als die seines zu heißen Bluts, das für das fortwuchernde Giftkraut ein nur zu üppiger Dünger war. – Ich darf nicht weiter gehen, ihr fühlt das Entsetzen des furchtbaren Widerspruchs, der das Innere des Jünglings zerspaltet. Himmel und Hölle stehen kämpfend gegeneinander auf, und dieser Todeskampf ist es, der, im Innern verschlossen, auf der Oberfläche Erscheinungen erzeugt, die im grellen Abstich gegen alles, was sonst durch die menschliche Natur bedingt, keiner Deutung fähig sind. – Wie, wenn nun des zum Manne[440] gereiften Jünglings glühende Einbildungskraft, die in früher Kindheit aus dem Wahnsinn der Mutter den Keim jenes exzentrischen Gedankens des Heiligtums einsog, wie, wenn diese, da die Zeit gekommen, in der die Sünde, all ihres Prunks beraubt, in ekelhafter Nacktheit sich selbst des Höllentrugs anklagt, von der Angst trostloser Zerknirschung getrieben, in die Mystik eines Religions-Kultus hereinflüchtete, der ihr entgegenkommt mit Siegeshymnen und duftendem Rauchopfer? Wie, wenn hier aus der verborgensten Tiefe die Stimme eines dunkeln Geistes venommen würde, die also spricht: ›Nur irdische Verblendung war es, die dich an einen Zwiespalt in deinem Innern glauben ließ. Die Schleier sind gefallen, und du erkennst, daß die Sünde das Stigma ist deiner göttlichen Natur, deines überirdischen Berufs, womit die ewige Macht den Auserwählten gezeichnet. Nur dann, wenn du dich unterfingst, Widerstand zu leisten dem sündigen Trieb, zu widerstreben der ewigen Macht, mußte sie den Entarteten, – Verblendeten verwerfen – das geläuterte Feuer der Hölle selbst strahlt in der Glorie des Heiligen!‹ – Und so gibt diese grauenvolle Hypermystik dem Verlornen den Trost, der das morsche Gebäude in furchtbarer Zerrüttung vollends zertrümmert, so wie der Wahnsinnige dann unheilbar erscheint, wenn ihm der Wahnsinn Wohlsein und Gedeihen gewährt.«

»O,« rief Sylvester, »o, ich bitte dich, Theodor! nicht weiter, nicht weiter! – Mit abgewandtem Gesicht eiltest du vorhin bei einem Abgrund vorüber, in den du nicht blicken wolltest, aber mir ist es überhaupt, als führtest du uns auf schmalem schlüpfrigem Wege, auf dessen beiden Seiten grauenvolle bedrohliche Abgründe uns entgegengähnten. Deine letzten Worte erinnerten mich an die furchtbare Mystik des Pater Molinos, an die abscheuliche Lehre vom Quietismus. Ich erbebte im Innersten, als ich den Hauptsatz dieser Lehre las: ›Il ne faut avoir nul égard aux tentations, ni leur opposer aucune résistance. Si la[441] nature se meut, il faut la laisser agir; ce n'est que la nature!‹1 Dies führt ja-«

»Uns«, fiel Lothar dem Freunde ins Wort, »viel zu weit und in die Region der bösesten Träume und überhaupt jenes überschwenglichen Wahnsinns, von dem unter uns Serapionsbrüdern gar nicht die Rede sein sollte, da wir sonst unsern leichten und leuchtenden Sinn aufs Spiel setzen und am Ende nicht vermögen, gleich blinkenden Goldfischlein im hellen Wasser lustig zu spielen und zu plätschern, sondern versinken in farblosen Morast! – Darum still, still von allem Sublimtollen, das religiöser Wahn erzeugen konnte.«

Ottmar und Vinzenz stimmten dem Freunde bei, indem sie noch hinzufügten, daß Theodor ganz gegen die serapiontische Regel gehandelt, da er so viel von einem den andern zum Teil fremden Gegenstande gesprochen, so sich augenblicklicher Anregung gänzlich hingebend und andere Mitteilungen hemmend.

Nur Cyprian nahm sich Theodors an, indem er behauptete, daß der Gegenstand, worüber Theodor, vorzüglich zuletzt, gesprochen, wohl ein solches, freilich wie er zugeben[442] müsse, unheimliches Interesse habe, daß selbst diejenigen, denen die Person, von der alles ausgegangen, unbekannt geblieben, sich doch nicht wenig angeregt fühlen dürften.

Ottmar meinte, daß ihn, dächte er sich das alles, was Theodor gesprochen, in einem Buche gedruckt, ein kleiner Schauer anwandle. Cyprian wandte aber dagegen ein, daß hier das: Sapienti sat alles gutmachen dürfte.

Theodor hatte sich unterdessen in das Nebenzimmer entfernt und kam jetzt mit einem verhüllten Bilde zurück, das er auf einen Tisch gegen die Wand lehnte und zwei Lichter seitwärts davorstellte. Aller Blicke waren dahin gerichtet, und als nun Theodor das Tuch von dem Bilde schnell hinwegzog, entfloh den Lippen aller ein lautes: »Ah!«

Es war der Dichter der »Söhne des Tales«, Brustbild in Lebensgröße, auf das sprechenste getroffen, ja, wie aus dem Spiegel gestohlen.

»Ist es möglich«, rief Ottmar ganz begeistert, »ist es möglich! – Ja, unter diesen buschichten Augenbrauen glimmt aus den dunklen Augen das unheimliche Feuer jener unseligen Mystik hervor, die den Dichter ins Verderben reißt! – Aber diese Gemütlichkeit, die aus allen übrigen Zügen spricht, ja dieses schalkische Lächeln des wahren Humors, das um die Lippen spielt und sich vergebens zu verbergen strebt im langgezogenen Kinn, das die Hand behaglich streicht? – Wahrhaftig, ich fühle mich seltsam hingezogen zu dem Mystiker, der, je mehr ich ihn anschaue, desto menschlicher wird –«

»Geht es uns denn anders – geht es uns denn anders?«, so riefen Lothar und Vinzenz. »Ja,« fuhr Vinzenz dann fort, das Bild starr anblickend, »ja, immer heller werden diese trüben Augen. – Du hast recht, Ottmar, er wird menschlich – et homo factus est – Seht, er blinkt mit den Augen, er lächelt – gleich wird er etwas sprechen, das uns erfreut – ein göttlicher Spaß – ein fulminantes Witzwort[443] schwebt auf den Lippen – nur zu – nur zu, werter Zacharias – geniere dich nicht, wir lieben dich, verschlossener Ironiker! – Ha! Freunde! – Serapionsbrüder! – Die Gläser zur Hand, wir wollen ihn aufnehmen zum Ehrenmitglied unsers Serapionsklubs, auf die Brüderschaft anstoßen, und für keinen Frevel wird es der Humorist achten, wenn ich vor seinem Bildnis eine Libation vornehme, was weniges Punsch mit zierlicher Andacht auf meinen blank gewichsten Pariser Stiefel vergießend.«

Die Freunde ergriffen die gefüllten Gläser, um zu tun, wie Vinzenz geheißen.

»Halt,« rief Theodor dazwischen, »halt! vergönnt mir zuvor noch einige Worte. Fürs erste bitte ich euch, das psychische Problem, das ich vorhin in vielleicht zu grellen Farben aufstellte, keinesweges geradehin auf meinen Dichter anzuwenden. Denkt vielmehr daran, daß es mir darum zu tun war, euch recht lebhaft, recht eindringend zu zeigen, wie gefährlich es ist, über Erscheinungen in einem Menschen abzusprechen, deren tiefe psychische Motive man nicht kennt, ja, wie herz- und gemütlos es scheint, den mit aberwitzigem Hohn, mit kindischer Verspottung zu verfolgen, der einer niederdrückenden Gewalt erlag, welcher man selbst vielleicht noch viel weniger widerstanden hätte. – Wer hebt den ersten Stein auf wider den, der wehrlos geworden, weil seine Kraft mit dem Herzblut fortströmte, das Wunden entquoll, die eigner Selbstverrat ihm geschlagen. – Nun! mein Zweck ist erreicht. Selbst euch, Lothar, Ottmar, Vinzenz, euch strengen unerbittlichen Richtern, ist es ganz anders zu Sinn geworden, als ihr meinen Dichter von Angesicht zu Angesicht erblicktet. – Sein Gesicht spricht wahr. In jener schönen Zeit, als er mir noch befreundet näher stand, mußte ich, was seinen Umgang betrifft, ihn für den gemütlichsten, liebenswürdigsten Menschen anerkennen, den es nur geben mag, und all die seltsamen phantastischen Schnörkel seiner äußern Erscheinung, seines ganzen Wesens, die er selbst mit[444] feiner Ironie mehr recht ins Licht zu stellen, als zu verbergen suchte, trugen nur dazu bei, daß er in der verschiedensten Umgebung, unter den verschiedensten Bedingnissen auf höchst anziehende Weise ergötzlich blieb. Dabei beseelte ihn ein tiefer, aus dem Innersten strömender Humor, in dem man den würdigen Landsmann Hamanns, Hippels, Scheffners wiederfand. – Nein, es ist nicht möglich, daß alle diese Blüten abgestorben sein sollten, angeweht von dem Gifthauch einer heillosen Betörung! – Nein! könnte sich jenes Bild beleben, säße der Dichter plötzlich hier unter uns, Geist und Leben ginge funkensprühend auf in seinem Gespräch wie sonst. – Mag ich die Dämmerung geschaut haben, die den aufglühenden Tag verkündigt! – Mögen die Strahlen wahrer Erkenntnis stärker und stärker hervorbrechen, mag wiedergewonnene Kraft, frischer Lebensmut ein Werk erzeugen, das uns den Dichter in der reinen Glorie des wahrhaft begeisterten Sängers erblicken läßt, und sei dies auch erst am Spätabend seiner Tage. Und darauf, ihr Serapionsbrüder, laßt uns anstoßen in fröhlicher Hoffnung.«

Die Freunde ließen die Gläser hell erklingen, indem sie einen Halbkreis um des Dichters Bild schlossen.

»Und,« sprach Vinzenz, »und dann ist es ganz gleich, ob der Dichter Geheimer Sekretär oder Abbé oder Hofrat oder Kardinal oder gar der Papst selbst ist oder auch nur Bischof in partibus infidelium, z.B. von Paphos.«

Es ging dem Vinzenz wie gewöhnlich, er hatte, ohne es zu wollen, ohne eigentlich daran zu denken, der ernsthaften Sache ein Hasenschwänzchen angehängt. Die Freunde fühlten sich aber zu seltsam angeregt, um darauf sonderlich zu achten, sondern setzten sich stillschweigend wieder an den Tisch, während Theodor das Bild des Dichters in das Nebenzimmer zurücktrug.

»Ich hatte vor,« sprach nun Sylvester, »euch heute eine Erzählung vorzulesen, deren Entstehung ich einem besondern Zufall oder vielmehr einer besondern Erinnerung[445] verdanke. Es ist indessen so spät geworden, daß, ehe ich geendet, die Serapionsstunde längst vorüber sein müßte.«

»Eben,« nahm Vinzenz das Wort, »eben so geht es mir mit dem längst versprochenen Märchen, das ich hier wie ein liebes Schoßkind an meinen Busen gedrückt trage in der Seitentasche meines Fracks, dem gewöhnlichen Schmollwinkel aller zarten Geistesprodukte. Der Bengel hat sich an der nährenden Muttermilch meiner Phantasie dick und fett gesogen und ist dabei so vorlaut geworden, daß er bis zum Anbruch des Tages fortquäken würde, ließe ich ihn einmal zu Worte kommen. Darum soll er warten bis zum nächsten Serapionsklub. – Sprechen, ich meine konversieren, scheint heute gefährlich, denn ehe wir's uns versehen, sitzt wieder ein Heldenkönig oder der Pater Molinos oder der Teufel oder sonst ein mauvais sujet unter uns und schwatzt allerlei verwirrtes und verwirrendes Zeug, und wer weiß, ob es dann Hamanns Landsmann wieder gelingen würde, den Filou wegzulächeln. Ist daher jemand von uns etwa eines Manuskripts mächtig, das Ergötzliches enthält, und vor allen Dingen von der Art, daß es mit einer Achtelselle guten Buchbinderzwirns zusammengeheftet werden könnte, so rücke er getrost damit hervor und lese.«

»Erscheint«, sprach Cyprian, »das, was einer von uns jetzt noch vortragen wollte, eigentlich nur als Lückenbüßer oder als andere Melodien einleitendes Zwischenspiel, so darf ich Mut fassen, euch eine Kleinigkeit mitzuteilen, die ich vor mehreren Jahren, als ich verhängnisvolle, bedrohliche Tage überstanden, niederschrieb. Das Blatt, das ich rein vergessen, fiel mir erst vor wenigen Tagen wieder in die Hände, und jene Zeit ging mir wieder auf in der hellsten Erinnerung. Ich glaube, daß der nächste Anlaß der chimärischen Dichtung bei weitem anziehender ist, als die Dichtung selbst, und ich werde euch, wenn ich geendet, mehr darüber sagen.«

Cyprian las:[446]

1

Toute opération active est absolument interdite par Molinos. C'est même offenser Dieu, que de ne pas tellement s'abandonner à lui, que l'on soit comme un corps inanimé. De-là vient, suivant cet hérésiarque, que le vœu de faire quelque bonne œuvre, est un obstacle à la perfection, parceque l'activité naturelle est ennemie de la grâce; c'est un obstacle aux opérations de Dieu et à la vraie perfection, parceque Dieu veut agir en nous sans nous. Il ne faut connoître, ni lumière, ni amour, ni résignation. Pour être parfait, il ne faut pas même connoître Dieu: il ne faut penser, ni au paradis, ni à l'enfer, ni à la mort, ni à l'éternité. On ne doit point désirer de sçavoir si on marche dans la volonté de Dieu, si on est assez résigné ou non. En un mot, il ne faut point que l'âme connoisse, ni son état, ni son néant; il faut qu'elle soit comme un corps inanimé. Toute réflexion est nuisible, même celle qu'on fait sur ses propres actions et sur ses défauts. Ainsi on ne doit point s'embarrasser du scandale que l'on peut causer, pourvu que l'on n'ait pas intention de scandaliser. Quand une fois on a donné son libre arbitre à Dieu, on ne doit plus avoir aucun désir de sa propre perfection, ni des vertus, ni de sa sanctification, ni de son salut; il faut même se défaire de l'espérance, par cequ'il faut abandonner à Dieu tout le soin de ce qui nous regarde, même celui de faire en nous et sans nous sa divine volonté. Ainsi c'est une imperfection que de demander; c'est avoir une volonté et vouloir que celle de Dieu s'y conforme. Par la même raison, il ne faut lui rendre grâce d'aucune chose; c'est le remercier d'avoir fait notre volonté; et nous n'en devons point avoir.

Histoire du procès de la Cadière.

(Causes célèbres, par Richer, Tom. II.)

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 4, Berlin 1963, S. 429-447.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Serapionsbrüder
Hoffmann, E. T. A.: Poetische Werke / Die Serapionsbrüder, Band 1
Hoffmann, E. T. A.: Poetische Werke / Die Serapionsbrüder, Band 3
Die Serapions-Brüder
Die Serapions-Brüder
Sämtliche Werke in sechs Bänden: Band 4: Die Serapionsbrüder

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon