Großmutter und Enkel

[30] »Ferne ist dein Sinn, dein Fuß

Nur in meiner Tür!«

Woher weißt dus gleich beim Gruß?

»Kind, weil ich es spür.«


Was? »Wie Sie aus süßer Ruh

Süß durch dich erschrickt.« –

Sonderbar, wie Sie hast du

Vor dich hingenickt.


»Einst ...« Nein: jetzt im Augenblick!

Mich beglückt der Schein –

»Kind, was haucht dein Wort und Blick

Jetzt in mich hinein?


Meine Mädchenzeit voll Glanz

Mit verstohlnem Hauch

Öffnet mir die Seele ganz!«

Ja, ich spür es auch:


Und ich bin bei dir und bin

Wie auf fremdem Stern:[30]

Ihr und dir mit wachem Sinn

Schwankend nah und fern!


»Als ich dem Großvater dein

Mich fürs Leben gab,

Trat ich so verwirrt nicht ein

Wie nun in mein Grab.«


Grab? Was redest du von dem?

Das ist weit von dir!

Sitzest plaudernd und bequem

Mit dem Enkel hier.


Deine Augen frisch und reg,

Deine Wangen hell –

»Flog nicht übern kleinen Weg

Etwas schwarz und schnell?«


Etwas ist, das wie im Traum

Mich Verliebten hält.

Wie der enge, schwüle Raum

Seltsam mich umstellt!


»Fühlst du, was jetzt mich umblitzt

Und mein stockend Herz?

Wenn du bei dem Mädchen sitzt,

Unter Kuß und Scherz,


Fühl es fort und denk an mich,

Aber ohne Graun:

Denk, wie ich im Sterben glich

Jungen, jungen Fraun.«
[31]

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Erste Reihe in drei Bänden, Band 1, Berlin 1924, S. 30-32.
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