Gute Stunde

[163] Leise tratest an mein Bette,

Lieblich rätselhafte Stunde,

Mit so fremd vertrauten Augen,

Mit so süßem herbem Munde.


Unter deinem Blick erwacht ich

Und war erst als wie im Traum,

So verwandelt stand mein Zimmer,

Der vertraute kleine Raum:


Zwar von außen ganz wie immer,

Doch ein wundervolles Leben

Spürt ich mit erregten Sinnen

Unter jeder Hülle beben:


Als du Wasser mir ins Becken

Gossest, meint ich, in der Welle

Aus dem Krug in deinen Händen

Spräng lebendig eine Quelle.


Meines Bettes Füße sagten:

»Wir sind aus dem Leib geschnitten

Einer Esche, aus des schlanken

Rauschend jungen Leibes Mitten,


Aus dem Stamm, daraus der Flöten

Selig singend Holz sie schneiden,

Diesen kleinen Leib, durchbebt von

Namenlosen süßen Leiden ...«


Meine Feder sagte: »Schreibe!

Aus dem zauberhaften Grund

Glühts und zuckts, und reden will ich

Große Dinge mit kindischem Mund!«
[164]

Vor den Fenstern übern Himmel

Flogen Morgenwolken hin

Und verwirrten erst unsäglich

Meinen still berauschten Sinn.

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 1: Gedichte, Dramen, Frankfurt a.M. 1979, S. 163-165.
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