Lebenslied

[7] Den Erben laß verschwenden

An Adler, Lamm und Pfau

Das Salböl aus den Händen

Der toten alten Frau!

Die Toten, die entgleiten,

Die Wipfel in dem Weiten –

Ihm sind sie wie das Schreiten

Der Tänzerinnen wert!


Er geht wie den kein Walten

Vom Rücken her bedroht.

Er lächelt, wenn die Falten

Des Lebens flüstern: Tod![7]

Ihm bietet jede Stelle

Geheimnisvoll die Schwelle;

Es gibt sich jeder Welle

Der Heimatlose hin.


Der Schwarm von wilden Bienen

Nimmt seine Seele mit;

Das Singen von Delphinen

Beflügelt seinen Schritt:

Ihn tragen alle Erden

Mit mächtigen Gebärden.

Der Flüsse Dunkelwerden

Begrenzt den Hirtentag!


Das Salböl aus den Händen

Der toten alten Frau

Laß lächelnd ihn verschwenden

An Adler, Lamm und Pfau:

Er lächelt der Gefährten. –

Die schwebend unbeschwerten

Abgründe und die Gärten

Des Lebens tragen ihn.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Erste Reihe in drei Bänden, Band 1, Berlin 1924, S. 7-8.
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